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PARTEIEN/385: Brexit - Wahrheiten und Mehrheiten ... (SB)


Brexit - Wahrheiten und Mehrheiten ...


Im Kampf um den Vorsitz der konservativen Partei Großbritanniens scheinen die beiden Kontrahenten jedes Augenmaß verloren zu haben. Bei der Umwerbung der rund 160.000 meist wohlhabenden, älteren, männlichen und englischen Tory-Wähler waren haltlose Versprechen vom notorischen Lügner und Populisten Boris Johnson ohnehin zu erwarten, von seinem Rivalen, dem stets gesetzt, eher langweilig wirkenden Jeremy Hunt dagegen nicht. Doch inzwischen äfft der amtierende britische Außenminister seinem berühmt-berüchtigten Amtsvorgänger nach, droht ebenfalls mit dem ungeordneten Austritt aus der EU zum 31. Oktober und verspricht auch leichtfertig Steuererleichterungen und staatliche Ausgabenerhöhungen, die ähnlich denen von Johnson laut Finanzminister Philip Hammond niemals zu finanzieren wären.

Hatte sich Johnson bereits vor Wochen zum "No-Deal-Brexit" zu Halloween bekannt - "komme es, was wolle" -, erklärte Hunt am 30. Juni im BBC-Fernsehinterview mutig, er werde in Falle keiner Einigung mit Brüssel als Premierminister den Inhabern der vielen britischen Familienunternehmen, die wegen des Wegbrechens bzw. erschwerten Zugangs zum EU-Binnenmarkt vermutlich untergehen werden, erklären, die Zerstörung ihres Lebensunterhalts diene einer höheren Sache, eines unabhängigen "global Britain". Kein Wunder, daß am darauffolgenden Tag Kirsty Blackman, finanzpolitische Sprecherin der Scottish National Party im Londoner Unterhaus, Johnson und Hunt als die "Thelma und Louise des Brexits" bezeichnete. "Es übersteigt jede Vorstellungskraft, daß die beiden Herrn bereit sind, die Volksökonomie des Vereinigten Königreichs über die Brexit-Felskante zu fahren, ungeachtet der katastrophalen Folgen für die Wirtschaft und die Arbeitsplätze der einfachen Menschen", so die SNP-Abgeordnete.

Doch bis zum 31. Oktober kann eine Menge passieren. Alle Beobachter gehen davon aus, daß Johnson, der haushohe Favorit, nach der Auszählung der per Briefwahl abgegebenen Stimmen der Tory-Mitglieder, die zwischen dem 6. und 8. Juli durchgeführt wird, bei der offiziellen Verkündung des Endergebnisses am 22. Juli zum neuen Tory-Chef erklärt wird. Ob er gleich am nächsten Tag, nach der vorgesehenen Fahrt Theresa Mays zum Buckingham Palace, um Königin Elizabeth II formell ihr Rücktrittsgesuch zu übergeben, Premierminister wird, steht nicht fest - und zwar wegen des Umstands, daß die Tories derzeit eine Minderheitsregierung führen und im Unterhaus trotz der Unterstützung von zehn Abgeordneten der protestantisch-probritischen Democratic Unionist Party (DUP) lediglich über einen Stimmenvorsprung von lediglich vier Sitzen - 323 zu 319 - verfügen.

Seit Wochen finden überparteiliche Gespräche statt, wie die Opposition, bestehend aus Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grünen und schottischen Nationalisten, zusammen mit EU-freundlichen Abweichlern aus den Reihen der Tories, den drohenden No-Deal-Brexit stoppen kann. Bereits jetzt haben Ex-Finanzminister Kenneth Clarke und Ex-Justizminister Dominic Grieve ihre Bereitschaft verkündet, den Gang in den ungeordneten EU-Austritt zu vereiteln, selbst wenn ihnen dies die Verbannung aus der konservativen Partei einbringen sollte. Weitere Abtrünnige, darunter Noch-Finanzminister Hammond, haben den Übertritt in die Opposition signalisiert, um den Kamikaze-Kurs Johnsons (ggf. Hunts, wenn auch unwahrscheinlich) doch noch verhindern zu können.

Laut Parlamentsregeln könnte die von Jeremy Corbyn angeführte Labour Party, welche die größte oppositionelle Fraktion im Unterhaus bildet, noch am 24. Juli, einen Tag vor den parlamentarischen Sommerferien, einen Mißtrauensantrag auf die Tagesordnung setzen. Verlöre Johnson die Abstimmung, stünden Neuwahlen im September automatisch an. Doch möglicherweise wird es nicht einmal dazu kommen. Wie die beiden Verfassungsexperten, Professor Robert Hazell und Professorin Meg Russell vom University College London (UCL), am 30. Juni in der Sonntagszeitung Observer erläutert haben, könnte sich die Königin dagegen entscheiden, Mays Rücktritt anzunehmen, Johnson zum Premierminister zu ernennen und diesen mit der Bildung einer neuen Regierung zu beauftragen, sollte Ende Juli offensichtlich sein, daß der frischgebackene Tory-Chef über keine Mehrheit im Unterhaus verfügt. Laut Hazell und Russell ergeben sich dann zwei mögliche Szenarien: Erstens, die Königin macht Johnson lediglich zum Geschäftsführenden Regierungschef und verlangt von ihm, ein Mißtrauensvotum durchzuführen, von dessen Ausgang sein Verbleib im Amt abhängt; oder zweitens, sie beläßt May - ebenfalls geschäftsführend - im Amt, bis entweder eine stabile Regierungsmehrheit steht oder Neuwahlen ausgeschrieben und durchgeführt wurden.

Für die Überlegung in den Kreisen britischer Verfassungsgelehrter, Johnson ob seiner schwindenden Unterstützung seitens der eigenen Tory- Hinterbänkler nicht mit der Regierungsgewalt zu beauftragen, gibt es einen sehr guten Grund. In den letzten Wochen hat der ehemalige Bürgermeister von London offen mit der Idee gespielt, das Parlament nach der Sommerpause "zu vertagen", das heißt nicht zusammenkommen zu lassen, damit die Brexit-Gegner im Unter- und Oberhaus den ungeordneten EU-Austritt, der nach der von London und Brüssel gemeinsam beschlossenen Verschiebung im Frühjahr um Mitternacht am 31. Oktober nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags erfolgen muß, nicht blockieren können. Für solch einen ungeheuerlichen Eingriff in die parlamentarischen Verläufe wäre die Zustimmung der Königin erforderlich. Doch ob Elizabeth Windsor für ein solches Hasardeurspiel zu haben wäre, ist zweifelhaft. Der letzte englische Monarch, der das Parlament zu London "vertagte", war Karl I. im Jahre 1646. Drei Jahre später wurde dieser nach der Niederlage seiner Royalisten im Bürgerkrieg gegen die Puritaner Oliver Cromwells enthauptet.

3. Juli 2019


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