Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → POLITIK


ITALIEN/269: Steht auch Italien vor Neuwahlen? (Gerhard Feldbauer)


Steht auch Italien vor Neuwahlen?

Im Gespräch ist bereits der September
Sternepartei droht Katastrophe

von Gerhard Feldbauer, 7. Juni 2019


Nachdem sich nach den EU-Wahlen das Zerwürfnis zwischen der faschistischen Lega und der rechten Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) in der Regierung zuspitzt, scheinen Neuwahlen in Italien immer wahrscheinlicher. Die Turiner La Stampa nannte als Termin bereits den 22. oder 29. September, damit eine neue Regierung genug Zeit habe, um den Haushalt für 2020 zu verabschieden. Vize-Premier und Innenminister Matteo Salvini, dessen Lega am 26. Mai 34,33 Prozent einfuhr, könnte mit einem ähnlich hohen Ergebnis rechnen und mit den Faschisten der Forza Italia (FI) von Ex-Premier Berlusconi und den Brüdern Italiens (FdI) von Giorgia Meloni eine Regierung bilden.

Die Sterne-Partei, deren Chef Luigi Di Maio als Vize-Premier und Arbeitsminister sich nicht nur bedingungslos dem migrantenfeindlichen Kurs der Lega unterordnete, sondern auch keines der Wahlversprechen, darunter ein Mindesteinkommen, realisieren konnte, wurde von ihren Wählern abgestraft. Sie sackte von 34 Prozent bei den Wahlen im März 2018 auf 17,07 Prozent ab. Vorgezogene Neuwahlen schon im September wären für sie eine ähnliche Katastrophe.

Nüchtern denkende Sterne-Leute wie Parlamentspräsident Roberto Fico, der als Vertreter eines "linken" Flügels auftritt, versuchen, das Ruder herumzureißen. Nach faschistischen Gewalttaten besuchte er antifaschistische Gedenkstätten, Aufnahmezentren von Flüchtlingen oder Baracken afrikanischer Landarbeiter. Spektakulär war, als er am 2. Juni, dem Jahrestag der Republik, erklärte, das sei auch das Fest aller in diesem Land lebenden "Migranten, Roma und Sinti", die die "gleichen Rechte wie wir haben". Das war eine Kampfansage an die Lega und Salvini reagierte empört. Di Maio begegnete Rücktrittsforderungen mit einer Online-Abstimmung der Parteimitglieder, bei der 44.849 (zirka 80 Prozent) ihn als M5S-Führer bestätigten, was er als "großen Sieg" der "direkten Demokratie" feierte. Zu einem energischen Auftreten gegenüber dem Koalitionspartner nutzte er das Resultat nicht. Salvinis "Klarstellung" zum EU-Ergebnis, die Lega sei "das Flaggschiff auf Regierungsebene", nahm er widerspruchslos hin. Bei den M5S-Forderungen beschränkte er sich darauf, das Mindesteinkommen und Steuersenkungen anzusprechen und bat zur Klärung der strittigen Fragen Premier Conte, der als "Marionette" des Lega-Chefs gilt, einen Dreiergipfel einzuberufen, der bis heute aussteht.

Weder kam es dem Sterne-Führer in den Sinn, eine Demonstration von über 100.000 Rentnern vergangene Woche in Rom, die forderten, "die Wirtschafts- und Sozialpolitik zu ändern", aufzugreifen, noch das Urteil der Vorsitzenden der Gewerkschaft CISL, Annamaria Furlan, zur Kenntnis zu nehmen, die erklärt hatte, "das Land hat kein Wachstum", die "Interessen der Italiener interessieren die Regierung nicht". Italien stehe nach einem Jahr dieser Regierung "schlimmer als vorher da".

Nachdem Salvini auf seinen Standpunkten beharrte, wurde der Ton seitens M5S schärfer, was Premier Conte veranlasste, beide Regierungsparteien aufzufordern, ihren "Dauerstreit" zu beenden, andernfalls werde er zurücktreten. Er erklärte, die EU-Regeln seien gültig, solange es nicht gelinge, sie zu verändern und erinnerte, zudem sei Italien "auf das Vertrauen der Finanzmärkte" angewiesen. Die Nachrichtenagentur ANSA meinte, die Rücktrittsdrohung sei nicht ernst zu nehmen. Es sei "ein letzter Versuch, den Abgrund der Krise zu umgehen". Conte gehe es darum, "einen Konsens" zu erreichen. Der Mailänder Corriere della Sera konstatierte dagegen, "drastische Wahrheit" sei, dass es "so nicht weitergehen kann".

Hatte Salvini zunächst die Koalition mit den Sternen fortsetzen wollen, damit sich diese weiter verschleißen, setzt er jetzt auf Neuwahlen schon im September. Denn mit dem dann anstehenden Haushalt kommen die Karten auf den Tisch: neue drastische Kürzungen der Sozialleistungen, darunter Heraufsetzung des Rentenalters, die Erhöhung der Mehrwertsteuer (derzeit 22 Prozent), Steuersenkungen, aber vor allem für die Unternehmer. Die Lega könnte das Stimmen kosten, M5S wieder Punkte bringen. Die Entscheidung werde bis Ende Juni fallen. Dann werde es "keine Zweifel mehr an dem Willen von irgendjemandem geben", verkündete er am Dienstag gegenüber dem Corriere della Sera. Bis dahin will er die Eckpunkte seiner Agenda durchziehen: Festhalten an der "Flüchtlingsabwehr", die "Flat tax" (den sogenannten einheitlichen Steuersatz von 15 Prozent), TAV (die Bahntrasse Turin-Lyon), den Steuererlass für Fiskusbetrüger, "Vereinfachungen" bei der Vergabe öffentlicher Aufträge (die in Italien vor allem Korruptionsgeschäfte und mafiose Infiltration erleichtern) und schließlich den Konflikt mit der EU fortsetzen.

In der Demokratischen Partei (PD), die sich am 26. Mai von 19 auf 22,7 Prozent steigern konnte, will man mit Neuwahlen noch warten, um die Chancen weiter zu steigern. Man müsse "den Innenminister auf dem Weg zu vorfristigen Neuwahlen bremsen", schrieb ihr Sprachrohr La Repubblica. Das letzte Wort hat Staatspräsident Sergio Mattarella, der bis Ende Juli das Parlament auflösen müsste, wenn im September gewählt werden sollte. Er scheint, wie ANSA, nachdem er Di Maio zu einem Gespräch empfangen hatte, andeutete, Neuwahlen in diesem Tempo auszuschließen zu wollen. So deutet nach vorherrschenden Medien-Meinungen (so auch Fatto Quotidiano) alles darauf hin, während der Parlaments-Sommerferien es so zu belassen, die Entscheidungen auf den Herbst zu verschieben und die Debatte über das Haushaltsgesetz für 2020 abzuwarten.

*

Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2019

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang