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PARTEIEN/348: Die EU lernt das Nein von Nordirlands Unionisten kennen (SB)


Die EU lernt das Nein von Nordirlands Unionisten kennen

Arlene Foster macht Theresa May zur Witzfigur


Am Vormittag des 4. Dezember schien nach sieben Monaten zäher, zum Teil chaotischer Verhandlungen eine Einigung zwischen der britischen Regierung und der EU in Sachen Brexit zum Greifen nah, so daß die Phase II zum Thema der künftigen Handelsbeziehungen aufgenommen werden könnte. In den letzten Wochen waren zwei der drei Problemfelder - die Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien und die Begleichung der britischen Finanzverpflichtungen - in Umrissen geklärt worden. Als die britische Regierungsdelegation an diesem Tag in Brüssel eintraf, ließ Brexit-Minister David Davis vor der Presse durchblicken, daß Dublin und London auch noch einen Weg gefunden hätten, die Einführung künftiger Personen- und Warenkontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland zu vermeiden. Für den Nachmittag war vorgesehen, daß die britische Regierungschefin Theresa May und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker das Ergebnis der Beratungen der Öffentlichkeit präsentieren würden. Es sollte jedoch ganz anders kommen.

May, Davis, Juncker und der EU-Chefunterhändler Michel Barnier saßen bereits hinter verschlossenen Türen, als gegen 11 Uhr MEZ der irische Rundfunksender RTÉ den Wortlaut der am Abend zuvor zwischen London und Dublin zur Lösung der Grenzproblematik vereinbarten Textpassage publik machte. Darin hieß es, das Vereinigte Königreich versichere der Republik Irland, daß nach dem Austritt aus der EU weiterhin "ordnungspolitsche Übereinstimmung" zwischen Nord- und Südirland herrschen werde, damit die Grenze unsichtbar bleibe und der Frieden in Nordirland nicht gefährdet werde. Die Garantien, die Dublin verlangt hatte, waren damit erfüllt. Anders als Großbritannien würde Nordirland nach dem Brexit im Binnenmarkt sowie in der europäischen Zollunion bleiben. Die Diskussionen über die Handelsfragen könnten eröffnet werden.

Die sensationelle Meldung von RTÉ, die offenbar ihre Quellen in Kreisen der irischen Regierung hatte, löste unterschiedliche Reaktionen aus. Per Twitter meldeten sich rasch die Regierungchefs der Autonomieregierungen in Schottland und Wales, Nicola Sturgeon und Carwyn Jones, sowie der sozialdemokratische Bürgermeister von London, Sadiq Khan, zu Wort und verlangten für ihre Regionen denselben Deal wie für Nordirland. Schließlich haben bei der Volksabstimmung über den EU-Austritt im Juni 2016 die Schotten und die Bürger Londons mit großer Mehrheit für den Verbleib gestimmt, während die Brexit-Gegner den Befürwortern in Wales ganz knapp unterlagen.

In der imposanten Eingangshalle des Belfaster Regierungspalasts Stormont trat mit steinerner Miene die gesamte Führungsriege der probritisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) vor die Kameras und erklärte den mühsam erzielten Kompromiß zwischen London und Dublin für inakzeptabel, weil dieser eine Sonderbehandlung Nordirlands vorsehe und damit auf eine Schwächung dessen verfassungsmäßiger Verbindung zu Großbritannien hinausliefe. In Brüssel schlug die Nachricht vom Veto der DUP wie die sprichwörtliche Bombe ein. May mußte das Mittagessen mit Juncker unterbrechen, um allein mit DUP-Chefin Arlene Foster zu telefonieren. Doch Foster, deren zehn DUP-Abgeordnete im britischen Unterhaus Mays konservative Minderheitsregierung über Wasser halten, war nicht umzustimmen. Nach einer peinlich kursorischen Pressekonferenz am späten Nachmittag zusammen mit Juncker, auf der es lediglich eine Vertagung der Beratungen zu verkünden gab, machten sich May und Davis unverrichteter Dinge auf den Weg nach Hause.

