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PARTEIEN/408: Brexit kappt Euronabel Irland ... (SB)


Brexit kappt Euronabel Irland ...


100 Jahre nach der Unabhängigkeit von 26 der insgesamt 32 irischen Grafschaften vom benachbarten Vereinigten Königreich rückt die von den allermeisten Iren ersehnte Überwindung der Teilung der grünen Insel - "Partition" - in greifbare Nähe. Wichtigster Beschleuniger des Zusammenwachsens, was zusammen gehört - um Willy Brandts berühmte Aussage zur deutschen Wiedervereinigung zu paraphrasieren - sind die ungeheuren Nachwirkungen der Entscheidung einer ganz knappen Mehrheit der britischen Wähler im Juni 2016 für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Der sogenannte Brexit hat Großbritannien und mit ihm Nordirland in eine schwere politische Krise gestürzt, die bis heute anhält, ohne dass ein Ende in Sicht wäre. Vor diesem Hintergrund kommt die in einem am 20. Januar veröffentlichten Bericht des britischen Oberhauses, des House of Lords, enthaltene Warnung vor einem "britischen Nationalismus anglozentrischer Färbung", der die Union aus England, Schottland, Wales und Nordirland zu sprengen drohe, viel zu spät. Das Erdbeben hat längst stattgefunden und die "tektonischen Platten sind in Bewegung", wie bereits 2018 der damalige irische Premierminister Leo Varadkar folgerichtig feststellte.

Großbritanniens selbstgewählte Abnabelung von der EU-Zollunion hat der britischen Wirtschaft schwere Schäden zugefügt, wenngleich diese bis heute zum Teil durch die Folgen der Covid-Pandemie verdeckt werden. Manche Experten sprechen von einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um die vier Prozent. Viele kleine Betriebe, insbesondere im Lebensmittelsektor, haben durch die neuen Zollregeln und die damit zu erfüllenden Formalien ihre Märkte in der EU verloren. Fast alle großen Finanzunternehmen in der Londoner City haben Teile ihrer Operationen nach Amsterdam, Paris oder Dublin verlagert, um weiterhin problemlos im EU-Binnenmarkt agieren zu können. 2021 klagten weltweit zahlreiche Konzerne über covid-bedingte Lieferschwierigkeiten und Unterbrechungen der Produktionsketten. Doch in Großbritannien machte sich dieses Phänomen besonders gravierend bemerkbar. Das hatte mehrere Gründe.

Erstens hat die mit dem Brexit angewachsene Fremdenfeindlichkeit in England Tausende osteuropäische Lastwagenfahrer zur Rückkehr in ihre Heimat veranlasst. Zweitens hat der Anfang 2021 erfolgte Austritt Großbritanniens aus dem EU-Binnenmarkt dazu geführt, dass immer weniger europäische Lkw-Fahrer bereit sind, den Ärmelkanal zu überqueren, da sie zu Recht befürchten, wegen der aufwendigen Zollabfertigung in Dover - sei es bei der Ein- oder der Ausreise oder bei beidem - tagelang im Stau zu stecken. Tatsächlich zeichnet sich seit Monaten der M20 Motorway vor Dover durch eine Lkw-Dauerschlange von rund 20 Kilometer Länge aus. Aus Rücksicht auf der Regierung in London weigert sich die nationale Presse in Großbritannien - bis auf die linksliberale Byline Times - diesen skandalösen Umstand zu thematisieren.


26 Grafschaften der Republik Irland in den Farben der Trikolore und sechs in Nordirland in denjenigen des Union Jack - Foto: PavelD, Public domain, via Wikimedia Commons

Völkerrechtliche Aufteilung der Insel Irland zwischen der Irischen Republik im Süden und dem zum Vereinigten Königreich mit Großbritannien gehörenden Nordirland im Nordosten
Foto: PavelD, Public domain, via Wikimedia Commons

Drittens machen immer mehr irische Speditionsunternehmen, die Handel mit der EU treiben, einen großen Bogen um Großbritannien. Die "land bridge" zwischen Liverpool und Holyhead an der Irischen See und Dover und Felixstowe am Ärmelkanal wird zunehmend von irischen Brummifahrern gemieden. Bürokratische Hindernisse und organisatorisches Chaos haben die frühere Zeit- und Kostenersparnis des Landwegs von Irland über England und Wales nach Frankreich, Belgien und Holland zunichte gemacht. Deswegen ist gerade in den letzten beiden Jahren die Zahl der Fähr- und Containerschiffverbindungen zwischen der Republik Irland und anderen EU-Staaten exponentiell gestiegen.

Während früher nur dreimal die Woche eine Fähre zwischen dem südostirischen Rosslare und Le Havre bzw. Cherbourg verkehrte, legen heute von Rosslare und der Hauptstadt Dublin täglich Fährschiffe nach den beiden genannten westfranzösischen Häfen sowie dem nördlicher gelegenen Dünkirchen, dem belgischen Zeebrugge und dem niederländischen Rotterdam ab. Die Kosten sind zwar etwas höher und der Transport übers Meer dauert etwas länger als früher auf dem britischen Landweg - durchschnittlich etwas mehr als 20 Stunden statt rund 10 Stunden - doch dafür sind die irischen Fahrer bei der Ankunft auf dem Kontinent nach einer Nacht in einer gemütlichen Schiffskabine ausgeruht und dürfen deshalb bis zur nächsten vorgeschriebenen Ruhezeit weit längere Strecken zurücklegen. Den Nachteil müssen die britischen Verbraucher hinnehmen. Irische Lkw-Fahrer, die früher bei der Durchquerung von England und Wales häufig nebenbei Auslieferungen für britische Spediteure erledigten, stehen nun nicht mehr dafür zur Verfügung. Dies hat den aktuellen Mangel an Lkw-Fahrern in Großbritannien zusätzlich verschärft.

Die gravierenden negativen Folgen, welche man in Irland infolge des Brexits für die eigene Wirtschaft befürchtet hat, sind bislang nicht eingetreten. Das muss man als Erfolg der irischen Diplomatie bezeichnen, die ab 2016 unter der Leitung von Außenminister Simon Coveney bei den EU-Partnern konsequent um Solidarität gegenüber London geworben hat, um eine Neuerrichtung von Grenzanlagen und die Wiedereinführung von Zollkontrollen zwischen der Republik Irland und Nordirland zu verhindern. Die früheren Anlagen der britischen Armee und Zollbehörde entlang der Grenzlinie zwischen Derry und Dundalk waren im Zuge des Karfreitagsabkommens, mit dem man 1998 den dreißigjährigen Bürgerkrieg in Nordirland beenden konnte, demontiert worden. In der gesamten Grenzregion, die auf nördlicher Seite mehrheitlich von Nationalisten bewohnt ist, will niemand eine sichtbare Grenze wiederhaben.

Ganz anders sieht es bei der Democratic Unionist Party (DUP), der größten protestantischen Partei Nordirlands, aus. Sie hat sich als einzige etablierte Partei des Vereinigten Königreichs an die Seite von Nigel Farages Rechtsextremistenverein United Kingdom Independence Party (UKIP) gestellt und geschlossen und offen für den Brexit geworben. Dabei hat die DUP sogar Spenden in sechsstelliger Höhe aus dunklen Kanälen für die Brexit-Werbung ausgegeben, ohne dass dies rechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte. In Nordirland selbst hat damals bei der Abstimmung eine Mehrheit der Bürger - praktisch alle katholischen Nationalisten und eine Minderheit der unionistischen Protestanten - gegen den EU-Austritt votiert. Nur in Schottland lag das Nein zum Brexit mit einem Zweidrittelanteil höher.


