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PARTEIEN/356: London - Brexit spaltet die Gesellschaft immer tiefer ... (SB)


London - Brexit spaltet die Gesellschaft immer tiefer ...


In London spitzt sich die Brexit-Krise zu. Der seit fast zwei Jahren anhaltende Richtungsstreit innerhalb des Kabinetts von Theresa May über die Gestaltung der künftigen Beziehungen des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland zur Europäischen Union tobt so heftig, daß ein Kollaps der Regierung immer wahrscheinlicher erscheint und eine Spaltung der konservativen Partei nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Hauptverantwortlich für die Krisensituation sind die chauvinistischen Brexiteers, die in ihrer ideologischen Verblendung auf einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU einschließlich des Binnenmarkts und der Zollunion pochen, ungeachtet aller absehbaren Schäden für die britische Wirtschaft.

Ähnlich des einst von Franz Josef Strauß formulierten politischen Imperativs in der Bundesrepublik, rechts von der CSU dürfe es keine parlamentarische Partei geben, haben die britischen Tories in den Nullerjahren extrem empfindlich auf die damaligen Wahlerfolge der kleinen United Kingdom Independence Party (UKIP) reagiert, deren einziges Thema die Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft war. Um die zur UKIP abgedrifteten Wähler der Konservativen wieder einzufangen und die Euroskeptiker in den eigenen Reihen zu besänftigen, hat Premierminister David Cameron die Unterhauswahlen 2015 mit dem Versprechen, eine Volksabstimmung in der Brexit-Frage abzuhalten, gewonnen. Von allen Politikern war Cameron wohl selbst am meisten überrascht, als eine Mehrheit der britischen Wähler im Sommer 2016 das landesweite Plebiszit für eine Protestbotschaft an die politische Kaste in London genutzt und für den EU-Austritt votiert hatte. Cameron trat auf der Stelle zurück, wurde als Partei- und Regierungschef von der bisherigen Innenministerin Theresa May abgelöst.

Seitdem laviert May zwischen den harten Brexiteers und den früheren Remainers, die heute für größtmögliche Nähe zur EU nach dem Brexit eintreten, und macht dabei alles andere als eine glückliche Figur. Seit sie im Frühjahr 2017 Neuwahlen ausrief und völlig ohne Not die konservative Regierungsmehrheit im Unterhaus verspielte, gilt sie politisch als lebende Leiche, als Kompromißfigur, die nur deshalb weiter in Downing Street Nr. 10 residieren darf, weil sich die zerstrittenen EU-Freunde und -Gegner in der eigenen Partei auf keinen geeigneten Nachfolger einigen können. Die Kommunalwahlen, die am 3. Mai in England und Wales stattfanden, haben den desolaten Zustand der Tories verdeutlicht. Obwohl UKIP 123 von 126 Sitzen verlor - fast alle an konservative Kandidaten - haben die Tories mit 1332 Sitzen 33 weniger als vor vier Jahren errungen. Als stärkste Kraft gingen Jeremy Corbyns Sozialdemokraten aus den Wahlen hervor; die Labour-Partei hat 2350 Sitze - ein Plus von 79 - gewonnen. Umgerechnet würde das Ergebnis der Kommunalwahlen auf einen deutlichen Sieg von Labour bei einer Unterhauswahl hinauslaufen.

Doch es ist das House of Lords, das Oberhaus des britischen Parlaments, das Theresa May in letzter Zeit die empfindlichsten Niederlagen beschert. Inzwischen 14mal haben die Lords mehrheitlich für Veränderungen am EU Withdrawal Bill votiert. Damit haben sie nicht nur eine Übernahme der EU-Menschenrechtscharta nach dem Brexit zwingend erforderlich gemacht, sondern auch dafür gesorgt, daß das britische Parlament über das Ergebnis der Verhandlungen zwischen London und Brüssel das letzte Wort haben wird. Damit ist das Kalkül der harten Brexiteers, die Brexit-Gespräche scheitern zu lassen, um anschließend der EU einfach den Rücken zu kehren - die sogenannte No-Deal-Option - gescheitert. Am 8. Mai hat das Oberhaus mehrheitlich, das heißt mit den Stimmen zahlreicher Tory-Rebellen, dem EU Withdrawal Bill einen Zusatz beigefügt, der eine Abstimmung im Unterhaus über den Verbleib des Vereinigten Königreichs neben den anderen 27 EU-Staaten, Island, Liechtenstein und Norwegen im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) - und damit quasi in der Zollunion - vorschreibt.

