Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/327: Brexit überschattet den britischen Wahlkampf (SB)


Brexit überschattet den britischen Wahlkampf

Vorsprung der Tories in den Umfragen schmilzt dahin


Der Plan Theresa Mays, die am 18. April völlig überraschend Neuwahlen im Vereinigten Königreich für den 8. Juni ankündigte, schien genial. Die britische Premierministerin hatte die einmalige Gelegenheit ergriffen, den seit Monaten stabilen Vorsprung der alleinregierenden Konservativen von rund 20 Prozent in allen Umfragen vor den oppositionellen Sozialdemokraten mit dem Ziel auszunutzen, die Mehrheit der Tories im Unterhaus von derzeit nur 18 Sitzen auf rund 100 auszubauen. Mit einem solchen Mandat würde sie der Labour-Partei ihre schwerste Niederlage seit 1945 zufügen und gleichzeitig den eigenen Spielraum für die bevorstehenden Verhandlungen über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) ausbauen und nicht mehr allzu viel Rücksicht auf die Forderung der Europhoben in den eigenen Reihen nach einem "harten" Brexit nehmen müssen. Doch wie Mike Tyson es einmal so treffend formulierte: "Jeder hat einen Plan, bis er einen Schlag aufs Maul bekommt." Im politischen Ring hat May gerade in den letzten Tagen diese harte Erfahrung machen müssen.

Am 26. April empfing sie in ihrem Londoner Amtssitz eine EU-Delegation, angeführt von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, zu einem Abendessen samt Vorgespräch über die Brexit-Verhandlungen, die formell auf eine Dauer von zwei Jahren terminiert sind. Nach allen Medienberichten war das Treffen ein Desaster. May beharrte auf den Standpunkt, Großbritannien könne die EU verlassen und die Rechte europäischer Bürger im Vereinigten Königreich stark einschränken, gleichzeitig aber den Zugang zum EU-Binnenmarkt für britische Produkte und Dienstleistungen behalten. Brexit-Minister David Davis soll sogar argumentiert haben, Großbritannien sei zur Begleichung seiner finanziellen Verpflichtungen gegenüber der EU rechtlich gar nicht verpflichtet - bekanntlich beziffert man in Brüssel die auf London zukommenden Trennungskosten auf rund 60 Milliarden Euro.

Beim Verlassen von Number 10 Downing Street war Juncker offenbar derart konsterniert, daß er im anschließenden Telefongespräch mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärt haben soll, May und ihre Tory-Minister lebten "in einer anderen Galaxie", so wirklichkeitsfremd seien ihre Forderungen den 27 restlichen EU-Staaten gegenüber. Dies hat Merkel beim Auftritt am nächsten Tag im Bundestag zu der Formulierung veranlaßt, die britische Regierung täte gut daran, ihre "Illusionen" bezüglich des Ausgangs der kommenden Verhandlungen schleunigst abzulegen.

Am 29. April trafen die Regierungschefs der Noch-27 zu einem Sondergipfel in Brüssel zusammen. In einer beeindruckenden Demonstration von Einigkeit brauchten sie nur eine Minute, um die von Juncker und Brexit-Chefunterhändler Michael Barnier vorgelegten neunseitigen Leitlinien über die kommenden Verhandlungen mit London zu diskutieren und fünfzehn, um sie zu verabschieden. Die Ausgangsposition der Noch-27 enthält mehrere wichtige Punkte. Es werden mit der May-Regierung keine Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen geführt, bis der rechtliche Status von EU-Bürgern in Großbritannien und britischer Bürger auf dem europäischen Festland geklärt und die Frage der gegenseitigen finanziellen Verpflichtungen geregelt worden ist. Darüber hinaus wurde in dem Dokument die Absicht formuliert, keine harte Grenze auf der Insel Irland entstehen zu lassen, und gleichzeitig das Recht Nordirlands auf automatische Wiedereingliederung in die EU bestätigt, sollte es irgendwann in der Zukunft, wie im Karfreitagsabkommen von 1998 vorgesehen, zur Wiedervereinigung mit der Republik Irland kommen.

Am 30. April trat May im BBC-Fernsehen auf, um sich vom politischen Korrespondenten Andrew Marr ausführlich interviewen zu lassen. Am Ende der einstündigen Sendung war allen Beobachtern klar, warum die Tory-Chefin von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird, niemals ein Bad in der Menge nimmt und sich weigert, an der geplanten Fernsehdebatte mit den anderen Parteivorsitzenden teilzunehmen. May wirkte roboterhaft und wich von ihrem Wahlkampfslogan, den auf der Insel inzwischen niemand mehr hören kann, sie brauche eine "starke und stabile" Mehrheit, um auch nach den schwierigen Brexit-Verhandlungen ein "starkes und stabiles" Großbritannien zu schaffen, kaum ab. Gerüchte über drohende Steuererhöhungen sowie Rentenkürzungen im öffentlichen Dienste nach der Wahl konnte sie nicht entkräften. Auf die Frage Marrs, ob es akzeptabel sei, daß britische Krankenschwestern so wenig verdienen, daß sie auf Lebensmittel von karitativen Einrichtungen angewiesen sind, meinte May, es gäbe "vielerlei Gründe, warum sich Menschen an die Tafel" wendeten. Ob die Brexiteers mit dem EU-Austritt jemals ihren Traum vom "Empire 2.0" verwirklichen können, ist zweifelhaft. Dagegen hat die Pfarrerstochter May mit dieser hartherzigen Bemerkung ihren Ruf als zweite "Eiserne Lady" à la Margaret Thatcher endgültig gefestigt.

Tatsächlich könnte es die glücklos wirkende May am Ende doch noch bereuen, Neuwahlen ausgerufen zu haben. Umfragen zufolge hat sich der Vorsprung der Konservativen gegenüber den Sozialdemokraten seit Beginn des Wahlkampfs halbiert. Labour-Chef Jeremy Corbyn hat sich mit Elan in den Wahlkampf gestürzt. Seine vielen Auftritte vor größeren Menschenmengen und seine sachlichen Argumente - zum Beispiel gegen eine von May favorisierte mögliche Teilnahme Großbritanniens an einem illegalen Kriegseinsatz der USA in Syrien - tragen dazu bei, das von der rechten Boulevardpresse erzeugte Bild von ihm als abgehalftertem Steinzeitsozialisten zu entkräften. Inzwischen ist die Rede von einer informellen Allianz, bei der alle oppositionellen Parteien - Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grüne sowie schottische und walisische Nationalisten - ihre Kräfte bündeln sollen, um am 8. Juni den Tories so viele Sitze wie möglich abzujagen. Der grandiose Sieg, den May Mitte April noch vor Augen zu haben meinte, rückt mit jedem Wahlkampftag in immer weitere Ferne.

2. Mai 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang