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FRAGEN/019: "Uns fehlt das, was wir am dringendsten brauchen, nämlich das Vertrauen" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2015

»Uns fehlt das, was wir am dringendsten brauchen, nämlich das Vertrauen«

Gespräch von Thomas Meyer mit Jo Leinen und Almut Möller


Im Gespräch mit Thomas Meyer gehen der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen und Almut Möller, Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR), der Frage nach, wie man dem Auseinanderdriften der Europäischen Union entgegenwirken könnte und ob ein Konvent ein probates Mittel dazu wäre.


NG/FH: Momentan könnte man den Eindruck haben, dass in Europa die Zentrifugalkräfte, also die Kräfte, die von dem Einigungswerk wegstreben, gegenüber den zentripetalen Kräften, die das Einigungswerk zusammenhalten und weiterführen, überwiegen. Täuscht dieser Eindruck? Ist er womöglich sogar nur medial vermittelt?

Jo Leinen: Das nationale Denken und der Egoismus sind auf dem Vormarsch in Europa. Das spürt man in vielen Debatten. Diejenigen, die das europäische Projekt verteidigen, sind in der Defensive. Die Europaskeptiker sind vor allem in den letzten sechs Jahren als Folge der Finanzkrise und der nicht funktionierenden Europapolitik erheblich in die Offensive gegangen. In der Tat, Europa steht unter Hochspannung und die große Frage lautet: Gibt es einen Sprung nach vorne, hin zu mehr Europa oder einen großen Rückschritt bis zu einem Punkt, an dem das Projekt zerbröselt, vielleicht sogar zerreißt?

Almut Möller: Man hatte gedacht, es könne nicht noch schlimmer kommen; aber durch die Flüchtlingsthematik hat der Druck auf den Kessel noch einmal zugenommen.

Die Banken-, Wirtschafts- und Finanzkrise und jetzt die Flüchtlingsthematik - das sind zwei Themenfelder, die das Auseinanderbrechen der Europäischen Union zumindest möglich erscheinen lassen. Und ich habe das Gefühl, dass das auch von den politischen Entscheidungsträgern durchaus als eine sehr ernste, nie zuvor gekannte Situation wahrgenommen wird.

NG/FH: Herr Leinen, würden Sie das als Mitglied im Europäischen Verfassungsausschuss auch so sehen? Und welches sind die wichtigsten zentrifugalen bzw. zentripetalen Kräfte, die da im Moment miteinander ringen?

Leinen: Es stellt sich die Frage, ob wir in der Europäischen Union noch dieselben Ziele und dieselben Werte vertreten? Das ist existenziell für eine gemeinsame Politik. Teilen wir dieselben Vorstellungen für die europäische Integration? Und haben wir dieselben Interessen? Ich sehe, dass es etwa in Großbritannien eine völlig andere Vorstellung von Europa gibt als in Deutschland, in Nordeuropa eine andere Vorstellung als in Südeuropa. Und durch die Flüchtlingskrise wird deutlich, dass es in Westeuropa noch mal ein anderes Europagefühl gibt als in Zentraleuropa.

Möller: Das ist ein wichtiger Punkt. Die zentrale Frage lautet, warum diese unterschiedlichen Ideen von Europa, die es ja immer gab, früher nie dazu geführt haben, dass das Ganze so unter Druck gerät wie heute. Mir scheint, dass wir jetzt in einer Situation stecken, in der alle Beteiligten merken - vor allem die Mitglieder in der Eurozone - dass es hier nicht mehr nur um ein Ornament oder eine hübsch anzuschauende Ergänzung unserer nationalen Debatten geht, sondern im Kern um das, was alle Menschen in unseren Ländern bewegt. Was habe ich am Ende des Tages in der Lohntüte? Welche Möglichkeiten habe ich, darüber mitzuentscheiden, wohin die Politik eigentlich gehen soll usw.? Die Menschen spüren also inzwischen, dass die Europäische Union tatsächlich als politisches Projekt gesehen wird. Und nun stellt man fest, dass die unterschiedlichen Entwürfe eher als Spaltpilz wirken.

Die Briten sind da ein Extremfall. Aber selbst unter Mitgliedsstaaten, die wie Deutschland, Frankreich u.a. ähnlich gestrickt sind, führt das zu extremen Verwerfungen.

NG/FH: Stecken wir also im Moment in einem schweren Dilemma? Auf der einen Seite brauchen wir jetzt zusätzliche Integrationsschritte wie eine Wirtschaftsregierung und eine Sozialunion, um die Krise zu überwinden. Doch auf der anderen Seite ist gerade jetzt die Bereitschaft, eine solche zu etablieren weiter geschwächt. Die Union beraubt sich also selbst der Mittel, die sie unbedingt bräuchte, um die Krise zu überwinden.

Leinen: Es gibt zwischen den 28 Mitgliedsländern unterschiedliche Geschwindigkeiten der Integration. Der Kern ist ohne Zweifel die Eurozone, die EU der 19. Dann haben wir die EU der 27 mit den Ländern, die auch in die Eurowährung hineinwollen. Und dann gibt es den Sonderfall Großbritannien. Diese komplizierte Architektur macht das Regieren in der EU schwierig.

Möller: Dieses Prinzip der unterschiedlichen Arrangements, die es ermöglichen sollten, dass letztlich alle wieder an einem Strang ziehen können, ist nicht unbegrenzt umsetzbar.

Die zentrale Frage aber ist: Was hält die EU eigentlich zusammen? Die Werte sind natürlich das ganz Entscheidende. Teilen wir wirklich uneingeschränkt dieselben Werte? Wir postulieren zwar, Demokratien zu sein mit all dem, was damit verbunden ist.

Aber sind wir in diesem Punkt inzwischen nicht anfällig geworden? Was die EU-Staaten zusammenhält, ist das Recht, sind die Verträge, die man schließt, sind Verfahren, die Möglichkeiten des Zusammenhalts organisieren und dann auch Akzeptanz erzeugen können. Ich glaube, dass wir momentan in entscheidenden Bereichen der europäischen Politik, insbesondere in Bezug auf die Eurozone, die reformiert werden muss, eben diese Gesetze und Regelungen nicht haben. Und damit meine ich nicht die typische Debatte um die deutsche Regelwut sondern die prinzipiell ordnende Funktion des Rechts. Wir fliegen eher »auf Sicht«, wenn uns aber die Regeln fehlen, fehlt uns genau das, was wir am dringendsten brauchen, nämlich das Vertrauen, dass wir miteinander zu Lösungen kommen können, die für alle akzeptabel und auch sinnvoll sind. Auf einmal ist dieser Kitt nicht mehr vorhanden.

Leinen: Die EU ist eine Baustelle, sogar eine Großbaustelle, ein Haus, bei dem ganze Gebäudeteile fehlen. Lange Zeit ging es um Frieden und Freiheit. Heute geht es eher um Wohlstand und Sicherheit. Und für eine europäische Wohlstands- und Sicherheitspolitik fehlen die Kompetenzen, die Instrumente und vielleicht auch das gemeinsame Verständnis.

Möller: Haben wir die Instrumente? Es war ja immer auch Teil der Europadebatte zu sagen: Wir brauchen »mehr Europa« in bestimmten Bereichen. Ich glaube aber, dass wir uns hier an eine Veränderung gewöhnen und wir akzeptieren müssen, dass Europäisierung als Integration in manchen Bereichen an ihre Grenzen gestoßen ist. Etwa im Bereich der Sicherheit, in dem weitere Integrationsschritte sinnvoll wären, können wir sie nicht organisieren, weil entscheidende Länder, auch hier etwa Großbritannien, überhaupt nicht bereit sind, über eine erweiterte Rolle für die Europäische Union zu reden.

Leinen: Das Herzstück der Europäisierung ist nach wie vor der Binnenmarkt. Binnenmarkt bedeutet Wettbewerb, nicht nur zwischen Firmen, sondern auch zwischen Staaten. Bei dem großen Schock der Finanzkrise vor sechs Jahren wurden die Defizite des Binnenmarkts und der Währungsunion deutlich. Das Band zwischen denen, die durch den Euro stärker werden und den anderen, die schwächer geworden sind, stand vor einer Zerreißprobe. Hinzu kommen unterschiedliche Vorstellungen darüber, was Europa tun soll. Deutschland will das Wettbewerbseuropa, weil wir stark sind. Andere wollen eher ein solidarisches Europa, welches die Unterschiede ausbalancieren kann und den wirtschaftlichen wie auch sozialen Zusammenhalt organisiert.

NG/FH: Herr Leinen, welche Instrumente bräuchte man in der jetzigen Situation, um bei den von Ihnen genannten Legitimationszielen Wohlstand und Sicherheit, eine anständige Leistungsfähigkeit der Europäischen Union zu erreichen?

