Schattenblick →INFOPOOL →EUROPOOL → REPORT

BERICHT/003: "Freiheit statt Angst" - Datenschutzaktivismus auf europäischer Bühne (SB)


"Tag des Protestes" am 17. September 2011 in Brüssel

'1984 war nicht als Gebrauchsanweisung gedacht' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Legendäre Dystopie aus Sicht der Nachgeborenen
Foto: © 2011 by Schattenblick

Am Wochenende des 17. bis 19. September 2011 hat das Aktionsbündnis "Freiheit statt Angst" [1] in Brüssel den Schritt auf die internationale Bühne getan. Rund 100 Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Ländern vor allem Europas gaben dem Anliegen, unter dem Motto "Freedom Not Fear" für Privatsphäre und Datenschutz als unveräußerliche Menschenrechte einzutreten, Gesicht und Stimme. Das drei Tage währende, gut vorbereitete Treffen stand in der Tradition der seit 2006 jährlich in der Bundesrepublik stattfindenden Demonstrationen "Freiheit statt Angst", die von einem Bündnis zahlreicher Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, Parteien, Berufsverbänden und anderen Akteuren der Zivilgesellschaft getragen werden. Dementsprechend ist auch das Aktionsbündnis als eine lose, im Grundsatz herrschaftsfreie und demokratische Übereinkunft von Initiativen, Vereinen und besorgten wie bemühten Einzelpersonen auf umfassende Weise vernetzt [2]. Insgesamt repräsentiert es eine Koalition von über 150 Organisationen, die für die gemeinsamen Ziele Meinungs- und Redefreiheit in der digitalisierten Gesellschaft, freies und unzensiertes Internet, Privatsphäre und Datenschutz ohne Überwachung - kurz für "Freiheit statt Angst" - einstehen.

Entsprechend vielfältig waren sowohl die Teilnehmer als auch die Agenda. Der erste Tag stand unter dem Motto "Saturday - day of protest" ("Samstag - Tag des Protestes"), der zweite ganz im Sinne der Verbundenheit, "Sunday - day of networking" ("Sonntag - Tag des Netzwerkens") und der dritte für politische Arbeit, "Monday - day of discussion" ("Montag - Tag der Diskussion").

Noch leerer Platz - Foto: © 2011 by Schattenblick

Place Luxembourg vor dem Europäischen Parlament
Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Wochenende nahm mit einer internationalen Demonstration durch Brüssel seinen Anfang. Sie startete mit einer Kundgebung und mehreren Reden auf dem Place du Luxembourg vor dem Europäischen Parlament. Dort hatte sich zu Veranstaltungsbeginn um 13:30 bereits eine bunte Menge von Aktivistinnen und Aktivisten versammelt, die teils in normaler Kleidung, teils in phantasievollen Kostümen erschienen waren.

Aufmarsch zur Kundgebung - Foto: © 2011 by Schattenblick

Aktivistinnen und Aktivisten sammeln sich
Foto: © 2011 by Schattenblick

So sammelten sich geheimnisvolle Gestalten in Theatermasken und obligatorischen Guy Fawkes (Anonymous) Antlitzen neben grell geschminkten und mit selbst gebastelten Überwachungskameras und vielfältigen Transparenten "bewaffneten" Personen um den Veranstaltungswagen, auf dem ein großes Sound System montiert war. Ein Aktivist hatte sich sogar in eine überlebensgroße Überwachungskamera verwandelt, unter welcher es offenbar sehr warm wurde, die aber unerbitterlich bis zum Ende des Tages geschleppt wurde - stumm, wohlgemerkt, denn das zeichnet ja Überwachungstechnologie aus, dass man nicht wisse, wer am anderen Ende sitze.

Michael Ebeling vom AK Vorrat - Foto: © 2011 by Schattenblick

Organisator Michael Ebeling
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der Organisator Michael Ebeling vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung führte durch die Kundgebung und moderierte das Geschehen. Zu Beginn erwähnte er, dass es einige organisatorische Probleme gäbe. Die Polizei habe sich an gewisse Absprachen nicht gehalten, sie stünden aber in Verhandlungen und daher sei er bester Dinge, dass der Tag dennoch erfolgreich verlaufen werde.

Rede Alexander Sander  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Alexander Sander gegen Weitergabe von Fluggastdaten an Drittstaaten
Foto: © 2011 by Schattenblick

Als erster Redner betrat Alexander Sander, der Gründer von NoPNR, die Bühne, die aus einem erhöhten Stück Park auf dem Place Luxembourg bestand. NoPNR ist eine Aktionsgruppe, die sich gegen die wahllose Speicherung von Fluggastdaten und deren bedenkenlose Weitergabe an Drittländer, also z.B. die USA, Kanada oder Australien, stellt. Alexander ist Mitarbeiter von Martin Ehrenhauser, einem fraktionslosen Mitglied des Europäischen Parlaments, der ebenfalls NoPNR unterstützt [3] und sich zum Beispiel gegen Nacktscanner ausspricht. In seiner kurzen und eindringlichen Rede zeigte Alexander, worum es ihm bei NoPNR geht: Man wolle verhindern, dass die Fluggastdaten für 15 Jahre in den USA gespeichert werden, wo niemand wisse, was damit gemacht wird und wer darauf Zugriff hat. Man stelle sich gegen die Pläne der EU, alle Bewegungen festzuhalten. Damit sei Profiling und Überwachung möglich, und außerdem könne man durch Data Mining, also das Zusammenführen und Neuverknüpfen vorhandener Daten, unbescholtene Personen als Verdächtige einstufen, nur weil sie sich ungewöhnlich verhalten. Das sei ein Vorgehen ohne Verdacht und Richter und somit ein fundamentaler Angriff auf die Privatsphäre. Es gehe NoPNR darum, dass jeder ein Recht auf Privatsphäre und auf seine eigenen Daten hat; nur auf diese Weise sei Freiheit möglich.

