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SCHULDEN/047: Was die Eurokrise für die südeuropäischen Demokratien bedeutet (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 139/März 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Wenn es keine Wahl gibt
Was die Eurokrise für die südeuropäischen Demokratien bedeutet

von Sonia Alonso



Kurz gefasst: Die Wahl zu haben, gehört zu den wichtigsten Kennzeichen der Demokratie. In der Krise beschwören Regierungen nun immer wieder, es gebe zu den von nicht-gewählten supranationalen Gremien getroffenen Entscheidungen "keine Alternative". Besonders in Südeuropa gibt es in den letzten Jahren praktisch keine Wahl mehr. Demokratische Prinzipien werden ernsthaft ausgehöhlt, und der Protest gegen die Politik der Regierungen - egal welcher Couleur - und gegen das Projekt Europa nimmt inzwischen schon drastische Formen an.


Demokratie heißt, die Wahl zu haben. Deshalb ist eine unpopuläre Politik mittel- und langfristig nicht haltbar. Versucht eine Regierung trotzdem immer wieder, unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder die Regierung stürzt (die demokratische Lösung), oder das Regime stürzt (das Scheitern der Demokratie). Deshalb wird der demokratische Prozess zur Farce, wenn die Opposition nach der Regierungsübernahme dieselben unpopulären Maßnahmen verteidigt, die zur Abwahl der vorherigen Regierung geführt haben. Manche Politiker rechtfertigen dieses Verhalten mit dem Argument, es gebe zu dieser Politik keine Alternative. Und an dieser Aussage ist durchaus etwas Wahres dran. Die politische Klasse hat um der Effizienzsteigerung willen freiwillig auf weite Teile des Handlungsspielraums verzichtet, den sie einmal besaß. Nicht nur Arbeitsplätze, auch die Politik ist ins Ausland verlagert worden, um es mit Joseph Stiglitz zu sagen. Die Wirtschaftspolitik hat sich zunehmend vom demokratischen Prozess im eigenen Land abgekoppelt und/oder wurde an nicht gewählte supranationale Institutionen übertragen. In den Worten Wolfgang Merkels: Der "Trade-off zwischen Demokratie und Technokratie" ist zugunsten der Technokratie ausgegangen.

Demokratisch gewählte nationale Regierungen werden für etwas verantwortlich gemacht, für das ihnen ein Hauptkontrollinstrument, nämlich die Geldpolitik, fehlt. Diese befindet sich nämlich in den Händen unabhängiger Zentralbanken und internationaler Behörden. Auch das andere Hauptkontrollinstrument, die Fiskalpolitik, kontrollieren die Regierungen der Eurozone nur teilweise, da diese durch europäische Verträge reglementiert ist. Infolgedessen hat demokratische Politik heute offenbar nichts mehr mit echten Wahlmöglichkeiten zu tun. Die politische Ohnmacht der Regierungen ist daher mehr als nur eine Entschuldigung, mit der am Wahltag um Verständnis für unpopuläre Maßnahmen gebeten wird. Solange nationale Regierungen es vorziehen, ihre supranationalen und internationalen Verpflichtungen einzuhalten statt den Willen der Wähler im eigenen Land ernst zu nehmen, ist Alternativlosigkeit nicht nur Rhetorik, sondern Realität.

Seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise im Jahr 2008 hat sich dieses Szenario mit besonderer Härte in den Ländern Südeuropas entfaltet. Die nationale Demokratie wurde vorübergehend außer Kraft gesetzt. Joseph Stiglitz hat es so formuliert: "Es gibt vielleicht freie Wahlen, aber für die Wähler stellt es sich so dar, dass sie bezüglich der Fragen, die ihnen am wichtigsten sind - nämlich Wirtschaftsfragen - keine echten Wahlmöglichkeiten haben."

Trotz zahlreicher Regierungswechsel hat sich an der Sparpolitik nichts geändert. Ob nun rechts- oder linksorientierte Regierungen an der Macht sind, spielt so gut wie keine Rolle. Kürzungen im öffentlichen Dienst, bei den Löhnen und Gehältern, den Renten und den Rechten der Gewerkschaften sind von sozialdemokratischen Regierungen genauso durchgesetzt worden wie von konservativen. Die Öffentlichkeit kann vielerorts beobachten, dass ein Regierungswechsel nicht zu einem Politikwechsel führt. Jetzt wissen die Menschen Bescheid. Was wird also bei den nächsten Wahlen geschehen? Werden diejenigen, die sich getäuscht fühlen, überhaupt noch ihre Stimme abgeben? Dies scheint wenig wahrscheinlich, besonders wenn man an das ohnehin schon geringe Vertrauen in die politischen Parteien in den betreffenden Ländern denkt. Wahrscheinlicher ist, dass die Bürger Südeuropas den Wahlen fernbleiben oder bei neuen, systemfeindlichen oder extremistischen Parteien Zuflucht suchen werden.

Die südeuropäischen Schuldenstaaten haben die Freiheit, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen, verloren und mussten die Macht an ihre Gläubiger abtreten. Dieser Kontrollverlust entfaltet sich offen vor aller Augen und vor dem Hintergrund einer dramatischen Desillusionierung bezüglich des eigenen politischen Systems (siehe Tabelle) sowie zunehmender politischer und sozialer Unruhe außerhalb der repräsentativen Institutionen. Weil sie viele Menschen zu Verlierern macht, vereint die Eurokrise den demos vorübergehend in nahezu einhelliger Ablehnung der Sparpolitik. Fairness statt wirtschaftlicher Effizienz wird immer mehr zum Hauptkriterium bei der Wahl zwischen politischen Alternativen. Eine aktuelle Umfrage in Spanien ergab, dass diejenigen, die die Kosten der Krise lieber gerecht verteilt sehen möchten - selbst wenn dies zulasten des Wirtschaftswachstums geht - inzwischen in der Mehrheit sind, und zwar ungeachtet ihrer parteipolitischen Präferenzen. Dies bestätigt experimentelle Studien aus der politischen Psychologie, die gezeigt haben, dass die meisten Menschen eher ein ineffizientes Ergebnis akzeptieren würden als ein ungerechtes.


Anteil der Befragten, die den genannten Institutionen "eher nicht vertrauen" 
 (in Prozent)


Politische
Parteien
Nationale Nationales
Regierung Parlament
Europäi-
sche Union
Europäische
Kommission
Europäische
Zentralbank
Griechen-
land
Italien
Portugal
Spanien
94    
88    
79    
91    
91      89    
77      82    
74      73    
86      85    
81    
53    
58    
72    
77    
42    
45    
64    
81    
46    
50    
75    
EU 27
80    
68      66    
57    
44    
49    

Tabelle: Anteil der Befragten, die den genannten Institutionen "eher nicht vertrauen" (in Prozent)
Quelle: Standard Eurobarometer 78 (Herbst 2012).


Was geschieht, wenn Wahlen anstehen und es keine echten politischen Alternativen gibt? Bislang sind in Südeuropa Regierungen, die an der Verabschiedung von Sparpaketen festhalten, allesamt gescheitert. Das Regime blieb aber trotz der großen Rezession stabil. Zum Glück für die Zukunft der Demokratie in Südeuropa wehren sich interne politische Kräfte immer stärker gegen das, was Thomas Friedman die "goldene Zwangsjacke" der Eurozone genannt hat. Unglücklicherweise - mit Blick auf das Projekt Europa - kommt der Druck auf die halbsouveränen Regierungen Südeuropas von sozialen Bewegungen und radikalen Parteien rechter und linker Prägung, die zunehmend - wenn nicht von vornherein - euroskeptische Positionen vertreten. Populismus hält immer stärker Einzug in die Politik.

Neue Parteien, die für sich in Anspruch nehmen, die Interessen des Volkes gegen eine korrupte und elitäre Allianz aus Politikern und Bankern zu verteidigen, erhalten immer mehr Zulauf.