Auf der Brexitkarte dominiert in England und Wales das Blau für Ja, in Schottland das Gelb für Nein. In Nordirland überwiegt gelb, aber blau ist auch zu sehen. - Foto: Mirrorme22 Nilfanion: English and Scottish council areas TUBS: Welsh council areas Sting: Gibraltar, CCBY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Stimmenverteilung nach Wahlkreisen im UK lässt die Ablehnung des EU-Austritts in Schottland und weiten Teilen Nordirlands bei der Volksbefragung 2016 deutlich erkennen
Foto: Mirrorme22 Nilfanion: English and Scottish council areas TUBS: Welsh council areas Sting: Gibraltar, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Dessen ungeachtet hat die DUP ab 2016 diejenigen Kräfte bei den regierenden Konservativen in London unterstützt, die unter dem irreführenden Namen European Research Group (ERG) den Verbleib in Zollunion und Binnenmarkt mit der EU, den sogenannten weichen Brexit, ablehnten und den radikalsten Bruch mit der Europäischen Union forderten. Während die harten Brexiteers diesen Kurs bis heute verfolgen, um aus Großbritannien eine neofeudale Steueroase für Schwerreiche mit niedrigen Standards in den Bereichen Arbeits-, Tier- und Umweltschutz sowie Soziales zu schaffen, erhofften sich die reaktionären DUP-Fundamentalisten vom EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ein Ende der Angleichung der Lebensverhältnisse und des kulturellen Austausches zwischen Nordirland und dem Rest der Insel, wie sie sich seit 1998 entfalten. Nur so glaubten die "demokratischen" Unionisten, die sich angesichts der langsamen Zunahme der katholischen Bevölkerung zur Mehrheit in Nordirland abzeichnende Wiedervereinigung Irlands stoppen zu können. Bei der letzten Volkszählung 2011 stellten die Protestanten 48 Prozent der nordirischen Bevölkerung von eineinhalb Millionen Menschen und die Katholiken 45 Prozent. Die Ergebnisse der Volkszählung von 2021 sollen im Juni veröffentlicht werden, wobei allseits erstmals mit einer katholischen und damit nationalistischen Mehrheit gerechnet wird.

Doch für die politischen Erben des Parteigründers und einstigen Radikalpredigers Ian Paisley hat sich der Großeinsatz in Sachen Brexit als absolutes Eigentor erwiesen. Ihre durchsichtige Allianz mit den Tory-Europhoben und dazu die ständige Missachtung der gälischen Sprache durch die DUP hat Nordirlands Nationalisten in Scharen von der gemäßigten Social Democratic Labour Party (SDLP) zu der streng nationalistischen Sinn Féin, dem früheren politischen Arm der Irisch-Republikanischen Armee (IRA), getrieben. Mehrere Versuche der damaligen britischen Premierministerin Theresa May, eine Regelung zu finden, die Großbritannien und Nordirland gemeinsam in Zollunion und Binnenmarkt mit der EU belassen hätte, hat die DUP - auf deren zehn Abgeordnete im britischen Unterhaus sich die Tory-Minderheitsregierung ab Frühjahr 2017 stützte - torpediert und damit Ex-Außenminister Boris Johnson im Sommer 2019 den Weg in die Downing Street Nr.10 geebnet. Welch blaues Wunder musste die DUP-Führungsriege um die nordirische Premierministerin Arlene Foster dann erleben, als im Oktober 2019 der berüchtigte Schürzenjäger Johnson seine zahlreichen Treueschwüre gegenüber seinen nordirischen Nibelungen gänzlich vergaß und mit Dublin und Brüssel eine Kompromisslösung vereinbarte, die Großbritannien zur großen Freude der ERG endlich aus Zollunion und Binnenmarkt herauslöste, dafür aber Nordirland drinnen ließ.

Als Johnson mit diesem Kompromiss als Weg zur raschen Brexit-Umsetzung die Unterhauswahlen im Dezember 2019 haushoch gewann und eine neue Regierung bildete, die durch eine satte Mehrheit von 80 Sitzen gestützt wurde, sah sich die DUP düpiert. Alle Versuche, Johnson von der geplanten Zollgrenze in der Irischen See - genau das Gegenteil dessen, was sich die DUP vom Brexit versprochen hatte - abzubringen, fruchteten nicht. Anfang 2020 vereinbarte London mit Brüssel das Withdrawal Agreement samt Nordirland-Protokoll, das die Einführung von stichprobenartigen Warenkontrollen an den nordirischen Flug- und vor allem Seehäfen vorsieht. Beide Kammern des britischen Parlaments segneten das internationale Abkommen ab. Im Januar 2021, nach Ende der einjährigen Übergangsfrist, trat es endlich in Kraft.

