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PARTEIEN/390: Brexit - Fristverlängerung verbessert die Folgen nicht ... (SB)


Brexit - Fristverlängerung verbessert die Folgen nicht ...


Im Vereinigten Königreich kommt bei Politik und Medien Wahlfieber auf, nachdem am 28. Oktober Brüssel doch eine weitere Verschiebung des offiziellen Austrittsdatums von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union bewilligt hat. Anfang Dezember sollen nun Wahlen zum Londoner Unterhaus stattfinden. Ob diese jedoch mehr Klarheit in die Brexit-Angelegenheit bringen, ist zweifelhaft. Brexit ist längst zu einer Art Vorhölle geworden, aus der es für die armen Briten keinen Ausweg zu geben scheint. Oder um es mit dem Musiker und politischen Satiriker Frank Zappa zu sagen: "The torture never stops" ("Die Folter hört niemals auf.").

Nachdem am 19. Oktober eine Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus ein Gesetz verabschiedete, das eine rasche Verabschiedung des von Boris Johnson zwei Tage zuvor mit Brüssel vereinbarten Deal verhinderte, war der Premierminister, der seit einer Rebellion eines Teils der eigenen Hinterbänkler im September über keinerlei Mehrheit - auch nicht mit der nordirisch-protestantischen Democratic Unionist Party (DUP) - verfügt, gezwungen, die EU um eine Verschiebung des Austrittsdatums zu bitten. Johnson tat dies demonstrativ widerwillig, denn er hatte sich nach der Amtsübernahme von Theresa May im Sommer als Macher, der den Ausstieg aus der Europäischen Union bis zum 31. Oktober über die Bühne bringen werde, "koste es, was es wolle", präsentiert. Lieber würde er "tot in einem Graben liegen", als jenes Versprechen nicht einzuhalten, so die drastische Formulierung des Ex-Journalisten und Churchill-Biographen.

Die EU-27 haben sich schwer mit der schriftlichen Bitte des britischen Parlaments getan, nicht zuletzt weil sich der Premierminister in einem Begleitbrief davon distanzierte. Des Fiaskos überdrüssig hatte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bis zuletzt dafür stark gemacht, daß die EU keinen Aufschub um drei Monate, sondern lediglich um zwei Wochen gewähren sollte, damit das Parlament in London gerade genug Zeit bekommt, um den Johnson-Deal zu debattieren und zu ratifizieren - und damit unter der leidigen Geschichte endlich einen Schlußstrich zu ziehen (schließlich war es Johnson letzte Woche gelungen, in erster Lesung seinen Deal durch das Unterhaus zu bringen). In Paris fürchtet man zu Recht, eine noch weitergehende Fristverlängerung werde den innenpolitischen Streit in Großbritannien nur noch anfeuern und komplizierter machen.

Auch weil Johnson wegen der Weigerungshaltung der größten oppositionellen Partei, den Sozialdemokraten, die nötigen Stimmen, die er bräuchte, um vorzeitige Neuwahlen anzuberaumen, fehlen, machte sich Macron Sorgen, eine dreimonatige Fristverlängerung wäre sinnlos. Erst als sich die Liberaldemokraten und die schottischen Nationalisten bereiterklärten, in den nächsten Tagen zusammen mit der konservativen Regierung und den Tory-Rebellen für ein Gesetz zu stimmen, das Neuwahlen Anfang Dezember ermöglichte, gab Paris sein Veto gegen die Fristverlängerung auf. Doch ob aus diesen Wahlen eine eindeutige Mehrheit für oder gegen Brexit hervorgeht und sich ein Fortschritt in die eine oder andere Richtung manifestiert, daran darf man seine Zweifel haben.

Nach Angaben der Expertengruppe British Election Study ist die Wählerlandschaft in Großbritannien "so volatil, wie seit Jahrzehnten nicht mehr". Dies gilt vor allem für England, wo die traditionelle Wählerschaft sowohl bei den Tories als auch bei der sozialdemokratischen Labour-Partei in der Brexit-Frage gespalten ist. Bei der Conservative Party haben nach dem Sturz Mays die Brexiteer-Ultras mit Johnson an der Spitze das Ruder übernommen. Deswegen haben im September 21 EU-freundliche Tory-Hinterbänkler die Fraktion verlassen und wurden deshalb mit dem Rauswurf aus der eigenen Partei bestraft. Mit einem harten Kurs in der EU-Frage will Johnson die gefährliche Konkurrenz der Brexit Party um Nigel Farage matt setzen und gleichzeitig die vielen Wähler, die in den bisherigen Labour-Hochburgen in Nordengland und Wales bei der Volksabstimmung für den Austritt votierten, für sich gewinnen. Gerade die Anti-EU-Stimmung in den Regionen, die in den letzten vierzig Jahren am meisten unter dem Abbau der Schwerindustrien wie Bergwerk, Stahlproduktion und Schiffsbau gelitten haben, erklärt, warum sich die Labour-Führung um Oppositionsführer Jeremy Corbyn so schwer tut, eine eindeutige Position in der Brexit-Frage zu beziehen.

Was eine Prognose zudem schwierig macht, ist das britische Wahlrecht. In Großbritannien gibt es keine Verhältniswahl, sondern jeder einzelne der 650 Wahlbezirke wählt seinen Abgeordneten bzw. seine Abgeordnete nach dem Prinzip der Mehrheitswahl direkt. Wer aus einer Kandidatenriege von im Schnitt zehn Personen die meisten Stimmen erhält - und sei es nur 20 oder 30 Prozent - ist der neue Member of Parliament (MP). Wegen dieses Umstands war die politische Lage in Großbritannien früher recht übersichtlich. Die meisten Sitze in England und Wales befanden sich traditionell entweder in den Händen von Labour oder den Tories. Zum ernsthaften Wahlkampf kam es alle vier oder fünf Jahre lediglich dort, wo keine eindeutige Mehrheit in die eine oder andere Richtung vorlag. Die Sozialdemokraten und die Konservativen hatten jeweils einen Sockel von rund 200 Sitzen, um die sie sich nicht zu kümmern brauchten. Seit Brexit gelten diese Verhältnisse nicht mehr.

Labour muß befürchten, im Norden und in der Mitte Englands Sitze an die Brexit Party bzw. an Johnsons Tories zu verlieren. Die Liberaldemokraten hoffen wiederum in den wohlhabenden Sitzen Südenglands im Speckgürtel von London, die einst zu den Konservativen tendierten und deren Bevölkerungen eher EU-freundlich eingestellt sind, Erfolge zu erzielen. Werden die Wähler, die Farages Brexit Party bei der EU-Wahl im Mai zur größten Fraktion im Parlament von Straßburg machten, Johnsons Einsatz für den schnellen Brexit honorieren oder ihn doch noch als Versager bestrafen? Niemand weiß es. Fest steht lediglich, daß in den mehrheitlich katholischen Bezirken Nordirlands die nationalistische Sinn Féin und in den mehrheitlich protestantischen die DUP den Sieg davon tragen werden und daß in Schottland die SNP haushoch gewinnen wird. Letzterer Umstand dürfte die Spannungen um den Erhalt des Vereinigten Königreichs weiter verschärfen. Die Schotten votierten 2016 bekanntlich mit Zweidrittelmehrheit für den Verbleib in der EU und lehnen den Brexit deshalb kategorisch ab. Umfragen zufolge wären die meisten Wähler in England, die damals für den Brexit stimmten, bereit, die Unabhängigkeit Schottlands als Preis für den eigenen Austritt aus der EU zu bezahlen. Dazu könnte es noch kommen.

28. Oktober 2019


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