Seitdem schlagen die Wellen hoch. Die DUP schießt aus allen Rohren. Sie wirft London vor, Nordirlands königintreue Protestanten an die Republik Irland verraten zu wollen. Foster behauptet, May und Davis hätten der DUP bis zur allerletzten Minute den mit Dublin vereinbarten Text zur Regelung der Grenzfrage verheimlicht - auf Drängen Dublins! Der irische Premierminister Leo Varadkar hat den Vorwurf weit von sich gewiesen und für vollkommen abwegig erklärt. Foster und Nigel Dodds, der Anführer der DUP-Minifraktion im britischen Unterhaus, bezichtigen die irische Regierung, die Brexit-Verhandlungen für eine "anti-unionistische" Kampagne zu nutzen, die das seit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 mühsam zwischen Dublin und Belfast aufgebaute Vertrauen zerstört habe. Als Beweis für diese abstruse These soll die Bemerkung des 45jährigen irischen Außenministers Simon Coveney vor einigen Wochen herhalten, er hoffe, irgendwann die Wiedervereinigung Irlands erleben zu können.

Inzwischen herrscht völlige Verwirrung. In Brüssel und London scheint niemand zu wissen, wie es weitergeht. David Davis, der vor einiger Zeit als May-Nachfolger gehandelt wurde, demonstriert immer mehr seine Inkompetenz. Am 5. Dezember erklärte er im Unterhaus, er verstehe die Aufregung der DUP nicht; die geplante "ordnungspolitische Übereinstimmung" sollte künftig zwischen dem Vereinigten Königreich als Ganzes und der EU gelten, die Gefahr eines Sonderstatus für Nordirland existiere nicht. Die Stellungnahme von Davis hat die Brexiteers, die den Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion anstreben, um aus dem Vereinigten Königreich ein Billiglohnland und eine Steueroase mit niedrigen Sozialstandards und Umweltauflagen zu machen, auf die Palme gebracht. In deren Kreisen wird über einen Putsch gegen May laut nachgedacht, damit die Noch-Premierministerin keinen "sanften Brexit" mit Brüssel vereinbaren kann. Unterstützt werden die Little Englanders bei den Tories von der DUP, die, ohne es offen auszusprechen, scheinbar die Wiedererrichtung einer feste Grenze zwischen Nord- und Südirland bevorzugt, damit das, was zusammengehört, doch nicht weiter zusammenwächst.

Doch der Widerstand gegen die Befürworter eines harten Brexit, die zwar bei den britischen Konservativen den Ton angeben, im Unterhaus aber nur eine kleine Minderheit der Abgeordneten repräsentieren, wächst. In Reaktion auf das Scheitern der geplanten Einigung in Brüssel will Nicola Sturgeon, deren Scottish National Party (SNP) im Unterhaus die zweitgrößte Oppositionsfraktion stellt, eine überparteiliche Mehrheit organisieren, die dafür sorgt, daß das Vereinigte Königreich auch nach der geplanten Übergangsphase weiterhin in Binnenmarkt und Zollunion bleibt. Dafür hat sie Oppositionsführer Jeremy Corbyn, den Vorsitzenden der sozialdemokratischen Labour Party, zur Zusammenarbeit mit der SNP, den Liberaldemokraten und den Grünen aufgerufen.

Während Theresa May aktuell versucht, eine Formulierung zu finden, welche der DUP ihre angeblichen Ängste bezüglich einer Lockerung der Beziehungen Nordirlands zu Großbritannien nehmen könnte, verschärfen sich die Spannungen bei den Konservativen zwischen Brexiteers und Remainers. Sollten letztere die Warnungen der diversen Industrievertreter vor den katastrophalen Auswirkungen eines harten Brexit ernst nehmen und bei den kommenden Abstimmungen im Unterhaus für die sanfte Variante votieren, könnte dies die konservative Partei Großbritanniens zerreißen. Vorerst ist jedenfalls kein Ende der politischen Krise in London in Sicht. Im Gegenteil muß mit einer weiteren Verschärfung gerechnet werden.

7. Dezember 2017


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