Rede Miek Wijnberg - Foto: © 2011 by Schattenblick

Miek Wijnberg will Menschen nicht auf Daten reduziert wissen
Foto: © 2011 by Schattenblick

Als nächstes kam Miek Wijnberg von der niederländischen Organisation Vrijbit [4] zu Wort. Vrijbit setzt sich für Menschenrechte ein und thematisiert in besonderer Weise Überwachungstechnologien wie z.B. den biometrischen Ausweis oder die auch in den Niederlanden entufernde öffentliche wie private Videoüberwachung. In einer zurückhaltenden und doch sehr berührenden Rede drückte Miek zunächst ihre Wut gegenüber dem wachsenden Missbrauch von Überwachungsdaten seitens der Regierung aus. Alles würde registriert, wo man sich gerade aufhält und wo man gewesen ist, 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche. Die Behörden wüssten, wen man kontaktiert, woher man seine Informationen bezieht, wieviel Geld man ausgibt, wofür man seine Energie verwende, welche Ideen man verfolgt. Dabei würde das Maß des Normalen immer enger gefasst, und jede Abweichung von dieser Norm erwecke Verdacht. Die Regierung sei für diese Maßnahmen verantwortlich und diene sich damit der Überwachungs- und Verteidigungsindustrie an, die dieses Klima der Angst für ihre eigenen kommerziellen Zwecke benötige. Dabei würden alle Bürgerrechte grob verletzt.

Am Schlimmsten jedoch sei, dass die meisten Menschen keine Ahnung davon hätten, was heute schon möglich sei. Im Ergebnis dieser voluntaristischen Praxis kollabiere das Rechtssystem, da jeder Mensch zum potenziellen Risiko werde. Ein Neugeborenes, führte Miek an, sei plötzlich kein Anlaß zur Freude mehr, sondern eine potenzielle Gefahrenquelle. Diese Art zu denken bringe eine Totalität der Kontrolle über den Einzelnen hervor, die es in dieser Form noch nicht gab. Zwar habe man nichts zu verbergen, man wolle aber nicht, dass jeder alles über jeden weiß. Es sei ein Grundrecht, verborgen zu leben; Privatsphäre sei kein Verbrechen. Die Vrijbit wolle keine anonymen Systeme, die Daten erheben und überwachen. Die Bürger sollten wissen, was mit ihren Daten gemacht wird und warum. Datenschutz alleine reiche jedoch nicht aus, um effektiv Bürgerrechte zu verteidigen. Daher gehe es darum, sich zu verbünden, um mehr Einfluss auf die Regierungen zu nehmen. Brüssel sei ein guter Ort, um damit zu beginnen, appellierte Miek an die Zuhörerinnen und Zuhörer, die wie kein Mensch auf bloße Daten reduziert werden sollten.

Rede Charles Farrier - Foto: © 2011 by Schattenblick

Charles Farrier protestiert gegen Überwachung des öffentlichen Raums
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der nächste Redner war Charles Farrier, der Mitbegründer der englischen Organisation NO-CCTV [5]. Sie ist inzwischen in mehreren Ländern, unter anderem Australien, aktiv und leistet Widerstand gegen die ausufernde Videoüberwachung im öffentlichen Raum und deren systematischen Missbrauch durch Polizei und Justiz. In keinem anderen Land der Erde werden Bürger so systematisch überwacht wie in Britannien, und das ohne erkennbaren Erfolg bei der Verbrechensbekämpfung. Charles spricht sich gegen die Übertragung dieser nutzlosen Prinzipien auf andere Länder aus und warnt eindringlich vor einem EU-Überwachungssuperstaat. In seiner sehr persönlichen Rede sagte er, dass Regulationen allein nicht ausreichten, um Rechte zu verteidigen. Dadurch würde nur noch mehr Überwachung geschaffen und Technologie, die die Menschen einengt. Der einzige Ausweg bestehe in Restriktionen. Im Jahre 2008 habe die EU ein Papier gezeichnet, das Videoüberwachung als Waffe gegen den internationalen Terrorismus in Anschlag brächte. Dies sei als Richtlinie an die einzelnen Regierungen gegangen, in "voller nationaler Souveränität" Videoüberwachung einzuführen, um ihre Bürger zu "schützen". Das Problem sei nur, dass dabei nicht auf die tatsächlich messbaren Effekte und schon gar nicht auf die negativen Auswirkungen eingegangen werde.

Als tragisches Beispiel für missbrauchte öffentliche Überwachung führte Charles die Bombenattentate am 7. Juli 2005 in England an. Die Polizei gab Überwachungsbilder von vier Verdächtigen heraus und musste später eingestehen, dass ihr Profiling Unschuldige ins Visier der Überwachung nahm. In der Folge dieser tragischen Verkettung wurde der brasilianische Student Jean Charles de Menezes von der Polizei erschossen. Alle Studien, die NO-CCTV vorlägen, zeigten, dass die Videoüberwachung des öffentlichen Raums nicht funktioniere, weder Kriminalität bekämpft, noch mehr Verbrechen aufgeklärt würden. Sie gleiche vielmehr einem modernen Theater und diene der Irreführung von Menschen, die glauben, dass etwas getan werde. Ins gleiche Schema passen auch Nacktscanner, die mit anonymisierten Bildern vorgaukelten, dass ihr Einsatz harmlos sei. Dabei sei statistisch gesehen der gefährlichste Teil jeder Flugreise immer noch die Taxifahrt zum Flughafen.

Der wahre Grund für diese Maßnahmen liege in der Erziehung der Bevölkerung zu maß- und gedankenlosem Gehorsam gegenüber einem technokratischen System. Es werde den Menschen mantraartig eingetrichtert, dass es nichts zu verstecken und somit auch nichts zu befürchten gäbe. Charles hat das wirklichkeitsgetreu so formuliert: "Wir halten uns an das Recht und hoffen, dass das auch die Regierung und die Beamten tun. Wenn dann alles schön auf dem neuesten technischen Stand ist und alle Daten korrekt eingetragen sind und die Polizei richtig trainiert ist und die Systeme nicht gehackt sind und die Identitäten nicht gestohlen wurden und alles reibungslos funktioniert: dann VIELLEICHT hat man nichts zu befürchten."

