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AUSSENHANDEL/188: Kritische Stimmen zu den Freihandelsabkommen mit Indien (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 108, 2/09

Ungleiche Partnerinnen
Kritische Stimmen zu den europäischen Freihandelsabkommen mit Indien

Von Helga Neumayer


Zivilgesellschaftliche Vorbehalte zu den geplanten Freihandelsabkommen(1) zwischen der EU und Indien kommen sowohl von AkteurInnen der Zivilgesellschaft Indiens als auch Europas. Sie kritisieren die Intransparenz der Verhandlungen und befürchten lethale Auswirkungen von Freihandel auf die Existenzgrundlagen vieler Menschen in Indien und die Einengung des politischen Handlungsspielraumes der indischen Regierung in Krisenzeiten. Deshalb fordern sie einen Verhandlungsstopp und eine Neuausrichtung der Handelsbeziehungen.


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Im Oktober 2006 präsentierte die Europäische Kommission ihre neue Außenhandelsstrategie "Global Europe: Competing in a Globalized World". Sie sieht damit eine Reihe umfassender Freihandelsabkommen vor, mit denen sie eine aggressive Politik der Marktöffnung und der Ausbeutung von Rohstoffen im globalen Süden verfolgt. Die EU möchte mit den bilateralen Freihandelsabkommen den Vormarsch europäischer Unternehmen gegenüber dem Hauptkonkurrenten USA auf dem Weltmarkt vorantreiben. Für diese Global-Europe-Strategie ist Indien ein Schlüsselland, denn es hat einen großen Markt an KonsumentInnen, der bislang durch zahlreiche Handelshemmnisse stark geschützt war. Die mächtigen Lobbyisten aus der europäischen Wirtschaft streben durch das Freihandelsabkommen Zollsenkungen, umfassende Liberalisierungsmaßnahmen in den Bereichen Dienstleistungen, Investitionen, Öffentliches Beschaffungswesen und weitreichende Schutzregelungen für Eigentumsrechte an.


Große Unterschiede

Bei dem geplanten Abkommen stehen sich allerdings mit der Europäischen Union (490 Mio. EinwohnerInnen) und der Indischen Union (mit ihrer mehr als 1,1 Milliarden Menschen zählenden Bevölkerung) ungleiche Partnerinnen gegenüber. Zwar konnte Indien in den letzten Jahren ein Wirtschaftswachstum von bis zu 10% verzeichnen, allerdings ist Indien auch das Land mit dem weltweit größten Anteil an mittellosen Menschen, 80% der Bevölkerung müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. 92% der 457 Mio. erwerbstätigen InderInnen sind im informellen Bereich beschäftigt, wo sie ihren Lebensunterhalt mit geringstem und ungesichertem Einkommen zu bestreiten haben. Das Bruttoinlandsprodukt Indiens beläuft sich auf nur 7% des EU-Bruttoinlandsprodukts. Und dennoch würde ein Freihandelsabkommen beiden Partnerinnen gleiche Regeln für Import, Export, Produktstandards und Investitionen auferlegen. Nun befürchten AkteurInnen der europäischen und der indischen Zivilgesellschaft, dass mit den Freihandelsabkommen die Schere zwischen Arm und Reich noch wesentlich weiter auseinanderklaffen und die Geschlechterungleichheit wachsen wird.


Strategien zivilgesellschaftlicher AkteurInnen

Ende April trafen sich in Berlin Vertreterinnen von europäischen NGOs mit VertreterInnen indischer NGOs, um zu diesem Thema zu beraten und um Strategien für zivilgesellschaftliche Kritik und Einflussnahme auf die bislang geheimen Verhandlungen zu entwickeln.(2)

Besonders problematisch sehen sie die Folgen der geplanten Freihandelsabkommen in den Bereichen Landwirtschaft, geistige Eigentumsrechte, Industrie und Öffentliches Beschaffungswesen. Zu befürchten sind etwa eine weitere Selbstmordwelle unter indischen Kleinbauern und Kleinbäuerinnen in Folge des Verlusts von Existenzgrundlagen. Die Landwirtschaft ist die größte Arbeitgeberin für indische Frauen, außerhalb des Agrarbereichs sind nur 17,5% aller Beschäftigten weiblich. 92% der indischen Frauen arbeiten im informellen Sektor und die meisten, die dabei nicht in der Landwirtschaft arbeiten, sind Hausangestellte oder Textilarbeiterinnen in urbanen Bereichen. Im vielgepriesenen IT-Sektor arbeiten nur 0,3% aller beschäftigten Frauen.