Leinen: Die Menschen wollen Sicherheit für ihr Leben. Für viele EU-Bürger/innen geht es um soziale Sicherheit und eine wirtschaftliche Perspektive. Die EU ist weitestgehend ein Binnenmarktprojekt mit angeschlossenen Politiken geblieben. Den Mitgliedsstaaten der Eurozone wurde aber ein wichtiges Instrument weggenommen, nämlich das der äußeren Auf- und Abwertung der Währung. Das führt zu einem erhöhten Druck für eine innere Abwertung im eigenen Land. Und das geht leider sehr oft einseitig zu Lasten der Löhne und Sozialleistungen. Hier fehlt eine europäische Wirtschaftspolitik und Instrumente für eine europäische Solidarunion. Das Dilemma besteht darin, dass im Maastricht-Vertrag ausgeschlossen wurde, dass ein Land dem anderen über die Struktur- und Regionalfonds hinaus helfen kann.

NG/FH: Also brauchen wir im Grunde eine Revision des Maastricht-Vertrages?

Leinen: Ja, wir brauchen das Fortschreiben der Währungsunion hin zu einer Wirtschafts- und Sozialunion, sonst ist das Überleben des Euros gefährdet und die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zur Europapolitik wird weiterhin abnehmen.

NG/FH: In den 80er, 90er Jahren gab es in vielen Ländern große Europäer, die auch gegen die eigenen Nationalinteressen in Europa investiert und die europäische Integration vorangetrieben haben, die für Europa auch in ihren eigenen Ländern große Diskurse geführt, und die Menschen gegen anfängliche Widerstände überzeugt haben. Diese fehlen heute. Wie kann man sich in so einer Situation am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen? Wo soll die Unterstützung herkommen?

Möller: Ein grundlegendes Problem ist, dass die alten Bilder, die sehr kraftvoll und überzeugend waren, es heute nicht mehr sind. Der Begriff Solidarität ist für ganz viele Menschen ein positiv besetzter Begriff. Wenn man allerdings heute eine Umfrage zu Solidarität im europäischen Kontext machen würde, kämen Antworten wie: »Ach so, unser Geld für Pleitepolitik«. Da ist argumentativ in den letzten Jahren einiges weggebrochen, weil man sich in der Defensive befindet. Positiv konnotierte Begriffe haben eine negative Wendung bekommen.

Ein anderes Beispiel ist die Formel »Einheit in Vielfalt«, was eigentlich etwas Positives ist. Momentan erleben wir aber, dass die Vielfalt, vor allem der Wirtschaftssysteme und -entwürfe, auch der Sozialsysteme in Europa, zum Problem wird.

Allerdings stimmt mich das nicht nur pessimistisch. Ich glaube nämlich, dass diejenigen, die für Europa mit großer Überzeugung gestritten haben, und dies auch weiter tun, diese Situation inzwischen zur Kenntnis genommen und verstanden haben, dass sie in ihren Erklärungen besser werden müssen und der Faulheit, die sich in der Beziehung eingeschlichen hat, etwas entgegensetzen müssen. Während also der Ton schärfer und polarisierender wird, entwickeln sich gleichzeitig auch neue europäische Ideen, mit denen der Kontinent vorangebracht werden kann.

NG/FH: Wäre es hilfreich, eine neue große Debatte darüber zu führen, wo Europa eigentlich hin will? Brauchen wir ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, damit diejenigen, die das wollen, überhaupt neue Integrationsschritte machen können?

Leinen: Europa ist kein Treiber, sondern ein Getriebener. Die Hektik des Krisenmanagements, etwa durch Gipfel der Staats- und Regierungschefs, beschleunigt sich in einer beängstigenden Weise. Die Zeit ist also reif für einen großen Diskurs darüber, wohin die EU eigentlich will. Ich würde die Einberufung eines Konvents über die Zukunft Europas begrüßen, mit allen Parlamenten, mit allen Exekutiven und in Verbindung mit der Zivilgesellschaft. Bereits im Vorlauf zum eigentlichen Konvent müsste ein europaweiter Diskurs über die Architektur Europas und die dazu notwendigen Politiken sowie Instrumente zur Durchsetzung der gemeinsamen Ziele stattfinden.