Rede Maryse Artiguelong - Foto: © 2011 by Schattenblick

Für Maryse Artiguelong ist Datenschutz Menschenschutz
Foto: © 2011 by Schattenblick

Maryse Artiguelong tritt als Generalsekretärin der internationalen Menschenrechtsorganisation Association Européenne pour la défense des Droits de l´Homme (AEDH) [6] für ein demokratisches und offenes Europa der Menschenrechte ein, aufgebaut auf Freiheit, sozialer Gleichheit und nachhaltiger Wirtschaft und frei von jedweder Diskriminierung. Die AEDH besteht inzwischen aus 26 Organisationen in 24 Ländern, davon 19 aus der EU, und wurde im Jahre 2000 gegründet. Maryse kam nur für den Tag des Protestes, um in ihrer Rede auf das wichtige Thema der Privatsphäre und Datensicherheit aufmerksam zu machen und die internationale Aktion "Freedom Not Fear" zu unterstützen. Ihr geht es darum, dass Menschenrechte allumfassend verteidigt werden - nicht bloß die von Gefangenen und Bürgern gegenüber ungerechter Politik, sondern auch und vor allem das Recht auf Privatsphäre aller Menschen.

Gerade die persönlichen Freiheiten seien nach 9/11 unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Terrorismus immer weiter beschnitten worden. Die EU bewege sich durch diesen Sicherheitswahn auf einen Überwachungsstaat zu. Im Jahre 2006 sei die Direktive zur Vorratsdatenspeicherung, die es den Mitgliedsstaaten erlaubt, Telekommunikationsdaten zwischen sechs Monaten und zwei Jahren zu speichern, im Europäischen Parlament verabschiedet worden. Diese verstoße aber gegen die Direktive 95 des Parlaments, die wiederum Freiheit und Datenschutz ermöglichen soll; Freiheit werde systematisch durch Überwachung ausgetauscht. Die AEDH setzt sich für ein homogenes Regelwerk ein, das die Rechte der Menschen in allen EU-Staaten gleichermaßen sichere. Das gehe ausschließlich über stärkeren Datenschutz; Daten müssen nach der Verarbeitung gelöscht werden. Bürger müssen klar informiert werden, was mit ihren Daten passiert. Die Vorratsdatenspeicherung muss limitiert werden und die personenbezogenen Daten durch die Bürger kontrollierbar sein, damit die individuellen Rechte geschützt bleiben.

Maryse spricht sich insbesondere gegen die Speicherung von Bewegungsdaten aus. Persönliche Daten dürften nicht verlinkt und gespeichert werden, dazu sollten vor allem die Datenschutzbeauftragten gestärkt und wirklich unabhängig gemacht werden. Die Konvention 108 des Europarates zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten solle den Standard setzen; insbesondere jedoch dürften die Daten nicht an Drittländer weitergegeben werden. Die jetzigen Regularien hingegen enthielten den Bürgern jegliche Kontrolle darüber vor, was mit ihren Daten passiere. Ein Beispiel dieser intransparenten Praxis sei die Weitergabe von Fluggastdaten an die USA. All das müsse eingeschränkt werden. Die Mitgliedsstaaten der EU sprächen ständig über Sicherheit und Kampf gegen Terror, aber nie über Bürger- und Menschenrechte. Diese seien aber das zentrale Fundament Europas, so Maryse.

Rede Tobias  - Foto: © 2011 by Schattenblick

IT-Sicherheitsexperte Tobias weiß, wogegen er antritt
Foto: © 2011 by Schattenblick

Der letzte Redner auf dem Place Luxembourg war Tobias vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung [7]. Die bundesweite Aktionsgruppe von Bürgerrechtlern, Datenschützern, diversen Organisationen und Einzelpersonen stellt die größte Initiative gegen die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung dar und hat das Wochenende in Brüssel maßgeblich organisiert. Durch diverse Demonstrationen, zu der auch "Freiheit statt Angst" gehören, durch künstlerische Aktionen, Verfassungsbeschwerden und Petitionen, wie etwa die von Kai-Uwe-Steffens [8] gegen die Vorratsdatenspeicherung beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, macht der Arbeitskreis bundes-, europa- und weltweit auf die Datenschutzproblematik aufmerksam und versucht gesellschaftliche Entwicklungen für mehr Freiheit und Grundrechte anzustoßen. Tobias arbeitet als IT-Sicherheitsexperte, daher sprach er nicht "nur" als besorgter Bürger, sondern vor allem als Experte, der sich der weit aufklaffenden Sicherheitslücken der staatlichen und systemischen Kontrollmechanismen durchaus bewusst ist.

In einer emphatischen Rede stellte er folgende Punkte klar: die Kosten sind immens und die gesammelten Daten irrelevant, da sie gefälscht werden können und wenig Gebrauchswert haben. Die angestoßenen Maßnahmen seien zudem nicht sinnvoll, um Kriminalität zu bekämpfen, da sie mit einfachen Mitteln wie Hotspots, Prepaid-Karten, Hack-Angriffen und Anonymisierungswerkzeugen umgangen werden könnten. Zudem seien sie unproportional verteilt und hätten auf Kriminalität einen nur marginal positiven, auf die Menschenrechte jedoch stark negativen Effekt. Vor allem würden spezielle Gruppen wie Journalisten, Menschenrechtsaktivisten und Anwälte nicht ausreichend geschützt. Die Daten würden sinnlos benutzt und seien anfällig für Missbrauch, da sie ohne Fokus auf Person und Verdacht ganze Regionen erfassen und überwachen.

