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PARTEIEN/369: Brexit - in trockenen Tüchern und überall naß ... (SB)


Brexit - in trockenen Tüchern und überall naß ...


Am 13. November sollte Premierministerin Theresa May ihrem Kabinett den Entwurf eines Abkommens mit Brüssel über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union vorlegen. Nach der Absegnung durch die Regierung in London sollten eine Woche später auf einem Sondergipfel in Brüssel alle EU-Regierungschefs dem Vertragswerk zustimmen, damit es rechtzeitig vor dem offiziellen Austrittsdatum am 29. März 2019 von den 28 Parlamenten ratifiziert werden kann. Doch aus dem engen Zeitplan wird nichts. In Mays Kabinett sowie im Parlament zu Westminster wächst der Widerstand gegen die geplante Zollunion EU-UK, während die Unterhändler in Brüssel weiterhin über die letzten Details feilschen, insbesondere über den besten Weg, wie die Verhängung eines Grenzkontrollregimes zwischen der Republik Irland und Nordirland vermieden werden könnte. Politisch herrscht an der Themse das reinste Durcheinander.

Wegen der unsicheren wirtschaftlichen Aussichten zeichnet sich bereits jetzt eine Abwanderungswelle ausländischer Unternehmen ab, wie die am 6. November bekanntgegebene Entscheidung des deutschen Autozulieferbetriebs Schaeffler zur Schließung zweier Fabriken mit dem Verlust von 570 gutbezahlten Arbeitsplätzen in den strukturarmen Regionen Plymouth und Llanelli zeigt. Die Schaeffler-Leitung hat den aufsehenerregenden Entschluß mit dem Umstand der drohenden Zollprozeduren sowie der absehbaren, nicht hinnehmbaren zeitlichen Verzögerungen in den Produktionsketten begründet. Schließlich werden nur 15 Prozent der von Schaeffler in England und Wales hergestellten Komponenten in Fahrzeuge eingebaut, die am Ende auf der Insel von Band laufen. Der allergrößte Teil - 85 Prozent - wird zwecks Montage an die verschiedensten Autofabriken auf dem europäischen Festland ausgeliefert.

Am 9. November hat May erneut ein Kabinettsmitglied wegen ihres Kurses bei den Brexit-Verhandlungen verloren. Diesmal war es Transportminister Jo Johnson, Bruder des im Juli zurückgetretenen Außenministers Boris Johnson. Im Gegensatz zu seinem älteren Bruder trat Jo Johnson bei der Volksabstimmung 2016 für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ein. Seitdem kämpft er innerhalb der regierenden konservativen Partei für die engstmöglichen Beziehungen zur EU und setzt sich energisch gegen das irrige Streben der euroskeptischen Brexiteers nach einem harten Bruch, um das "Empire 2.0" auferstehen zu lassen, zur Wehr. Ironischerweise kommen beide Johnsons jedoch in der aktuellen Situation zum selben Schluß. Beim Versuch, einen Brexit mit Brüssel zu vereinbaren, der einerseits die Brexiteers in den eigenen Reihen zufriedenstellt, andererseits von den restlichen EU-27 akzeptiert wird, hat sich May in eine völlige Sackgasse manövriert, aus der niemand einen Ausweg erkennen kann. In seiner Rücktrittserklärung beschwerte sich Jo Johnson, der Kurs Mays stelle die Briten vor der Wahl zwischen "Vasallentum" oder "Chaos", und schloß sich öffentlich der wachsenden Gruppe von Personen an, die ein zweites Referendum fordern.

Um eine feste Grenze in Irland zu vermeiden, hat May im vergangenen Dezember mit Brüssel den sogenannten "Backstop" vereinbart, der bedeutet, daß Nordirland so lange in Binnenmarkt und Zollunion bleibt, bis Großbritannien eine Lösung für die Frage der Kontrollen von Personen, Waren und Tiertransporten findet. Weil es jedoch absehbar keine technologische Antwort auf diese schwierigen logistischen Herausforderungen geben wird, sollen sich Mays Unterhändler in Brüssel, ihr Sonderberater Olly Robbins und Brexit-Minister Dominic Raab, mit dem EU-Sondergesandten Michel Barnier über den Verbleib des gesamten Vereinigten Königreichs in der Zollunion über die vorgesehene Übergangsphase, die am 31. Dezember 2020 endet, hinaus verständigt haben - oder stünden zumindest kurz davor.

