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PARTEIEN/259: Dramatischer Wahlausgang im Vereinigten Königreich (SB)


Dramatischer Wahlausgang im Vereinigten Königreich

Schottlands Nationalisten stellen die Union mit England in Frage


Am 5. Mai wurden im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland die Untertanen von Elizabeth II. zur Wahlurne gerufen. Es standen Wahlen zu den Regionalparlamenten in Nordirland, Schottland und Wales, Kommunalwahlen im gesamten Königreich sowie eine Volksbefragung in der Frage an, ob das bisherige Mehrheitswahlrecht bei Wahlen zum Unterhaus im Londoner Westminster Palace durch ein alternatives System ersetzt werden soll, das kleineren Parteien und unabhängigen Kandidaten größere Chancen einräumt, Abgeordnetensitze zu ergattern. Aus den Wahlen gingen die Liberaldemokraten, die nach den Parlamentswahlen im letzten Jahr Juniorpartner in einer Koalition mit den Konservativen wurden, als größte Verlierer und die schottischen Nationalisten, die nördlich vom Hadrianswall erstmals die absolute Mehrheit errangen, als größte Gewinner hervor.

Für die Liberaldemokraten um Nick Clegg wurde der Wahltag zum absoluten Fiasko. Jahrzehntelang hat die dritte Partei Großbritanniens ein Plebiszit zum Wahlrecht gefordert, um dieses fairer zu gestalten. Denn nach dem bisherigen System werden die Parlamentssitze weder landesweit noch in den einzelnen Bezirken nach dem Prozentanteil an Stimmen, welche die jeweiligen Parteien oder Kandidaten erhalten, verteilt. Statt dessen schickt jeder Landkreis nur einen Abgeordneten oder eine Abgeordnete ins Parlament - nämlich die Person, welche die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte. Da jeweils rund ein Dutzend Menschen kandidieren, braucht der Gewinner bzw. die Gewinnerin lediglich um die dreißig Prozent der abgegebenen Stimmen. Dieses System, auch First past the post genannt, sorgte bis zum Mai vergangenen Jahres kontinuierlich dafür, daß entweder die konservativen Tories oder die Sozialdemokraten von der Labour Party eine einfache Mehrheit im Parlament erhielten und allein regieren konnten.

Im Mai 2010 kam es anders. Die Liberaldemokraten haben so gut abgeschnitten wie lange nicht mehr, während weder die Konservativen noch Labour die absolute Mehrheit bekamen. Nach 13 Jahren Labour-Regierung unter Tony Blair und Gordon Brown wollten die Wähler nicht allein den Tories, die 1997 nach 18 Jahren im Amt unter Margaret Thatcher und John Major in die Wüste geschickt worden waren, das Zepter in die Hand geben. Statt ein Mitte-Links-Bündnis mit den zweitplazierten Sozialdemokraten zu bilden, haben sich die Liberaldemokraten für die Bildung einer Koalition mit den erstplazierten Konservativen entschieden, die seitdem drastische Kürzungen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsystem vornimmt und weite Teile der Gesellschaft - Studenten, Ärzte, Krankenschwestern, vom Stellenabbau bedrohten Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes u. v. m. - gegen sich aufbringt.

Die Rechnung für den sozialen Kahlschlag haben die britischen Wähler Clegg und Konsorten präsentiert. Die Liberaldemokraten haben den Großteil ihrer Sitze in den Kommunalräten den ganzen Königreichs, mehr als 800 an der Zahl, verloren - die meisten davon an Labour unter deren neuem Vorsitzenden Ed Milliband. Bei den Wahlen zum schottischen Parlament sind die LibDems von 16 auf 5 Abgeordnete geschrumpft und damit in die Bedeutungslosigkeit abgesunken. Ihr großes Vorhaben, eine Reform des britischen Wahlrechts, das ihnen langfristig eine stärkere Präsenz im britischen Unterhaus garantiert hätte, ist sang- und klanglos untergegangen. Für die Veränderung stimmten ganze 32 Prozent der Wähler und dagegen 68. Wenngleich die Liberaldemokraten dieses Debakel ihren konservativen Regierungspartnern um Premierminister David Cameron zu verdanken haben, werden sie wahrscheinlich nicht aus der Koalition aussteigen, sondern den Blick nach vorne richten und auf bessere Zeiten hoffen. Vorgezogene Neuwahlen sind derzeit das letzte, was sie gebrauchen können, zumal ihr Vorsitzender Clegg - ähnlich seinem liberalen Gesinnungsgenossen Guido Westerwelle in Deutschland - innerhalb eines Jahres vom Strahlemann zur Witzfigur der Politik auf der Insel mutiert ist.