Nicht jeder Polizist sei integer, gab Tobias zu bedenken, es gäbe immer irgendwo "einen faulen Apfel". Kein Richter habe genügend Zeit, um bei der Fülle von Nachfragen jeden Fall vollständig zu erfassen. Sind die Daten erst einmal gewonnen, werden sie auch für andere Zwecke benutzt, die nichts mit der ursprünglichen Intention zu tun haben: Man könne zum Beispiel Kinder illegaler Downloads oder übler Beleidigungen bezichtigen. Zudem sei die Gruppe der zwischengeschalteten Personen und Instanzen unüberschaubar groß und entziehe sich damit jeder Form von Kontrolle. Das seien nicht nur die Provider, wo eine Vielzahl von Mitarbeitern auf die Daten zugreifen könne, sondern vor allem auch die Dienstleister, die, wie zu ergänzen wäre, oftmals in prekären Beschäftigungsverhältnissen weniger Skrupel haben, Daten zu missbrauchen, was z.B. diverse Skandale bei der Telekom belegen.

Die Daten seien technisch unsicher gelagert, da es keine standardisierten Sicherheitsprozesse gäbe. Zudem benutze die Regierung die Daten für alles mögliche, wie zum Beispiel für Gesetzesinitiativen. Noch ungewisser wäre, was die nächste Regierung mit den Daten machen werde. Korrupten und autoritären Administrationen sei damit eine Waffe gegen Minderheiten, Gewerkschaften, Journalisten und unbequeme Einzelpersonen an die Hand gegeben. Zwar gäbe es Länder, in denen es um die Bürgerrechte sehr viel schlechter bestellt sei als in der EU, dies sei aber kein Grund, die Rechte ihrer Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, konstatierte Tobias.

Banner gegen Vorratsdatenspeicherung - Foto: © 2011 by Schattenblick

Innenkommissarin Cecilia Malmström ist "Censilia 2.0"
Foto: © 2011 by Schattenblick

Nach den eindringlichen Beiträgen war genügend Kampfesmut und Gemeinschaftsgeist geweckt. Nun ging es quer durch das "europäische Viertel", entlang der Rue Belliard und vorbei am altehrwürdigen Parc Léopold mit seinem ehemaligen königlich-zoologischen Garten, in dem nun passend zu den einstigen Gitterkäfigen ihrer natürlichen Umgebung entrissener und zur Schau gestellter Tiere eine Wirtschaftsschule sowie diverse neoliberale Denkfabriken eingerichtet wurden, hin zur Rue de la Loi, der Straße des Gesetzes bei Schuman, direkt neben der Europäischen Kommission. Hier fand eine zweite Kundgebung statt.

Straßenszene mit Demonstrationszug - Foto: © 2011 by Schattenblick

Demonstrationszug noch auf breiter Straße
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Bühne stand auf einem geradezu friedlich anmutenden Platz zwischen zwei Straßen mit einer parkähnlichen Erweiterung, ein gelungener Kontrapunkt zur einschüchternden Kulisse des Epizentrums der europäischen Superadministration. Als erster sprach Rechtsanwalt Patrick Breyer, einer der Hauptakteure des AK Vorrat. In seiner ruhigen wie überzeugenden Rede merkte er an, die meisten Bürger glaubten, dass Politiker einen guten "Job" in Sachen Sicherheit machten. Doch würden dabei die Bürgerrechte oft in Mitleidenschaft gezogen. Als Beispiele nannte er die Einführung biometrischer Ausweise und die Übertragung von Fluggastdaten im Jahre 2004, das SWIFT-Abkommen des Jahres 2005, die Vorratsdatenspeicherung des Jahres 2006, den Austausch biometrischer Daten innerhalb der gesamten EU Im Jahre 2007, den Einsatz von Massen-Überwachungstechnologie im Jahre 2009 sowie die aktuellen Entwicklung in Bezug auf Fluggast- und Kontodaten.

Rede Patrick Breyer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Patrick Breyer streitet für die Zukunft seiner Kinder
Foto: © 2011 by Schattenblick

Patrick zufolge beinhalte der Anspruch auf Sicherheit immer auch Sicherheit vor einer Regierung. Wissenschaftliche Untersuchungen hätten ergeben, dass unter Polizei- und Überwachungsregimes wie in den USA, England oder China die Sicherheit der Bürger keineswegs zunehme. Daher dürfe die EU diese Konzepte nicht kopieren. Gerade die Kooperation mit Folter- und Überwachungsstaaten mache unser Leben unsicher. Dass unsere Daten bereits heute missbraucht werden und generell unsicher sind, belegte er anhand folgender Beispiele: Im Jahre 2003 wurden vertrauliche Daten von Mitarbeitern des Bundeskriminalamts verkauft. Im Jahre 2005 zeigte eine Studie des Bayerischen Datenschutzbeauftragten, dass immerhin 5% der Datenzugriffe der Polizei privaten Interessen dienten. Ironischerweise hätte 2006 ein Mitarbeiter eines Museums das private, angrenzende Wohnzimmer von Angela Merkel ein Jahr lang unbemerkt überwacht. 2007 hat ein Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes Emails des neuen Partners seiner geschiedenen Frau mit Staatsmitteln abgefangen. Im Jahre 2010 haben drei Polizisten für 10.000 Euro Informationen an die Hell's Angels verkauft.

Das Resumee ist für Patrick einfach wie einleuchtend: Sicherheitsagenturen schaffen mehr Risiken als Nutzen. Ein sichereres Leben sei nur möglich, wenn Bürger über mehr Freiheiten verfügten, damit würde die Gemeinschaft gestärkt. Die echten Herausforderungen an die Sicherheit seien heutzutage fehlende Arbeitsplätze, Kinderarmut, Hunger und Umweltschutz - nicht Kriminalität, die immer existiert hat. Das Risiko, Opfer eines Terrorattentats zu werden, sei bedeutend geringer, als in seiner eigenen Badewanne zu ertrinken. Man benötigte daher eine Polizei, die handelt, wenn man sie braucht, und einen ansonsten in Ruhe lässt. Diese Aspekte würden jedoch von der EU ignoriert. Echte Freiheit sei aber nur möglich, wenn man Unschuldige vor Ungerechtigkeit beschützen kann. Bürgerliche Freiheiten würden immer nur zu einem Prozent missbraucht, aber zu 99 Prozent zum Guten verwendet. Er träumt von einer Welt, in der er Leuten nicht heimlich helfen muss und man offen über Krankheiten sprechen kann. Dafür akzeptiere er gerne das verbleibende marginale Terrorrisiko, wenn er im Gegenzug vor Regierungszugriffen geschützt sei.