Anfangs hörte die DUP auf die Stimmen aus der nordirischen Wirtschaft, die den Verbleib der sechs zum Vereinigten Königreich gehörenden irischen Grafschaften in Zollunion und Binnenmarkt mit der EU als strategischen Vorteil geltend machten, und schlug entsprechend gemäßigte Töne an. Als sich jedoch im Februar 2021 in demoskopischen Umfragen bei der protestantischen Bevölkerung ein Sturzflug der Zustimmungsrate für die Democratic Unionists abzeichnete, geriet die Parteiführung in Panik. Mittels ihrer Kontrolle über die Kommunalpolitik in der Grafschaft Antrim fabulierten einige DUP-Politiker von einer terroristischen Bedrohung am Hafen von Larne, der neben Belfast die wichtigste Fährverbindung nach Schottland darstellt. Vor allem EU-Zollbeamte sollten durch loyalistische Paramilitärs in Gefahr sein, so die DUP. Gleichzeitig schürten die Demokratischen Unionisten eine Angstkampagne nach dem Motto, das Nordirland-Protokoll bedrohe die Union mit Großbritannien, ruiniere die nordirische Wirtschaft - was nachweislich nicht stimmt -, benachteilige die protestantische Bevölkerung und verstoße damit gegen die wichtigsten Prinzipien des auf Ausgleich und Ausgewogenheit setzenden Karfreitagsabkommens. Doch mit dem Versuch, das Protokoll gerichtlich zu kippen, ist die DUP kläglich gescheitert, denn die Entscheidung zur dessen Einführung hatte das britische Parlament in London verfügt, womit sie gesetzlich unanfechtbar war.


Veränderungen bei der Sitzverteilung verdeutlichen die verstärkte Polarisierung zwischen Sinn Féin und DUP - Foto: Nickshanks, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Vormarsch Sinn Féins bei Aufteilung der Sitze in Nordirland seit 1997
Foto: Nickshanks, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Angesichts der Sackgasse, in die sich die DUP selbst manövriert hatte, verfiel sie in hektischen Aktionismus. Im April 2021 führte die DUP-Stimmungsmache zu tagelangen gewalttätigen Ausschreitungen in protestantischen Teilen von Belfast sowie in anderen loyalistischen Hochburgen wie Carrickfergus. Parallel dazu zogen der mächtige antikatholische Oranierorden und der Dachverband der loyalistischen Paramilitärs aus Protest gegen das Northern Ireland Protocol (NIP) ihre Unterstützung für das Karfreitagsabkommen zurück. Im Mai 2021 wurde die DUP-Vorsitzende Foster von parteiinternen Gegnern um den Kreationisten Edwin Poots weggeputscht. Nur drei Wochen später wurde Poots selbst von dem angeblich gemäßigteren, weil sich moderner gebenden Jeffrey Donaldson gestürzt. Im Herbst 2021 setzte Donaldson die Teilhabe seiner Partei an den halbjährlich stattfindenden Konsultationen des allirischen Nord-Süd-Rats - eine Institution, die aus dem Karfreitagsabkommen hervorgeht - aus und nannte die Abschaffung des NIP als Bedingung für eine Rückkehr.

Bei der DUP geht die nackte Angst um, bei den nächsten Wahlen zur nordirischen Regionalversammlung, die am 5. Mai stattfinden sollen, ihre Position als stärkste protestantische Partei an die Ulster Unionist Party zu verlieren, deren neuer Chef Doug Beattie sich vor allem in den sozialen Medien als Mensch präsentiert, der ehrlich die konfessionellen Grabenkämpfe zu überwinden versucht und für einen respektvollen Dialog mit jedem - auch mit Einwanderern anderer Religion oder Hautfarbe - zu haben ist. Dazu könnte es durchaus kommen, denn die DUP verliert aktuell sowohl moderate Wähler an Beattys UUP und die konfessionsungebundene Alliance Party als auch reaktionäre Wähler an die erzkonservative Traditional Ulster Voice (TUV) um Jim Allister.