Während es wenig Veränderungen im politischen Kräfteverhältnis im Parlament von Wales gegeben hat - dort wird künftig Labour erneut eine Koalition mit den Nationalisten von der Plaid Cymru bilden -, breiten sich von der Wahl in Schottland riesige Schockwellen aus. Zum erstenmal seit der Gründung des neuen Parlaments vor 13 Jahren haben die Scottish Nationalists unter ihrem Chef Alex Salmond eine absolute Mehrheit errungen. Und das ungeachtet der Tatsache, daß sie seit vier Jahren eine Koalition anführen, die auch einige schmerzhafte Haushaltskürzungen hat vornehmen müssen. Die etwas sanftere Art und Weise, wie die Administration Salmond in Edinburgh dies im Vergleich zur Zentralregierung in London gemacht hat, wurde von den schottischen Wählern belohnt. Die schottischen Nationalisten haben viele traditionelle Labour-Wähler auf ihre Seite ziehen können. In Schottland gelten die Konservativen als zu englandfreundlich und fristen dort seit den Tagen Thatchers ein Schattendasein.

Entgegen allen Erwartungen hat Salmond nach dem erdrutschartigen Wahlsieg bekanntgegeben, während der kommenden Legislaturperiode keine Volksbefragung über die Unabhängigkeit Schottlands und seinen Austritt aus der Union mit England durchführen zu wollen. Das ist schlau, denn für eine solche konstitutionelle Veränderung gibt es in Schottland derzeit keine Mehrheit. Deshalb will Salmond lediglich mit London über die Übertragung weiterer Zuständigkeiten - besonders in der Fiskalpolitik - an Edinburgh verhandeln und zusehen, wie die Kürzungspolitik der konservativ-liberalen Bundesregierung die Zahl der Anhänger des Traums von einem unabhängigen Schottland weiter anwachsen läßt.

Die Entwicklung in Schottland dürfte nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Großbritannien und Irland bleiben. Bei den Wahlen zum Parlament und in den Kommunen Nordirlands hat es wenig Veränderungen gegeben. Die beiden stärksten Fraktionen, die Democratic Unionist Party (DUP) um Peter Robinson und Sinn Féin um Martin McGuinness, haben auf Kosten ihrer Rivalen im protestantisch-probritischen respektive katholisch-nationalistischen Lager, der Ulster Unionist Party (UUP) um Tom Elliot und der Social Democratic Labour Party (SDLP) um Margaret Ritchie, ihren Vorsprung weiter ausgebaut. Wegen der komplizierten Regelung, mit der man im Rahmen des Karfreitagsabkommens von 1998 den Bürgerkrieg beendete, werden alle vier Parteien wieder eine große Koalition bilden.

Um den republikanischen Dissidenten, die in letzter Zeit wieder aktiv sind und vor wenigen Wochen in Omagh mit Ronan Kerr einen katholischen Polizisten per Autobombe getötet haben, den Wind aus den Segeln zu nehmen, wird Sinn Féin, die im Februar bei den Wahlen zum Parlament in Dublin die Zahl ihrer Abgeordneten verdreifachen konnte, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet zu verstärken versuchen. Bei der DUP und der UUP wird man angesichts des anhaltenden Erfolges der schottischen Nationalisten nicht um die Frage der eventuell schwindenden Bedeutung der Union mit Großbritannien herumkommen.

10. Mai 2011