In einer solchen Welt könnte man in Länder des islamischen Kulturkreises reisen, ohne zugleich als potenzieller Terrorist verdächtigt zu werden. Mit den Kosten für die Fluggastdatenspeicherung könne man der Polizei eine vernünftige Ausrüstung verschaffen, so daß sie nicht mit ihren privaten Handies auf Streife gehen müsse, wie das in der BRD oft der Fall sei. Vorhandene Pläne sollten begraben und aktuelle Maßnahmen beendet werden. Das Geld solle statt dessen in soziale Projekte investiert werden. Dazu müsse man aber Parteien wählen, die eine neue Politik anstreben. Das primäre Ziel der Parlamente und Innenkommissare sollte die Freiheit des Individuums sein. Patrick will seinen Kindern sagen können: "Ich habe gekämpft und getan, was ich konnte, damit sie in einer freieren Welt aufwachsen können."

Maske auf Rückseite des Kopfes  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Labyrinth janusköpfiger Verhältnisse
Foto: © 2011 by Schattenblick

Katta, eine Hamburger Aktivistin des AK Vorrat, wollte mit ihrer eindringlichen Rede vor allem die negativen Aspekte der EU-Integration ins Bewusstsein rufen. Bürgerrechte würden massiv untergraben durch Vorratsdatenspeicherung, ACTA, Frontex, Schengener Informationssystem und viele weiteren EU-Maßnahmen und Einrichtungen. Einige seien durch Gesetze und andere durch Direktiven fest verankert worden und stünden ausschließlich im Interesse mächtiger Lobbyistengruppen. Sie hingegen hätte genau wie die meisten NGOs kein Geld für Lobbying. Eine zivile Bewegung innerhalb der EU anzustoßen könnte sich in letzter Konsequenz jedoch als sehr wirksam erweisen. Die fundamentalen Rechte von 500 Millionen Menschen ständen auf dem Spiel. Für Katta sind Menschen wichtiger als Daten. Sie seien soziale Geschöpfe und hätten als solche ein fundamentales Recht auf Informationen. Daher müsse ein Rahmenwerk für den Datenschutz geschaffen werden. Ohne das gäbe es keine Freiheit und somit auch keine Demokratie. Daher gehe es heute um nicht weniger als die Zukunft der Demokratie im digitalen Zeitalter.

Der Aktivist LJ aus den Niederlanden gehört keiner Organisation an und versteht sich als einer der vielen namenlosen Opfer der EU-Sicherheitspolitik. Wenn einem die eigene Regierung nicht traut, meint LJ, wie können wir dann der Regierung vertrauen? Die staatlichen Behörden könnten nicht für die Sicherheit der Daten der Bürger garantieren und sammelten sie dennoch, das sei ein Widerspruch in sich. Niemand müsse dem als Einzelperson ohnmächtig gegenüberstehen, wie erfolgreiche Kampagnen in den Niederlanden zeigten. Man könne sich zusammenschließen oder andere Gruppen unterstützen. Wer hingegen nichts tue, habe schon verloren.

Rede Marius - Foto: © 2011 by Schattenblick

Marius verweist auf grundlegende Widersprüche
Foto: © 2011 by Schattenblick

Marius, ein Aktivist des AK Vorrat und einer der Organisatoren des Wochenendes, gab zu bedenken, daß die Frage nach Angst oder Freiheit nur dem Anschein nach einfach sei. Viele unterschätzten die Mechanismen, die im Hintergrund wirkten, und die realen Machtverhältnisse, bei denen es immer um die Freiheit der Herrschenden und nicht die der Beherrschten ginge. Wie aber diese Mechanismen funktionieren, das hinterfrage kaum jemand. Es sei daher nicht genug, einfach neue Technologien abzulehnen, wenn die Voraussetzungen für deren Existenz unangetastet blieben. Speziell in der EU werde Freiheit als Freiheit des Kapitals und der Märkte verstanden, dabei insbesondere der Waffen- und Sicherheitsindustrie. Diese Instanzen hätten keine demokratische Legitimation.

Laut Marius gehe es nicht um die technologische Entwicklung, sondern die Überwachungslegitimation "Terror", durch die diese forciert würde. Viele EU-Projekte, wie zum Beispiel Frontex oder die polizeilichen und geheimdienstlichen Datenbanken, seien Produkte eben dieser sozio-ökonomischen Verknüpfungen und politischen Konditionen des Ausbeutungs- und Verwertungssystems innerhalb der EU. Diese hätten sich zur Aufgabe gemacht, das in permanenter Krise befindliche System zu stabilisieren und zu sichern, vornehmlich gegen seine eigenen Bürger. Das gälte es zu bedenken und kritisch zu evaluieren. Diese Entwicklungen seien zu demaskieren und anzusprechen, was aber nur gelänge, wenn man sich dessen bewusst sei, dass Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dieses Denken innewohnt. Daher sei sein Verständnis von Freiheit nur zu etablieren, wenn man die bestehenden Verhältnisse kritisch hinterfragt. Sicherheits- und Überwachungsstrukturen ließen sich nur aufheben, wenn man deren Kausalbegründung demaskiert, nämlich die Produktion von zunehmender Angst und Unsicherheit.

Als letzter Redner fasste Michael Ebeling noch einmal das Gesagte und die Wichtigkeit ihres Anliegens zusammen. In eindringlichen Worten machte er den Anwesenden klar, dass nur gemeinsames und hartnäckiges Vorgehen wirkliche Freiheiten garantierten. Wichtig dabei sei, dass man finanziell und organisatorisch unabhängig bleibe, das sei der Geist von Bürgerbewegungen und mache sie unkorrumpierbar. Ihm sei es ein Herzensanliegen und mehr als das, ginge es um das Wohl vieler Millionen Menschen, deren Bewusstsein sie erreichen müssen. Es gehe um Freiheit, die die Angst besiegen müsse.

Motorradpolizist hinter Demo - Foto: © 2011 by Schattenblick

Brauchen Polizisten Datenschutz?
Foto: © 2011 by Schattenblick

Nach diesen Reden führte der weitere Weg passenderweise entlang der Europäischen Kommission und der prächtigen Rue de la Loi, die in Belgien oft als Synonym für die Regierung verwendet wird, da sich an ihr wesentliche europäische und belgische Regierungsgebäude, inklusive das des Premierministers, befinden. Durch die Avenue des Arts mit dem großen Parc de Bruxelles und seinem königlichen Parktheater und der anliegenden US-amerikanischen Botschaft, vorbei am riesigen wie archaischen Königspalast mit der obligatorisch angebauten Kirche "Jacques sur Coudenberg" des Bistums und der Belgischen Streitkräfte auf dem Place royale de Bruxelles führte der Weg vorbei an dem malerischen Musikinstrumente-Museum, hinunter durch den Jardin du Mont de Arts bei der königlichen Bibliothek zur Place d'Albertine. Dort fand eine weitere spontane Kundgebung mit diversen Reden statt.

Straßenszene vor Gebäude der EU-Kommission - Foto: © 2011 by Schattenblick

EU-europäische Realität zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Foto: © 2011 by Schattenblick

Sylvester Heller, Mitglied des Bundesvorstandes der Österreichischen Piratenpartei, betrat als erster die improvisierte Bühne am Fuße des Platzes, auf deren Treppen sich die Aktivistinnen und Aktivisten niedergelassen hatten. Er dankte allen Anwesenden für die Ambition und Energie, die sie für die gemeinsame Sache zur Verfügung gestellt hätten, vor allen auch Alexander für die lokale Organisation und Einladung. Am Beispiel der Berliner Wahlen, die im Augenblick liefen, sehe man, dass Parteien, die ähnliche Ziele wie die Anwesenden verfolgten, mehr und mehr von der Öffentlichkeit unterstützt würden. Das solle alle bei der harten Arbeit motivieren, die jeder der Anwesenden investiere. Auch dankte er im Namen der internationalen Piratenbewegung allen Anwesenden für ihre Aktivität. Ein anderes Mitglied der Piratenpartei versuchte, den Unmut einiger Anwesender über die Piratenfahnen und die Gefahr einer einseitigen politischen Instrumentalisierung der Aktion zu beschwichtigen, indem er den politische Charakter der Demonstration bekräftigte.

Rede Katta - Foto: © 2011 by Schattenblick

Katta flankiert durch die belgische Staatsgewalt
Foto: © 2011 by Schattenblick

Nun trat Katta vom AK Vorrat erneut auf die Bühne. Heute sei es viel einfacher, sich über politische Dinge zu informieren und darüber im Bilde zu bleiben, was in der Welt vor sich gehe. Das sei über das Internet sehr leicht möglich. Daher sei es ein gutes Werkzeug für die Demokratie, könne sich gleich einer zweischneidigen Klinge jedoch auch gegen diese richten. Wenn Regierungen versuchten, das Internet zu reglementieren, hätten sie bereits den Boden der Demokratie verlassen. Katta betonte den produktiven Charakter der Zusammenarbeit von Aktivistinnen und Aktivisten aus verschiedenen Ländern und lobte das Engagement, das sie aufbrachten, um zu diesem Anlaß nach Brüssel zu kommen.

Nach diesen spontanen, von einem Megafon verstärkten Reden und einiger Wartezeit ging es dann zum Ende der Demonstrationsroute, der knapp hundert Meter entfernt liegenden Kirche "Marie Madeleine", wo der weltberühmte Antiquitäten-Straßenmarkt gerade in Auflösung begriffen war und man sich schweigend versammelte, noch einmal die Banner aufrichtete und den Nachhall einer gelungenen Demonstration, deftige belgische Spezialitäten und gute Gespräche genoss.

Letzter Versammlungsort - Foto: © 2011 by Schattenblick

Abschluß nach langem Tag
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Abklang ging es für einige Aktivisten in die Unterkünfte oder sogar nach Hause, der Großteil sammelte sich jedoch am Veranstaltungsort des Folgetags, dem "Mundo", im multikulturellen "afrikanischen Viertel" Matongé, dass nach der Unabhängigkeit des Kongo von Belgien regen Zulauf aus den ehemaligen Kolonien bekommen hat. Das "Mundo" [9] dient großen NGOs wie "Terre des Hommes", aber auch kleineren lokalen Initiativen als Büro-, Anlauf und Seminarzentrum. Dem emanzipatorischen Anliegen gemäß wurde das Zentrum den Aktivistinnen und Aktivisten des "Freiheit statt Angst"-Aktionsbündnisses kostenfrei zur Verfügung gestellt. In den hell und freundlich gestalteten Räumen waren die Aufregungen und Anstrengungen des Tages schnell vergessen, so daß Gelegenheit bestand, sich zu entspannen, auszutauschen und näher kennen zu lernen.

Brüssel-Panorama - Foto: © 2011 by Schattenblick

Wie ein Spaziergang in imperialer Kulisse ...
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im grellen Licht des Tages darf man nicht vergessen, den Blick auf den Schatten zu werfen. So hielt sich die Beteiligung an der Demonstration in engen Grenzen. Zwar hatten die Organisatoren des Aktionsbündnisses "Freiheit statt Angst" bereits im Vorfeld erklärt, daß die Brüsseler Veranstaltung mit der Großdemonstration in Berlin nichts gemeinsam haben werde, da man hier auf vollkommen unbekanntem Terrain operiere. Die Veranstaltung hat Aufmerksamkeit erzeugt, das ist ein wesentlicher Erfolg, dennoch bleibt die Frage, inwiefern Bewusstsein auf breiter Ebene geschaffen werden konnte und kann.