Angesichts der Kräfteverhältnisse im Parlament, wo die harten Brexiteers lediglich eine lautstarke Minderheit bilden, orientiert sich May langsam und allen Dementis zum Trotz in Richtung Verbleib in der Wirtschaftsunion. Im Kabinett streitet man aktuell über Mays Wunschvorstellung einer "Zollpartnerschaft" und das bevorzugte Szenario der harten Brexiteers, die "maximum facilitation" oder "max-fac" heißt. Die letztgenannte Variante läuft auf den Austritt aus Zollunion und Binnenmarkt hinaus, verspricht dafür technologische Lösungen unter Inanspruchnahme modernster Überwachungstechnologie, um die zu erwartenden Problemen im Grenzverkehr und -handel zu bewältigen.

Die EU-Unterhändler, angeführt vom französischen Diplomaten Michel Barnier, und die Regierung in Dublin, die jegliche Reinstallation der Grenze zwischen Nordirland und der Republik im Süden kategorisch ablehnt, haben die Max-Fac-Träumereien der Brexiteers als "magisches Denken" abgetan. Dies würde erklären, warum Beamte in Belfast heimlich Pläne für Grenz- und Zollkontrollen an den nordirischen Flug- und Seehäfen ausarbeiten (worüber der Guardian am 5. Mai exklusiv berichtete). Doch für May ist eine solche Option politisch nicht durchsetzbar. Die probritische, protestantische Democratic Unionist Party (DUP), deren zehn Unterhausabgeordnete Mays Minderheitsregierung am Leben halten, lehnt eine Verlegung der künftigen Zollgrenze an die Irische See als inakzeptable Aufweichung der Bindung Nordirlands an Großbritannien kategorisch ab. Für May stellt eine als "Zollpartnerschaft" verpackte Zollunion den Ausweg aus diesem Dilemma dar, würde sie doch die nicht lösbare irische Grenzproblematik überflüssig machen.

Die harten Brexiteers, allen voran Außenminister Boris Johnson und Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, der sich aristokratisch gebende Anführer der 60 Abgeordnete starken EU-feindlichen European Research Group, machen May derzeit das Leben zur Hölle. Johnson, der ehemalige Bürgermeister von London, der stets den jovialen Klassenclown spielt, hat über Mays "Zollpartnerschaft" das Urteil verkündet, eine solche Regelung würde das Vereinigte Königreich "zu einer Kolonie der EU" machen. Hedgefond-Manager Mogg, der sich vom Brexit einen Reibach verspricht, hat die "Zollpartnerschaft" als "vollkommen schwachsinnig" bezeichnet, denn sie würde es dem Vereinigten Königreich praktisch unmöglich machen, eigene Handelsverträge mit Drittstaaten auszuhandeln. Seit zwei Jahren tanzen Johnson, Mogg, Handelsminister Liam Fox und Umweltminister Michael Gove May auf der Nase herum. Die Premierministerin hat die Brexiteers bisher aus Angst vor einem innerparteilichen Putsch gewähren lassen - wie es Margaret Thatcher 1990 erleben mußte - und/oder einer Spaltung der Tories. Doch ein Machtwort in Sachen Brexit und des künftigen Verhältnisses des Vereinigten Königreichs zur EU entweder von May oder vom Parlament läßt sich kaum mehr aufschieben. Die Stunde der Entscheidung, die auf den innerparteilichen Zusammenhalt der Tories massive Auswirkungen haben dürfte, rückt immer näher.

11. Mai 2018


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