Zu den Lieblingszielen dieses Anti-Elitismus zählt die Brüsseler Bürokratie. Die populistischen Bewegungen und Parteien, zu denen so unterschiedliche Gruppierungen gehören wie Movimento 5 Stelle in Italien, Syriza in Griechenland oder die Indignados-Bewegung in Spanien, fordern mehr und bessere Demokratie sowie eine grundlegende politische Erneuerung. Ihr Auftreten als Verteidiger der Demokratie erscheint immer mehr Wählern in Südosteuropa glaubhaft - sind sie doch die einzigen, die offen die Herrschaft von Wirtschaftsbürokraten und Geldgebern über die demokratische Politik kritisieren. So heterogen die oben genannten Bewegungen und Parteien auch sein mögen, sie alle würden der Aussage von Nigel Farage, Mitglied des Europäischen Parlaments und Anführer der rechtspopulistischen United Kingdom Independence Party (UKIP), während einer Debatte im Europäischen Parlament im September 2012 zustimmen: "Wenn man den Menschen das mächtigste Instrument nimmt, über das sie in einer freien Gesellschaft verfügen, nämlich ihre Fähigkeit, Regierungen ins Amt zu wählen und wieder zu entlassen, ihre Fähigkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn man ihnen das nimmt, dann bleibt ihnen nur noch ziviler Ungehorsam und Gewalt. Was zurzeit in Namen der Wirtschaftspolitik geschieht, ist also etwas unglaublich Gefährliches, etwas, das im Gegensatz zur Idee des europäischen Projekts als Friedensbringer steht und dessen Gegenteil bewirkt." Es fällt schwer, diesen Worten etwas entgegenzuhalten, wenn man sie unabhängig vom vollständigen Wahlprogramm der UKIP betrachtet. Ziviler Ungehorsam ist in Spanien längst auf dem Vormarsch; die Gewalt in Griechenland weitet sich aus. Die nationalen Regierungen in Südeuropa - und die Parteien dahinter - werden bald der Tatsache ins Auge blicken müssen, dass eine "Demokratie ohne Wahlmöglichkeiten", um es mit dem bulgarischen Intellektuellen Ivan Krastev zu sagen, zum Scheitern verurteilt ist.

Den Entscheidungsträgern der Europäischen Union ist dieses Risiko durchaus bewusst. Die Apologeten der Alternativlosigkeit in Brüssel und in den Gläubigerstaaten betrachten die nationalen Demokratien der Schuldenstaaten als Teil des Problems bei der Lösung der Wirtschaftskrise. Und sie tun dies in einer Weise, die an das neoliberale Argument erinnert, demzufolge Marktversagen die Folge staatlicher Interventionen sind. Dafür gibt es viele Beispiele. Den Vorschlag des griechischen Premierministers Papandreou vom Oktober 2011, über das zweite von der Troika geschnürte Sparpaket ein Referendum abzuhalten, wurde von EU-Kommissar Olli Rehn mit folgenden Worten kommentiert: "Wir betrachteten die einseitige Ankündigung des Referendums als einen Vertrauensbruch zwischen Griechenland und seinen europäischen Partnern." Ob das Sparpaket möglicherweise einen Vertrauensbruch mit den griechischen Wählern darstellte, schien nichts zur Sache zu tun. Nachdem ein Abgeordneter der italienischen Lega Nord angekündigt hatte, seine Partei werde die designierte neue technokratische Regierung des Landes nicht unterstützen, und Neuwahlen forderte, antwortete der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy: "Das Land braucht Reformen, keine Wahlen." Diese beiden EU-Bürokraten scheinen die Ansicht der Rating-Agentur Goldman Sachs zu teilen, wie sie in einem Bericht des Guardian über Spanien zum Ausdruck kam: Regierungen, die sich die Zeit nehmen, die Wünsche der eigenen Wählerschaft ernst zu nehmen, "geben sich innenpolitischen Interessen hin".

Der Skeptizismus beschränkt sich nicht auf die nationale Ebene. Auch für die supranationale - sprich: europäische - Demokratie gibt es kaum Wertschätzung. Dem Europäischen Parlament, der einzigen direkt gewählten EU-Institution, wird keinerlei Einfluss auf die Entscheidungen im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise zugestanden. Einer Meldung der Nachrichtenplattform European Voice vom 10. November 2011 zufolge verwarf ein Vertreter der Europäischen Zentralbank die Idee, die Mitglieder des Europäischen Parlaments stärker an der Lösung der Krise zu beteiligen, mit den Worten: "Ich weiß nicht, ob die Mitglieder des Europäischen Parlaments über das nötige Fachwissen und das nötige Interesse an der Krise verfügen, um hier einen relevanten Beitrag leisten zu können." Die Regierung des größten EU-Gläubigerstaats, Deutschland, verfolgt mit großem Nachdruck den Plan, der Europäischen Kommission echte haushaltspolitische Interventionsrechte gegenüber allen Eurostaaten zu gewähren. Im Oktober 2012 sprach Kanzlerin Angela Merkel im Bundestag von der Notwendigkeit, den Europäischen Fiskalpakt mit einer Stärkung des EU-Währungskommissars zu verbinden. Dieser Vorschlag scheint sich nicht gerade in Richtung einer Stärkung direktdemokratischer Kontrolle auf europäischer Ebene zu bewegen.

Timing ist alles. Je länger die Krise andauert und ihre gesellschaftlichen Kosten steigen, desto schwieriger wird es für die Regierungen Südeuropas, den Druck von unten zu ignorieren. Bislang scheint die Vorstellung, dass ein EU-Austritt alles nur noch schlimmer machen würde, die Oberhand zu behalten - allerdings nur knapp. Die Menschen in den südeuropäischen Ländern glauben noch immer mehrheitlich, dass ihnen innerhalb der Europäischen Union eine bessere Zukunft bevorsteht: Eine Eurobarometer-Umfrage im Jahr 2012 ergab 59 Prozent Zustimmung in Griechenland, 56 Prozent in Italien, 52 Prozent in Portugal und 60 Prozent in Spanien. In den Ländern, in denen interveniert wurde - Griechenland und Portugal - glauben 35 bzw. 36 Prozent, dass es ihnen außerhalb der EU besser gehen würde. Nach einer Umfrage des Pew Research Center vom Mai 2012 wünschen sich 40 Prozent der Italiener und 35 Prozent der Spanier ihre eigenen Währungen zurück. Werden die Regierungsparteien diese Zahlen weiterhin ignorieren?

Wie lange kann eine Demokratie aufgrund eines wirtschaftlichen Ausnahmezustands vorübergehend außer Kraft gesetzt werden und immer noch als Demokratie gelten? Demokratie ist mit der "goldenen Zwangsjacke", die den Schuldenstaaten von drei nicht gewählten, stark von den Gläubigerstaaten beeinflussten Institutionen (Europäische Kommission, Europäische Zentralbank, Internationaler Währungsfonds) aufgezwungen wird, nicht vereinbar. Die innenpolitischen Gegenkräfte werden irgendwann die Oberhand gewinnen, wie sich am Beispiel vieler Demokratien, die in der Vergangenheit vor ähnlichen Herausforderungen standen, gezeigt hat. Andernfalls wird es keine Demokratie mehr geben, die diesen Namen verdient. Die kommenden zwei Jahre werden entscheidend sein. Angesichts des Fehlens eines demokratisch legitimierten Prozesses auf europäischer Ebene könnte es sein, dass sich die Länder Südeuropas entscheiden müssen: zwischen dem Verbleib in der Eurozone und der Rettung der Demokratie im eigenen Land.


Sonia Alonso ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung. Sie befasst sich vor allem mit neuen und etablierten Demokratien und Fragen ethnischer Minderheiten in der Politik.
sonia.alonso@wzb.eu


Literatur:

Fernández-Albertos, José / Kuo, Alexander / Balcells, Laia:. Economic Crisis, Globalization, and Partisan Bias: Evidence from Spain. Juan March Institute Working Paper. Madrid: Centro de Estudios Avanzados en Ciencias Sociales 2012.

Friedman, Thomas: The Lexus and the Olive Tree. New York: Anchor Books 2000.

Krastev, Ivan: "The Balkans: Democracy without Choices", In: Journal of Democracy, Vol. 13, No. 3, 2002, pp. 39-53.

Merkel, Wolfgang: "Demokratie und europäische Integration: ein Trade-off?". In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, No. 1-2, 2013, pp. 4-9.

Stiglitz, Joseph: The Price of Inequality. New York: W.W. Norton & Company 2012.

Rodrik, Dani: The Globalization Paradox. New York: W.W. Norton & Company 2011.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 139, März 2013, Seite 32-33
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph. D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2013