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PARTEIEN/306: Kampf um das Für und Wider Brexit voll im Gange (SB)


Kampf um das Für und Wider Brexit voll im Gange

Eton-Schüler Cameron und Johnson führen die jeweiligen Lager an


Nach den Kommunalwahlen in England sowie den Wahlen für die Regionalparlamente in Schottland, Wales und Nordirland am 5. Mai spitzt sich in der britischen Politik praktisch alles auf den Kampf für oder gegen den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zu. Die folgenschwere Volksabstimmung darüber findet am 23. Juni statt. Laut Umfragen liefern sich die EU-Befürworter und -Gegner nach wie vor ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Den Ausschlag dürfte der rund 25prozentige Anteil der Wählerschaft geben, der sich gegenüber den Demoskopen bisher als "unentschieden" bezeichnet.

Aus den Ergebnissen der diversen Wahlen letzte Woche läßt sich wenig Aufschluß über den Ausgang des EU-Referendums ziehen. In Schottland und Nordirland haben sich die schottischen Nationalisten respektive die pro-britischen, protestantischen Unionisten jeweils als stärkste Kraft behauptet. Die britische Labour Party ist in Schottland erstmals hinter den Konservativen auf den dritten Platz zurückgefallen, konnte jedoch ihre Position als größte Fraktion in der Regionalversammlung im walisischen Cardiff verteidigen. In den 124 englischen Kommunen hat Labour nur 18 Sitze verloren und bleibt mit insgesamt 1289 die dominierende gesellschaftliche Kraft. Im Vergleich dazu haben die Tories um Premierminister David Cameron 48 Kommunalsitze verloren und kamen nur auf 828. Darüber hinaus hat Labour in der Hauptstadt London das Amt des Bürgermeisters nach acht Jahren zurückerobert. Ihr Kandidat Sadiq Khan, der Sohn eines pakistanischen Taxifahrers, hat den schwerreichen Finanzerben Zac Goldsmith von den Konservativen vernichtend geschlagen.

Das von den britischen Sozialdemokraten erzielte, zufriedenstellende Ergebnis in den englischen Kommunen im allgemeinen und in London im besonderen ist deshalb bemerkenswert, weil sich Parteichef Jeremy Corbyn und Khan jeweils einer Kampagne der "schmutzigen Tricks" ausgesetzt sahen. Cameron und Goldsmith haben gegen besseren Wissens Khan als Sympathisant islamistischer Extremisten zu brandmarken versucht. Corbyn mußte sich in der Woche vor der Abstimmung gegen den vielfach erhobenen Vorwurf zur Wehr setzen, den Antisemitismus bei seinen Verbündeten im linken Flügel der Labour Party zu dulden. Die Antisemitismus-Keule wurde von den politischen Zöglingen Tony Blairs in der Labour-Unterhausfraktion geschwungen, die sich mit dem Pazifisten Corbyn als Parteichef partout nicht abfinden wollen und diesen deshalb bei jeder Gelegenheit zu torpedieren versuchen.

Das unappetitliche innerparteiliche Hickhack bei Labour hat Corbyns Möglichkeiten, seine Millionen von Anhängern bei der Jugend und den Linkswählern doch für den Verbleib Großbritanniens in der EU zu gewinnen, beeinträchtigt. So gesehen könnte sich die taktische Demontage Corbyns für die Blairites, die allesamt große EU-Freunde sind, strategisch noch als Eigentor erweisen. Bekanntlich hat Premierminister Cameron dafür gesorgt, daß der lange erwartete Abschlußbericht der von Richter John Chilcot geleiteten Untersuchungskommission zu den Hintergründen der Beteiligung Großbritanniens am Irakkrieg 2003 erst am 6. Juli veröffentlicht wird. Mit diesem Kniff soll erreicht werden, daß Ex-Premierminister Blair öffentlich Stimmung für den Verbleib in der EU machen kann, ohne ein Wiederaufflammen der schwelenden Irak-Kontroverse befürchten zu müssen. Doch es ist zweifelhaft, ob Blair, der seit dem Rücktritt 2007 aus der aktiven Politik dank seiner zahlreichen Verbindungen zum schwerreichen internationalen Berater aufgestiegen ist, mit seinen stets messianisch klingenden Botschaften jemanden in Großbritannien zu einem Ja zur EU bewegen könnte, der nicht ohnehin in diese Richtung tendierte.

Zwischen den beiden Lagern in der Brexit-Debatte - "Britain Stronger in Europe" und "Vote Leave" - wird der Ton zunehmend schriller. Vor allem die Conservative Party, die seit den Tagen Margaret Thatchers in der Frage der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens zerstritten ist, zerfleischt sich regelrecht. Die EU-Gegner in Camerons eigenem Kabinett werfen dem Premierminister und seinen Getreuen vor, eine Angstkampagne - "Project Fear" - zu betreiben. In der Tat führen die EU-Befürworter nicht nur ökonomische Argumente ins Feld, sondern vor zwei Tagen hat Cameron sogar das Szenario eines Dritten Weltkrieges an die Wand gemalt, sollte Großbritannien nicht in der EU bleiben und dort für eine Fortsetzung der harten Haltung der USA gegenüber Rußland sorgen. Selbst Winston Churchill würde gegen den EU-Austritt votieren, so Cameron in Erinnerung an die dunkelsten Tage im Zweiten Weltkrieg, als die Briten - "their finest hour" - allein Nazideutschland trotzten.

Ungeachtet der Behauptung, sie verkauften ein "Project Fantasy", sprechen Boris Johnson, Camerons Hauptrivale um die Parteiführung bei den Tories und zuletzt Bürgermeister von London, der ehemalige konservative Minister für Soziales Iain Duncan Smith und Nigel Farage von der rechtschauvinistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) die Ängste vieler Briten vor einem EU-Moloch mit Hauptstadt Brüssel an. In einer Rede am 10. Mai hat Smith behauptet, Deutschland verübe ein "De-facto-Veto" über alle EU-Angelegenheiten und würde die Entwicklung in Richtung eines europäischen Superstaats unter Führung Berlins forcieren. Erst vor kurzem bekannte Pläne Deutschlands zur Aufstellung einer EU-Armee lassen die These Smiths als plausibel erscheinen. Das gleiche gilt für die Forderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Kriegsflüchtlinge aus Afrika und Asien nach einem entsprechenden Schlüssel auf alle 28 EU-Mitgliedsländer zu verteilen. Gerade die Einwanderungsfrage spielt in der Brexit-Debatte eine überragende Rolle.

In Irland sorgt das Szenario eines eventuellen Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union für großes Unbehagen. In einem solchen Fall verliefe die EU-Außengrenze quer durch Irland, von Derry bis Dundalk. Die ganzen Grenzanlagen, die man nach dem Ende des nordirischen Bürgerkrieges 1998 niedergerissen hat, müßten eventuell wieder aufgerichtet werden. Mit schweren Beeinträchtigungen für den umfangreichen anglo-irischen Handel wäre auch zu rechnen. Darum hat Dublin an die zahlreichen irischen Einwanderer in Großbritannien appelliert, selbst für den EU-Verbleib für votieren und all ihren Freunden und Bekannten das gleiche zu empfehlen. Sollte das Ergebnis, wie erwartet, knapp ausfallen, könnten es am Ende die Iren sein, die über den künftigen Kurs Großbritanniens in der EU-Politik entscheiden.

11. Mai 2016


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