NG/FH: Könnte es nicht sein, dass sich dann zeigt, dass es diese großen Gemeinsamkeiten im Grunde gar nicht mehr gibt?

Leinen: Viele sind mutlos und verzagt geworden. Deshalb ist auch die ganze Europa-Debatte lahm und defensiv. Eine strukturierte Debatte über die Herausforderungen für Europa würde eine neue Dynamik und die notwendige Klarheit bringen.

NG/FH: Wenn das Notwendige doch nicht geschieht, also die Wirtschafts- und Sozialunion nicht installiert wird und sich die Krise weiter hinschleppt, was passiert dann?

Die zweite Frage betrifft die Rolle Deutschlands.Viele sagen ja, eine Führungsrolle in Europa könne man nur rechtfertigen, indem man bestimmte Vorleistungen erbringt und relativ uneigennützig bestimmte öffentliche Güter zur Verfügung stellt. Welche Vorleistungen an europaweiten öffentlichen Gütern oder Konzessionen sollten das sein?

Leinen: Deutschland muss bereit sein, mit den Partnern in der Eurozone eine gemeinsame Konzeption für eine europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik zu entwickeln. Die Vorstellung, dass Europa am deutschen Wesen genesen muss, ist fehlgeschlagen. Andere Länder haben andere Bedingungen. Nicht jedes Land hat eine hochentwickelte Industrie und kann »Exportweltmeister« sein. Wir brauchen eine Europapolitik, die Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Mittelpunkt stellt. Sonst wird der Widerstand gegen das Spareuropa noch größer.

Ich wünsche mir ein europäisches Deutschland und kein deutsches Europa. Weil wir Führungsmacht sind, müssen wir klug und umsichtig mit dieser Rolle umgehen. Ich kann im Europaparlament sehr gut beobachten, wie dünn das Eis inzwischen ist, wenn es darum geht, weitere Kröten aus Deutschland zu schlucken. Wir brauchen den Schulterschluss mit Frankreich, aber wir müssen noch mehr Länder ins Boot holen, um das neue Europa zu bauen.

Möller: Wird der Euro überleben, wenn es nicht gelingt, die Währungsunion zu reformieren? Ich glaube eher nicht. Und wenn es eine Reform gibt, muss sie das große Problem der starken Ungleichgewichte angehen. Dies ist die Aufgabe der Mitgliedsstaaten aber auch für die europäische Ebene. Dabei geht es nicht nur um Strukturreformen sondern auch um die entsprechenden Mittel. Inzwischen gibt es innerhalb der Mitgliedsstaaten und zwischen den Mitgliedsstaaten ein Maß an sozialem Unfrieden, der dazu führen könnte, dass das Modernisierungsprojekt Europäische Union als solches implodiert. Darin besteht die reale Gefahr.

Was muss Deutschland tun? Die strukturelle Macht, die Deutschland im Augenblick noch hat, und die auch mit der Schwäche der anderen zusammenhängt, kann flüchtig sein. Wie Deutschland wahrgenommen wird, hat ganz erhebliche Auswirkungen darauf, wie viel Vertrauen ihm in Zukunft entgegengebracht wird. Ich glaube, dass man nicht noch mehr Vertrauen verspielen darf. Deutschland braucht seine europäischen Partner, das sehen wir gerade in der Flüchtlingskrise. Wer aber ist hier gerade bereit, Berlin die Hand für eine gemeinsame europäische Lösung zu reichen? Jahre der wahrgenommenen und der de facto deutschen Dominanz haben Spuren hinterlassen. Mein Wunsch wäre also, dass mehr darüber reflektiert wird, wie Deutschland von den anderen Mitgliedsstaaten und deren Bevölkerungen wahrgenommen wird, anstatt nur beständig darauf zu verweisen, dass man selbst überzeugt ist, im Sinne der gesamten EU zu handeln.

NG/FH: Wäre die Einberufung eines europäischen Konvents, wo man das Gesamtprojekt Europa mit allen beteiligten Ländern neu diskutieren könnte, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, mit den Zivilgesellschaften, der entscheidende Schritt für einen Neuanfang, um aus der Vertrauenskrise, aus der Krise der Institutionen und der Politik herauszukommen?

Leinen: Ein dritter Konvent mit dem Auftrag, über die Zukunft Europas nachzudenken, würde wieder einen Schub auslösen und positive Vorstellungen für die Weiterentwicklung der EU und die nächsten Schritte der europäischen Integration bringen. Die beiden Konvente über die Grundrechtecharta und den Verfassungsvertrag waren Erfolgsstorys. Die Grundrechtecharta gibt es, obwohl keiner daran geglaubt hat. Es hat sich im Laufe des Konvents eine Dynamik entwickelt, 50 Werte und Freiheiten in der weltweit fortschrittlichsten Charta zu verankern. Der Verfassungsvertrag fing auch mit wenigen Themen an, und daraus entwickelte sich das größte Modernisierungsprojekt für die EU.

Möller: Vom Ergebnis her gedacht war der Verfassungsvertrag nun nicht unbedingt eine Erfolgsstory ...

Leinen: Doch. Der Vertrag von Lissabon ist in der Substanz zu 98 % das, was der Verfassungskonvent erarbeitet hatte. Und das ist schon viel, viel mehr jedenfalls als sich viele am Anfang der Beratungen vorgestellt haben.

Möller: Aber die Kraftanstrengung war doch so enorm, dass in den Hauptstädten der EU heute noch Vertragsänderungen gescheut werden, was wohl auch in Zukunft noch so sein wird. Offensichtlich traut sich keiner mehr zu sagen: »Ja, wir brauchen noch einmal diesen großen Aufschlag, wir müssen an die Verträge ran und noch mal gründlich überlegen.«

Ich bin überzeugt, dass Grundsatzdebatten wichtig sind, glaube aber, dass die gegenwärtige Situation eigentlich nicht danach ruft, weil es eher eine Selbstvergewisserung der entscheidenden Akteure wäre. Wenn wir uns also jetzt eine Debatte leisteten, die zutage treten ließe, dass die Positionen auch im Europäischen Parlament dermaßen polarisiert sind und es dort aktive Europafeinde gibt, müsste man sich fragen, wie man am Ende politisch damit umgeht.

Leinen: Ein großes Problem besteht doch darin, dass wir 28 nationale Debatten haben und entsprechend viele nationale Wahrnehmungen der europäischen Herausforderungen. Es gibt keine große Europadebatte über die nationalen Grenzen hinweg. Es fehlt eine Plattform, auf der die Ideen zusammenkommen. Mit dem Vertrag von Lissabon gibt es jetzt das Instrument des Konvents, der alle Parlamente, alle Exekutiven und auch die Zivilgesellschaft einbindet.

Ich habe zweimal sehr positive Erfahrungen mit der Plattform Konvent gemacht. In einem solchen Prozess klären sich Vorurteile und Ängste, und neue Ideen werden diskutiert und profiliert. Die Pro-Europäer sind immer noch die große Mehrheit, sie machen sich aber nicht so lautstark bemerkbar. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir in dieser Legislaturperiode bis 2019 dringend eine Plattform brauchen, sonst zerfällt Europa. 2016 kommt das Referendum in Großbritannien, 2017 gibt es die Präsidentschaftswahlen in Frankreich und die Bundestagswahlen. Aber bis zum Ende der Legislaturperiode des Europäischen Parlaments und der Kommission im Mai 2019 haben wir noch Zeit, ab Ende 2017 könnte der große Europa-Diskurs mit dem Konvent starten: Ohne Klarheit über die wichtigen Herausforderungen und die Mittel zu deren Bewältigung werden die Anti-Europäer mit ihren einfachen Parolen bei den nächsten Europawahlen noch mehr Land gewinnen.

Möller: Also, jetzt keinen Konvent zu fordern, heißt ja nicht, nichts zu tun. Ich glaube, wir brauchen insbesondere in der Wirtschafts- und Währungsunion einen Integrationsschritt. Das wissen die Regierungen der Eurozone auch. Sie wissen auch, wie schwierig der in Bezug auf die Bevölkerung zu organisieren ist.

Leinen: Die Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion schreit nach Fortschritten. Bekommt die Eurozone einen Haushalt? Brauchen wir einen europäischen Finanzminister? Und wer kontrolliert das dann demokratisch? Wie sieht eine europäische Wirtschaftsregierung aus? Diese und andere Fragen stehen im Raum. Dieser dritte Konvent muss nicht einen komplett neuen Vertrag schreiben. Er muss an der Großbaustelle Europa dort weiterbauen, wo es Lücken gibt und versuchen, dieses Haus wetterfest zu machen.