Überdies droht der DUP am 5. Mai ein weiteres, noch schlimmeres Untergangsszenario. Allen Umfragen der letzten zwei Jahre zufolge dürfte Sinn Féin als stärkste politische Kraft Nordirlands aus den kommenden Assembly Elections hervorgehen. Damit hätte erstmals jene Partei, die am lautesten die Wiedervereinigung mit der Republik Irland propagiert, den Anspruch auf den Posten des nordirischen Premierministers. Für eingefleischte Anhänger der Union ist eine solche Entwicklung inakzeptabel. Deswegen vermuteten viele politische Beobachter hinter den jüngsten Drohungen von Jeffrey Donaldson, aus Protest gegen das Nordirland-Protokoll und die neue Seegrenze die Zusammenarbeit der DUP in der Belfaster Regionalregierung mit Sinn Féin und den anderen Parteien noch vor dem Ende der eigentlichen Legislaturperiode aufzukündigen, den Versuch, eine erneute Direktverwaltung Nordirlands aus London herbeizuführen, um Sinn Féin um den großen Wahlsieg im Mai zu bringen und eine demokratisch erfolgte Übernahme der nordirischen Regierung durch die einstige IRA-Schwesterorganisation zu vereiteln.

Inwieweit die Johnson-Regierung bereit ist, beim durchsichtigen Spiel der DUP mitzumachen, lässt sich nicht eindeutig sagen. Fest steht jedoch, dass Johnson und andere führende Tories in letzter Zeit nicht müde werden, die Bedeutung des Zusammenhalts des Vereinigten Königreichs und die Unverzichtbarkeit Nordirlands darin rhetorisch zu betonen. 2021 sprach sich Jacob Rees-Mogg, Mitglied im Johnson-Kabinett und führender Brexiteer, sogar öffentlich gegen die bislang neutrale Position Londons in der Frage der Wiedervereinigung Irlands aus, womit er sich vom Karfreitagsabkommen distanzierte. Großbritannien habe sehr wohl "eigene strategische Interessen" in Nordirland, so Rees-Mogg - eine Formulierung, die früheren Zusagen Londons im Rahmen des Friedensprozesses diametral widerspricht und folglich bei der Regierung in Dublin sämtliche Alarmglocken ausgelöst haben dürfte.


Johnson und Coveney machen freundliche Mienen zum diplomatischen Spiel - Foto: Foreign and Commonwealth Office, CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0], via Wikimedia Commons

Theresa Mays damaliger Außenminister und späterer Nachfolger als Premierminister Boris Johnson beim Treffen mit dem irischen Amtskollegen Simon Coveney im Jahre 2017
Foto: Foreign and Commonwealth Office, CC BY 2.0 [https://creativecommons.org/licenses/by/2.0], via Wikimedia Commons

In der irischen Hauptstadt dürfte der Umstand nicht übersehen worden sein, dass die britische Außenministerin Liz Truss bei ihrem ersten Besuch in Nordirland am 27. Januar als Londons neue offizielle Gesprächspartnerin der EU nicht mit den Vertretern der wichtigsten politischen Parteien - die DUP natürlich ausgenommen - oder der Wirtschaft zusammengekommen ist. Statt dessen haben sich Truss, die derzeit als potentielle Nachfolgerin des skandalgeplagten Johnson gehandelt wird, und der britische Nordirlandminister Brandon Lewis ohne Pressebegleitung an die berüchtigte Shankill Road begeben, um sich dort hinter verschlossenen Türen mit Mervyn Gibson, dem Chef des Oranierordens, und führenden loyalistischen Paramilitärs zu beraten. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt.

Ungeachtet dessen läuft in der irischen Republik die Diskussion um die Wiedervereinigung mit Nordirland auf Hochtouren. In den letzten zwei Jahren haben mit Jim O'Callaghan und Neale Richmond jeweils ein Abgeordneter von Fianna Fáil und Fine Gael, traditionell die beiden stärksten Parteien Irlands, eigene Entwürfe für einen neuen föderativen Staat aller 32 Grafschaften samt Verfassung vorgelegt. 2021 veranstaltete der staatliche irische Rundfunksender RTÉ in einer Fernsehpremiere eine große Diskussionsrunde zum Thema der Möglichkeiten zur Überwindung der Teilung. Die wichtigsten Teilnehmer der Sendung waren Mary Lou McDonald, Sinn-Féin-Vorsitzende und damit Fraktionsführerin der größten Oppositionspartei im Dubliner Parlament, Vizepremierminister Leo Varadkar von Fine Gael und Premierminister/Taoiseach Mícheál Martin von Fianna Fáil.

Auch in der Republik Irland befindet sich Sinn Féin Umfragen zufolge auf dem Vormarsch und dürfte spätestens 2025 in Dublin die Regierung stellen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Fine Gael und Fianna Fáil, seit 2020 erstmals gemeinsam in einer Großen Koalition mit den Grünen, als unfähig erwiesen haben, der Wohnungsnot, der Misere im Gesundheitssystem und der zunehmenden Schere zwischen Arm und Reich wirksam etwas entgegenzusetzen. Dessen ungeachtet hat die irische Volkswirtschaft die Covid-Krise einigermaßen gut überstanden. Nicht zuletzt aufgrund sprudelnder Steuereinnahmen seitens der in Irland tätigen US-Großkonzerne wie Pfizer, Google, Facebook und Intel sieht die fiskalische Position Dublins gar nicht so schlecht aus. Gleichzeitig haben die mit dem Brexit einhergehenden Handelshemmnisse zwischen Irland sowohl im Norden als auch im Süden und Großbritannien zu einem merklichen Anstieg des inneririschen Warenaustausches geführt.

Die in der Nacht zum 3. Februar doch noch wahrgemachte Drohung des nordirischen Agrarministers und DUP-Politikers Edwin Poots, eigenhändig die Zollkontrollen für landwirtschaftliche Güter an den Häfen Larne und Belfast auszusetzen, eskalierte den laufenden Brexit-Streit zwischen London und Brüssel erheblich, zumal sie am Nachmittag vom Rücktritt des nordirischen Premierministers, Paul Givan, ebenfalls von der DUP, begleitet wurde. Zur Begründung der dramatischen Schritte erklärte Jeffrey Donaldson auf einer extra dafür einberufenen Pressekonferenz, er habe Truss und EU-Unterhändler Maros Sefcovic bereits vor Weihnachten erklärt, dass es zu einer Änderung oder Abschaffung des NIP bis Ende Januar kommen müsse, doch nichts sei geschehen. "Genug ist genug", die Geduld der DUP-Basis sei erschöpft, so Donaldson.

Mit Entsetzen reagierten die anderen politischen Parteien in Nordirland wie auch Irlands Außenminister Coveney auf den großen Gestus der Unzufriedenheit seitens der DUP, der bedeutet, dass auch die nordirische Vizepremierministerin Michelle O'Neill zwangsläufig ihr Amt verliert und es künftig niemanden gibt, der oder die eine Kabinettssitzung einberufen und dabei den Vorsitz übernehmen kann. Damit tritt abermals politischer Stillstand in Nordirland ein, weshalb noch am selben Nachmittag die Sinn-Féin-Präsidentin McDonald rasche Neuwahlen gefordert hat - bereits für den März, statt wie geplant am 5. Mai. Währenddessen berichtete die BBC direkt aus dem Belfaster Hafen, dass dort die Kontrolle des Handels mit Lebensmitteln und Vieh nach wie vor stattfinde. Das veranlasste Jamie Bryson, Publizist mit eindeutiger Nähe zum UVF und zur UDA, dazu, per Twitter zu lamentieren, "nationalistische Staatsbeamte" hätten durch ihre Weigerung, die Anordnung des eigenen Vorgesetzten, DUP-Minister Poots, zu befolgen, einen "Staatsstreich" durchgeführt. Solche hetzerischen Beschuldigungen haben bekanntlich in der Vergangenheit unschuldige Menschen in Nordirland das Leben gekostet. Am 4. Februar ließ der High Court in Belfast eine Klage gegen Poots' Anordnung zu und unterband damit bis auf weiteres eine Ausführung der Weisung.

In London nahm man vom Polittheater der DUP in Belfast wenig Notiz, weil am selben 3. Februar an der Themse der Premierminister sichtlich ins Straucheln geraten war. Wegen der Partygate-Affäre sowie Johnsons perfider Verleumdung des sozialdemokratischen Oppositionsführers Keir Starmer mittels des unzutreffenden Vorwurfs, er habe es als Leiter der britischen Anklagebehörde 2009 versäumt, dem Medienprominenten und mehrfachen Sexualstraftäter Jimmy Saville das Handwerk zu legen, traten Chefberaterin Munira Mirza, Stabschef Dan Rosenfeld, Privatsekretär Martin Reynolds und Kommunikationsdirektor Jack Doyle von ihren Posten in der Downing Street zurück. Inzwischen mehrt sich die Anzahl der konservativen Unterhausabgeordneten, die Johnson wegen seiner offensichtlichen Inkompetenz und Unaufrichtigkeit offen zum Rücktritt aufgefordert haben. Sobald 54 von ihnen - derzeit gibt es 359 Tory-Abgeordnete im 650sitzigen Unterhaus - gegenüber dem Vorsitzenden des konservativen 1922 Committee schriftlich ihrem Parteichef das Vertrauen entziehen, muss eine formelle Kampfabstimmung um die Fraktionsführung durchgeführt werden. Derzeit sieht es nicht danach aus, dass Boris Johnson den Skandal um mindestens zwölf Privatfeten in der Downing Street, während sich 2020 und 2021 ganz Großbritannien im Covid-Lockdown befand, politisch überleben könnte. Während sich Finanzminister Rishi Sunak demonstrativ von ihm distanziert hat, gab die CIA-nahe New York Times mit einem Videointerview auf ihrer Website dem britischen Komiker Tom Walker die Gelegenheit, Johnson vor einem weltweiten Publikum als notorischen Lügner und Schwindler zu verulken.

Dies erklärt vermutlich, warum Jeffrey Donaldson beim Radiointerview mit BBC Northern Ireland am 4. Februar auf den "Boris raus!"-Zug aufgesprungen ist. Gegenüber BBC-Moderator Stephen Nolan erklärte Donaldson, er habe keine andere Wahl gehabt, als dem Parteikollegen und Premierminister Givan den Befehl zum Rückzug aus der interkonfessionellen Regionalexekutive mit Sinn Féin, UUP, SDLP und Alliance zu erteilen, denn Ende Januar habe ihm Johnson eröffnet, dass Londons Chancen, mit der EU noch irgendeine nennenswerte Veränderung des Nordirland-Protokolls auszuhandeln, lediglich "zwischen 20 und 30 Prozent" lägen. Donaldson warf dem amtierenden britischen Regierungschef Versagen vor und erklärte, wenn sich Johnson gegenüber Brüssel nicht durchsetzen könne, solle er seinen Platz für jemanden räumen, der es kann.

Bezeichnenderweise weigerte sich Donaldson trotz mehrfachen Nachfragens des BBC-Moderators, die Bereitschaft der DUP zur Teilhabe an einer neuen nordirischen Regierung zu erklären, sollte Sinn Féin als stärkste Partei aus der kommenden Wahl hervorgehen und Anspruch auf den Posten des nordirischen Premierministers erheben. Statt dessen flüchtete sich der Abgeordnete für den Bezirk Lagan Valley in die Aussage, die DUP werde sich solange nicht mehr an der interkonfessionellen Regierung in Belfast beteiligen, bis das NIP gründlich revidiert worden sei. Inwieweit eine solch kategorische Position die protestantischen Wähler veranlasst, demnächst auf dem Wahlzettel ihr Kreuz neben die DUP zu setzen, muss sich noch zeigen. Unabhängig davon, ob die DUP ihre Position als stärkste protestantischen Kraft in Nordirland gegenüber UUP und TUV verteidigen kann oder nicht, steht eines fest: Ihre mangelnde Kompromissbereitschaft in der Brexit-Frage hat dem historischen Trend in Richtung einer irischen Wiedervereinigung enormen Auftrieb verliehen.


Luftaufnahme eines Frachtschiffs in der Dubliner Bucht mit der Halbinsel Howth im Hintergrund - Foto: Niels Johannes, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

Eines der vielen Frachtschiffe, die derzeit in der Dubliner Bucht verkehren
Foto: Niels Johannes, CC BY-SA 4.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0], via Wikimedia Commons

7. Februar 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


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