Der bunt zusammengewürfelte Haufen bestand in erster Linie aus Bürgerrechtlern, politischen Idealisten und IT-Sicherheitsexperten. Damit war, wenn auch eine sehr wache und für das Thema sensibilisierte, so doch keine repräsentative Bevölkerungsgruppe zugegen. Dementsprechend fielen die Gespräche mit Passanten, die gerne Flugblätter annahmen und mit großem Interesse auf die Botschaft der Demo reagierten, auf der Seite der Aktivistinnen und Aktivisten eher intellektuell aus. Wie relativ die Probleme staatlicher Repression in den Metropolengesellschaften der EU sein können, war den Gesprächen mit Migrantinnen und Migranten zu entnehmen, die darauf aufmerksam machten, dass es bei dieser Frage in ihren Herkunftsländern häufig um Leben und Tod gehe.

Im Dialog - Foto: © 2011 by Schattenblick

Guter Kontakt mit Passanten
Foto: © 2011 by Schattenblick

Zugegeben: die Datenschutzthematik wirkt dagegen etwas harmlos, ist jedoch die Eintrittspforte zu bedrohlicheren Zugriffsoptionen seitens der Herrschenden. Diese Dimension konnte jedoch kaum vermittelt werden. Statt dessen wurden Parolen wie: "Live good, live free - always use PGP" gerufen, also zu Verwendung einer Verschlüsselungssoftware aufgefordert, die vermutlich nur ein Promille der Bevölkerung kennt und ein noch viel geringerer Teil fehlerfrei bedienen kann. Auch ist "normalen Menschen" der Zugang zur Gemeinschaft der Aktivistinnen und Aktivisten erschwert, da dort mit Bits und Bytes operiert wird, IT-Fachwörter fließend in die Alltagssprache übergehen, freie Betriebssysteme wie Linux und Unix die Runde machen und teilweise statt Vornamen Internet-Pseudonyme verwendet werden, sprich: eine bunte wie exotische Parallelwelt gezeichnet wird, die auf manchen Interessierten vielleicht eher fremd denn ermutigend wirkt.

Zudem ist die Stärke der Vielfalt, ein Thema ohne Rücksicht auf politischen Hintergrund anzugehen, ihre Schwäche zugleich. Zwar sind sich alle Anwesenden darin einig, dass sie ihre persönliche Freiheit verteidigen und nicht überwacht werden wollen, dass sie gegen exekutive Maßnahmen sind, die sich in der Einschränkung von Freiheit und persönlichen Entfaltungsspielräumen manifestieren, aber ein gemeinsames Ziel, auf das sich alle fokussieren und unter dem sie wahrgenommen werden können, fehlte deutlich. Auf diese Weise bleibt "der große Bruder" das, was er für die meisten Passanten in den Darstellungen der Aktivisten geblieben ist: unsichtbar und unangreifbar.

Überwachungskamera - Foto: © 2011 by Schattenblick

Omnipräsente Überwachungstechnik auf der "Straße des Gesetzes"
Foto: © 2011 by Schattenblick

Es fehlten einfache Beispiele, an denen dem Einzelnen vor Augen geführt werden konnte, wie kleine Einschnitte der persönlichen Freiheit in große Einschränkungen für die Allgemeinheit münden und dabei nur wenigen zugute kommen. Dabei war die Kulisse dafür wie geschaffen: Brüssel, das schmutzige Zentrum und Hauptstadt Europas. Belgien, das Land der großen Klassenunterschiede. Eine künstlich geschaffene Nation, in der immer nur wenige durch grenznahen und internationalen Handel reich geworden sind, die meisten Menschen aber auf deutlich schlechterem Niveau als in Deutschland oder Frankreich jeden Tag aufs Neue von der Hand in den Mund leben müssen. In diesem Brüssel nun, wo Konzerne aufs lächerlichste steuerlich entlastet werden, Arbeiter viel weniger verdienen bei vergleichbarem Mietniveau, wo der Mittelstand ausgebeutet wird, wo 21,5% Mehrwertsteuer gezahlt werden, wo Lebensmittel um ein vielfaches teurer sind als in der BRD, wo man seine Arztrechnung immer erst bar bezahlt und sie Wochen später von der Versicherung anteilig erstattet bekommt, wo Schlaglöcher und kaputte Gehwege das Straßenbild in den Außenbezirken zeichnen, die Innenstadt aber im "europäischen Viertel" und um den Grand Place herum Dank EU- und Konzerngelder glänzen und funkeln und Entscheider wie Verführer in ein Märchenparadies entlocken, wo Menschen aufgrund ihrer Sprache oder Kultur Chancen verwehrt werden, obwohl sie Bürger des gleichen Landes sind, in dieser Hauptstadt eines Staates, der seit anderthalb Jahren keine Regierung hat und von daher das gelobte Land der US-amerikanischen Tea-Party-Bewegung sein müßte, dort wären die Menschen leichter zu erreichen gewesen, wenn man ihnen klar gemacht hätte, dass Verlust von Privatsphäre immer auch gleichbedeutend mit Sozialkontrolle und Mangelverwaltung ist.

Die angewendete Polizeitaktik ließ auf ihre Weise erahnen, womit man es bei dem Machtkomplex EU zu tun hat. Anderthalb Tage vor Beginn wurde dem Organisator Michael Ebeling plötzlich mitgeteilt, dass man nicht durch die Stadt ziehen, sondern nur auf dem ersten Treffpunkt, dem Place Luxembourg, demonstrieren dürfe. Die Polizei schickte ihm dazu ein PDF, welches nicht kopiert werden konnte und welches komplett auf Französisch formuliert war. Dadurch hatte Michael auch nicht die Möglichkeit, den Text in ein Übersetzungsprogramm einzuspeisen. Schließlich wurde die Route doch noch genehmigt. Dies müsse jedoch in enger Absprache mit der Polizei erfolgen - vorbehaltlich jederzeit möglicher Änderungen. Auf diese Weise wurde die gesamte Veranstaltung in Reaktion gebracht und erheblich in ihrer Autonomie beschnitten.