NG/FH: Frau Möller, reichen die Gemeinsamkeiten überhaupt noch aus, um so einen Konvent ins Leben zu rufen? Und wenn ja, könnte es dann nicht sein, dass dort eher die Widersprüche noch sichtbarer werden als sie ohnehin schon sind?

Möller: Wir befinden uns eigentlich in einer interessanten Phase: Wir haben doch inzwischen Debatten, die über die Grenzen hinweg geführt werden.

Was sichert unseren Wohlstand? Wie organisieren wir Teilhabe an politischen Prozessen? Das sind die ganz großen Fragen. Das Problem ist, dass Europa hier in der Regel eher als Problem und nicht als Lösung wahrgenommen wird. Davon müssen wir weg. Die Frage ist: Kann ein solcher Konvent dazu etwas beitragen? Ich glaube, dass das zum jetzigen Zeitpunkt das falsche Signal wäre, weil das eher in der Bevölkerung und in den Reihen der politischen Akteure so wahrgenommen würde, als leiste sich Europa gerade dann den Luxus einer erneuten Grundsatzdebatte, während uns das Haus gleichzeitig um die Ohren fliegt.

Die großen Themen müssen wir angehen, aber dass ein solches Konventsverfahren der richtige Ansatz ist, glaube ich nicht, weil dann auch klar wird, dass die Entwürfe sehr, sehr unterschiedlich sind. Ich glaube, dass man eher ein Format finden müsste, wo es darum geht, die Probleme, die wir momentan haben, noch sehr viel klarer anzugehen und ein bisschen von dieser großen Rhetorik wegzukommen, mit der viele Menschen leider nicht mehr so viel anfangen können.

Leinen: Natürlich sollte sich die europäische Debatte auf konkrete Politikfelder fokussieren, um gemeinsame Konzepte zur Lösung der drängendsten Probleme zu finden. Es geht dabei nicht in erster Linie um die Finalität der Europäischen Integration, sondern um Politiken, die wir gemeinsam organisieren müssen, um in Europa sicher und gut zu leben. Wie können wir die soziale Sicherheit in Europa bewahren? Wie können wir die Arbeitslosigkeit überwinden? Wie gestalten wir die Einwanderungspolitik? Wie reagieren wir auf die Kriege und Krisen um uns herum?

Es wäre ein enormer Gewinn, die Debatte europäisch zu führen, statt sich wie bisher in 28 nationale Debatten zu zerfleddern.

Möller: Das ist eine Möglichkeit, Veränderungen zu organisieren und auf traditionelle Art im EU-Rahmen über Vertragsreform, über den Konvent und solche Dinge zu sprechen. Eine andere Perspektive wäre es zu sagen: Der politische Prozess ergibt das. Wir haben inzwischen einen Grad der Politisierung der Europapolitik erreicht, den die Regierungen der Mitgliedsstaaten spüren, vor allem die, die aus den Ämtern gefegt worden sind. Das spürt man auch im Europäischen Parlament. Geht es jetzt nicht vielmehr darum zu fragen: Welche Mehrheiten können wir eigentlich in Europa für bestimmte Politiken organisieren? Dieser Ansatz wäre auch einer, der das Instrument Konvent etwas in den Hintergrund treten ließe.

Leinen: Unser Problem ist doch, dass mit dem Europäischen Rat eine Art Exekutiv-Föderalismus entstanden ist. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich in Brüssel hinter verschlossenen Türen. Die Bürgergesellschaft und die Parteien werden nicht mitgenommen, die Parlamente nur zögerlich. Es gibt also nicht den großen Ratschlag über Europa, sondern ein verengtes Brüssel-Europa. Und da möchte ich gerne raus. Der Konvent würde meiner Meinung nach neue Dynamiken ermöglichen, weil alle politischen und gesellschaftlichen Akteure gezwungen wären, europapolitisch Farbe zu bekennen. Das birgt auch Risiken. Aber bei den beiden bisherigen Konventen ging es letztendlich voran, weil sich die Spreu vom Weizen trennt und die große Mehrheit ein starkes Europa will. Davon bin ich fest überzeugt.

Möller: Und ich glaube, dass inzwischen der Teufel im Detail liegt. Das, was als pro-europäisch oder anti-europäisch gilt, ist inzwischen doch sehr viel differenzierter. Deswegen ist es viel schwieriger, einen Korridor zu organisieren, auf dem man sich dann wieder gemeinsam findet. Aber ich lasse mich gerne vom Gegenteil überzeugen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2015, S. 4 - 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2015

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