Gegen dieses Szenario, das die hochfliegenden Pläne der Brexiteers durchkreuzt, nach dem EU-Austritt Freihandelsabkommen mit den USA, Kanada, Australien, Neuseeland und den aufstrebenden Wirtschaftsmächten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas abzuschließen, laufen nun die britischen Chauvinisten Sturm. In der Ausgabe des reaktionären Daily Telegraph vom 12. November hat Boris Johnson die ehemaligen Kabinettskollegen zur "Meuterei" gegen May aufgerufen, der er die "völlige Kapitulation" vor Brüssel vorwarf. Drei Tage zuvor hatte Arlene Foster, Chefin der protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) Nordirlands, deren zehn Unterhausabgeordnete Mays Regierung am Leben erhalten, in derselben Zeitung der Tory-Vorsitzenden vorgeworfen, ihr Plan würde das Vereinigte Königreich an die EU "anketten" und den Schlüssel für das Schloß in die Hände von Brüssel geben.

Der besondere Stein des Anstoßes für Foster - wie im etwas geringeren Ausmaß für Boris Johnson - war das Zugeständnis Mays an die EU, der "Backstop" für Nordirland könne nicht einseitig, also von London allein, sondern nur gemeinsam mit Brüssel und damit natürlich mit Dublin aufgekündigt werden. Der Einwand Fosters straft der Behauptung, bei den Brexit-Verhandlungen ginge es der DUP ausschließlich darum, die "kostbare Union" zwischen Nordirland und Großbritannien zu schützen, Lügen. Schließlich erfüllt Mays vorläufiger Entwurf einer Zollunion EU-UK genau diesen Zweck. Mit jedem Tag der laufenden Krise wird immer deutlicher, daß die DUP die Meinung der Mehrheit der Menschen in Nordirland, die vor zwei Jahren gegen den Brexit gestimmt haben, nicht im geringsten interessiert und daß sie dem rechten Flügel der Tories zum Sieg im Brexit-Streit verhelfen will, um die wachsende Annäherung zwischen Nord- und Südirland zu torpedieren und die sich abzeichnende politische Wiedervereinigung der Insel zumindest mittelfristig zu hintergehen.

Den jüngsten Meldungen zufolge sind die Unterhändler in Brüssel inzwischen an einem toten Punkt angelangt. Die EU-Seite verlangt schriftliche Verpflichtungen, daß das Vereinigte Königreich künftig die europäischen Regeln in den Bereichen Arbeitsrecht, Umweltschutz, soziale Standards einhält. Die britische Seite kann sich hierzu nicht durchringen, denn eine solche Übereinstimmung machte Brexit und das damit einhergehende Versprechen auf Zurückerlangung der "Kontrolle" über das nationale Schicksal absolut sinnlos. Angesichts Mays vertrackter Lage sieht sich die oppositionelle Labour-Partei im Aufwind. Obwohl im Vergleich zu den Tories EU-freundlicher, wollen die britischen Sozialdemokraten den Brexit-Deal, sollte er jemals das Parlament erreichen, zu Fall bringen, die May-Regierung diskreditieren und Neuwahlen erzwingen, um dann anschließend mit Brüssel eine vernünftige Partnerschaft zu beschließen, die durch gemeinsame Interessen und nicht durch post-imperialistische Nostalgie geprägt ist. Labours Schattenaußenminister Keir Starmer hat am 12. November erneut die Möglichkeit einer zweiten Volksabstimmung ins Spiel gebracht. Wie die Labour-Partei ihr alternatives Brexit-Rezept in Anbetracht des immer näher rückenden Austrittsdatums verwirklichen will, muß sich erst noch zeigen.

12. November 2018


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