Polizisten geben Marschroute vor - Foto: © 2011 by Schattenblick

Diskrete Wegweiser
Foto: © 2011 by Schattenblick

Dass die wenigen den Protestzug begleitenden Beamten nur symbolischer Natur waren, ist schon aufgrund der Streckenführung, der hohen Kamera-und Polizeidichte dieses wichtigen administrativen Areals, der dem Zug ständig folgenden, angeblich leeren Mannschaftswagen, sowie diverser Polizisten auf Motorrädern und in Einsatzwagen erklärlich. Die zu Fuß gehenden Polizisten scheuten nicht davor zurück, körperlich aggressiv zu werden, anwesende Pressevertreter zu schubsen und in ihrer demokratischen Funktion zu ignorieren. Durch diese Vorgehensweise verlor die Demonstration sehr viel Zeit und Raum. Nach der zweiten Kundgebung war es nur noch erlaubt, auf den Bürgersteigen zu gehen. Außerdem musste der Lautsprecherwagen zurückgelassen werden. Obwohl sich die Aktivistinnen und Aktivisten davon nicht zurückschrecken ließen und die Transparente einfach parallel zum Bürgersteig trugen, verlor die Demonstration dadurch stark an Durchschlagskraft. Auf diese Weise waren die Protestler um jeden gewonnenen Meter dankbar und die Polizei hielt sich stets eine Zugriffsoption offen. 100 Meter vor dem Ende der Demonstration war dann plötzlich halt. Vermutlich wegen dem nahen Antiquitätenmarkt wollte die Polizei den Zug zunächst nicht zum Platz der abschließenden Kundgebung lassen. Nach zähen Verhandlungen, bei denen sich die Polizei drohend vor die Aktivistinnen und Aktivisten gestellt hat, war es dann doch möglich, dorthin zu gehen. Dies geschah jedoch unter strengen Auflagen: es durften keine Flugblätter verteilt werden, keine Parolen gerufen und außerdem war es verboten, Passanten weiterhin anzusprechen und für seine Sache zu gewinnen.

Eine halbe Stunde vor Ende der Veranstaltung marschierten noch einmal Polizisten mit Arm- und Beinpanzer, schussicheren Westen, langen Schlagstöcken und Pfeffersprays auf. Müßig zu erwähnen, dass auch hier die Rechte der anwesenden Pressevertreter ignoriert wurden. Langsam zogen sich die Zivilbeamten, die die Demonstration von Anfang an begleitet hatten, zurück und stellten sich neben ihre martialisch gekleideten und zum Einsatz bereiten Kollegen. Zu einem Interview waren weder sie noch Einsatzleiter bereit. Stattdessen wurde immer wieder gesagt, dass man vorher um Erlaubnis fragen müsse, wenn man Bilder machen möchte, auf dem Polizisten sind.

Laut in der Sache kundiger belgischer Rechtsanwälte ist dies nicht der Fall. Zwar wurden anders herum auch die Aktivistinnen und Aktivisten nicht offen von der Polizei gefilmt, wie es in der BRD üblich wäre, man darf aber die hohe Kameradichte und Überwachungsquote im "europäischen Viertel" nicht aus den Augen verlieren. Außerdem waren viele der Demonstrationsteilnehmer im Vorfeld namentlich zu diversen Veranstaltungen innerhalb der Europäischen Kommission und im Europäischen Parlament angemeldet und hatten eingeschaltete Mobiltelefone dabei, so dass dies auch nicht nötig erschien; identifiziert wurden sie allemal. Das Perfide an dieser modernen Polizeitaktik, welche aus einer genau kalkulierten Mischung aus Vorfeldaufklärung, Datenauswertung, Kommunikationsführung, personeller Zurückhaltung, Erzeugung von Abhängigkeit und Dankbarkeit, Induktion von Regression und subtiler, von außen nicht wahrnehmbarer Androhung von Gewalt besteht, ist, dass diese Mischung für sich genommen unscheinbarer und beinahe harmloser Dinge in ihrer Summe sozialtechnokratische Repression in Reinkultur ausübt; eine Taktik, die, unter Einsatz anderer Mittel, auch am dritten Tag in der Europäischen Kommission zum Zuge kam.

Polizei vor sitzenden Demonstranten - Foto: © 2011 by Schattenblick

Demo und Begleitschutz allein auf weiter Flur
Foto: © 2011 by Schattenblick

Das Öl für die große Maschine wird auch aus dem systematischen Sammeln und Auswerten angeblich unwichtiger Daten generiert und durch die verschiedenen Stufen der Raffinierung bis hin zu jenem Treibstoff alchimiert, der weltweit Menschen verschwinden, in düsteren Kerkern verzweifeln und in menschenverachtenden Raub- und Ausbeutungsverhältnissen siechen, kurz im Krieg nach innen wie außen verbrennen lässt. Die Aktivistinnen und Aktivisten haben ein Element der sich zusehends in sozialtechnokratischer Ungreifbarkeit und hinter scheindemokratischer Legitimation verbergenden Exekutivgewalt in Frage gestellt. Das zumindest haben sie diesem Tag in der europäischen Verwaltungszentrale Brüssel abgerungen.

Fußnoten:

[1] http://blog.freiheitstattangst.de und http://www.freedomnotfear.org

[2] http://www.aktion-freiheitstattangst.org/startseite/partnerschaften

[3] http://www.nopnr.org/unterstutzer/

[3] http://jeanlouherzeele.skyrock.com/2235457347-Art-48-ter-mars-2001-Matonge-quartier-de-la-Porte-de-Namur-a.html

[4] https://www.vrijbit.nl/

[5] http://www.no-cctv.org.uk/

[6] http://www.aedh.eu/Intervention-de-l-AEDH-lors-de-la.html

[7] http://wiki.vorratsdatenspeicherung.de/Hauptseite

[8] http://www.mundo-b.org

[9] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prin0082.html


EU-Kommission und anonymes Subjekt ihrer Herrschaft
Foto: © 2011 by Schattenblick

18. Oktober 2011