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ITALIEN/055: Hunderttausende Kinder in Italien leben in bitterster Armut (Gerhard Feldbauer)


Hunderttausende Kinder in Italien leben in bitterster Armut

Ihr Elend erinnert an die Romane von Giovanni Verga

von Gerhard Feldbauer, 22. September 2014



Durch Veröffentlichungen der Unicef, des italienischen Amtes für Statistik ISTAT und Medien des Mittelmeerlandes ist in jüngster Zeit das unbeschreibliche Kinderelend im Mezzogiorno, dem Süden Italiens, wieder einmal in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Beim Lesen dieser Berichte fühlt man sich unwillkürlich in die Romane von Giovanni Verga versetzt, der in der zweiten Hälfte der 1880er Jahre sich der erschütternden Armut der Landbevölkerung Süditaliens zuwandte und zum Begründer des italienischen Verismus wurde. Mit "Nedda" (1874) und "Sizilianische Dorfgeschichten" (1880) stieg er zum Meister veristischer Novellen auf. "Sizilianische Bauernehre" (1884) nahm Pietro Mascagni als Stoff für seine weltweit bekannt gewordene Oper "Cavalleria rusticana". In seinen bedeutendsten Romanen "Malavoglia" (1881) und "Don Gesualdo" (1889) schilderte er mitfühlend die Leiden der Unterdrückten, deren Denken von Resignation und Hoffnungslosigkeit beherrscht wird. Auch wenn Verga nicht die gesellschaftlichen Wurzeln von Ausbeutung und Unterdrückung und den Kampf dagegen aufzeigte, gebührt ihm das große Verdienst, als erster das Elend der Bauern und Tagelöhner, Hirten, und Fischer in die italienische Literatur eingeführt zu haben.


Für ein paar Cent schuften Zehnjährige 12 Stunden am Tag

Man kommt nicht umhin, zu fragen, wie wenig sich in über einem Jahrhundert seitdem an den gesellschaftlichen Missständen geändert hat, in denen bei den Betroffenen noch heute Resignation und Hoffnungslosigkeit herrscht. Gibt es doch dort Hunderttausende Kinder, die keinen Schulabschluss schaffen, weil sie die Hälfte des Jahres nicht zur Schule kommen. 2011 wurde aus Neapel, der Regionalhauptstadt von Kampanien, das wie schon zur Zeit Vergas "Hauptstadt des Elends" genannt wird, bekannt, dass es dort seit 2005 insgesamt 54.000 Kinder waren. 38 Prozent von ihnen waren unter 13 Jahren. Sie bleiben der einfachsten Bildung der Elementarschule beraubt, weil sie arbeiten müssen, besser gesagt schuften, wie Erwachsene. Schon Zehnjährige zwölf Stunden am Tag. Oft erhalten sie nur ein paar Cent die Stunde. Auf den Märkten ziehen sie im Morgengrauen auf großen Handkarren die Waren heran, schleppen zentnerschwere Kisten, stehen in Bars hinter der Theke, sind Kellner, Schuhputzer, Autowäscher, Schwarzarbeiter auf Baustellen, "Männer für alles". Wenn sie da nicht unterkommen, findet man sie unter den Bettlern, Taschendieben oder denen, die von der Mafia für ihre Drecksarbeit angeheuert werden. Denn irgendwie müssen sie den Eltern, die zu den Ärmsten der Armen zählen, helfen, über die Runden zu kommen. Über die Zahl der Neapolitaner, die in den Slums der Vorstädte leben, ist nichts bekannt. Die Kinder dort haben noch nie ein richtiges Haus betreten, sie kennen keine menschenwürdigen Wohnungen, was ein Wasserhahn ist, wissen sie nur aus Erzählungen. Die meisten haben die Hoffnung verloren, jemals aus diesen Baracken herauszukommen. Das alles wird mit einer erschreckenden Gleichgültigkeit hingenommen, obwohl vieles, was zum Beispiel den Abbruch des Schulbesuchs betrifft, gesetzeswidrig ist, äußert ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Neapel, der anonym bleiben will.


Viele Kinder haben noch nie ein Stück Fleisch gegessen

Angesichts der wachsenden Armut hat Kampanien nicht nur nichts unternommen, um das Elend zu lindern, sondern 2010 die bis dahin bestehenden bescheidenen Zuschüsse zur soziale Mindestsicherung abgeschafft, was 130.000 berechtigte Familien in noch tiefere Armut stürzte. Damals betrug das monatliche Durchschnittseinkommen in der Region 633 Euro pro Einwohner, was heißt, bei den Ärmsten vom Durchschnitt noch etwa 200 Euro abzuziehen. Heute gibt die Hälfte der Einwohner an, dass sich ihre Situation verschlechtert hat. Die Kinder dieser Ärmsten haben immer Hunger, viele haben in ihrem Leben noch nie ein Stück Fleisch gegessen, sie kennen keine Schokolade, wissen nicht, wie Kuchen schmeckt. Sie durchstöbern die Abfalltonnen nach etwas Essbaren. Hier sieht man ausgemergelte kleine Körper, in zerlumpten Kleidern, barfuß, Kinder, die mit sechs Jahren wie Dreijährige aussehen.

Nach einem Unicef-Bericht befindet sich Italien unter den 15 reichsten Ländern Europas, während 15,9 Prozent der Kinder zwischen der Geburt und 17 Jahren unter den Bedingungen der Armut leben. Damit steht das Land in der Armutsstatistik unter 35 erfassten Ländern, in denen 13,3 der Minderjährigen unter Bedingungen einer "materiellen Entbehrung" leben, an 29. Stelle. Zu den Ursachen dieses unbeschreiblichen Elends gehört, dass das Mittelmeerland weniger als fünf Prozent seines Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen ausgibt. Wenn die fehlende staatliche Unterstützung nicht minimal durch eine noch intakte Solidarität der Großfamilien - wie Großeltern und Verwandter - ausgeglichen würde, oder soziale Zentren und gemeinnützige Vereine nicht etwas helfen, wären unzählige dem Hungertod ausgeliefert.


Unter Regierung der Sozialdemokraten Zahl der ärmsten Kinder verdoppelt

Obwohl seit 2013 die Sozialdemokraten (Demokratische Partei - PD) regieren, zeichnet sich keine Verbesserung für die in bitterster Armut lebenden Menschen ab. Im Gegenteil hat sich, wie ISTAT gerade berichtete, die Zahl der ärmsten Kinder in den letzten zwei Jahren verdoppelt. "13 Prozent von ihnen haben alle Tage kein Fleisch zu essen" schrieb "La Repubblica", die den Bericht kommentierte. Seit 2012 - zu dieser Zeit war der von der EU favorisierte Mario Monti Regierungschef - habe sich die Zahl der ärmsten Kleinsten von 723.000 auf 1,434 Millionen erhöht. Als beängstigend nannte "Le Repubblica", dass das Kinderelend nicht mehr nur den Süden betrifft, sondern auch den industrialisierten Norden erfasst hat. Zu den materiellen Entbehrungen kämen "soziale Defizite", wie die Ausgeschlossenheit Tausender dieser Kinder von Sport und Kultur, und dass ein solches Kind "keinen Freund zu sich nach Haue einladen" könne. In dieser Situation seien "die finanziellen Mittel, um diese Verelendung zu kämpfen, halbiert worden", schrieb das der regierenden PD nahestehende Blatt.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2014