Inkoherente Politiken

Mit der angestrebten Handelsliberalisierung steht die EU auch in Widerspruch zu den eigenen Politiken im Bereich der Entwicklungsförderung. Denn über Jahrzehnte hinweg hatte sie Indien durch Entwicklungsprogramme mit dem Oberziel der Armutsbekämpfung und Geschlechtergerechtigkeit unterstützt. Eine Vielzahl von Frauen-Empowerment-Projekten zielten auf "einkommensschaffende Maßnahmen", unterstützt durch Mikrokredite. In der Zwischenzeit erwerben sich diese Frauen ein Einkommen als Kleinproduzentinnen oder Straßenhändlerinnen. Bei einer bevorstehenden Marktöffnung für den Großhandel und durch Billigimporte werden sie aber der europäischen Konkurrenz nicht Stand halten können. Die Öffnung des Handelssektors ist ein Kernanliegen der EU und gleichzeitig ein Beispiel, wie sich die EU-Handelspolitik in Widerspruch zur eigenen Entwicklungspolitik begibt.

Bereits 2007 formierte sich Widerstand von indischen Klein- und GroßhändlerInnen gegen den deutschen Handelskonzern Metro, der sowohl die Zulieferung von Agrarprodukten als auch den Gütertransport selbst organisieren will und damit eine Umstrukturierung von indischen Wertschöpfungsketten und Vermarktungswegen vornimmt auf einem Terrain, das bisher von lokalen GroßhändlerInnen, ZulieferInnen und KleinhändlerInnen bestimmt war. Auch die Fischer und die Fischverkäuferinnen im südlichen Bundesstaat Kerala fürchten aufgrund der Fisch-Exportpläne der EU um den Fortbestand der traditionellen Kleinfischerei und um ihre Existenz. Sie fordern, dass Fisch in die Liste jener Produkte aufgenommen wird, die von den Zollsenkungen ausgenommen sind.


Alternativen auf allen Ebenen gefragt

Aufgrund der großen Interessengegensätze zwischen der indischen Regierung und der europäischen Kommission stocken derzeit die Verhandlungen, die im Jahr 2007 aufgenommen wurden, vermutlich werden sie aber nun - nach den indischen Bundeswahlen im Mai 2009 und nach der neuen Regierungsbildung - beschleunigt fortgesetzt.

Die NGO-VertreterInnen fordern(3) einen sofortigen Stopp der Verhandlungen und eine größere Transparenz im Gestaltungsprozess der EU- und der EFTA-Handelspolitik. Denn bisher fanden alle Verhandlungen der beiden Unionen hinter verschlossenen Türen statt. Während die Privatwirtschaft viele Lobbymöglichkeiten hat, dringen kaum Informationen an die indische und europäische Öffentlichkeit. Und die NGO-VertreterInnen fordern die Anerkennung der Ungleichheit der EU und Indiens und die Abkehr von der zunehmenden Marktkonzentration, die den Zugang zu Basisdienstleistungen unterminiert und der Regierung die Möglichkeit nimmt, im öffentlichen Interesse am Markt einzuschreiten - wie Indien dies 2008 gegen die akut verheerenden Auswirkungen der Nahrungsmittelkrise tun musste. Sie fordern auch die Einbeziehung der Schlüsselbeteiligten in Europa und in Indien in die Verhandlungsprozesse, diese sind Gewerkschaften, VertreterInnen von BäuerInnen- und Frauenorganisationen, Zusammenschlüsse von Kleinbetrieben, Dalit- und Adivasi-VertreterInnen und Kooperativen von StraßenhändlerInnen und anderen Berufsgruppen. Und sie fordern die Sicherstellung von Alternativen zu Nord-Süd-Freihandelsverträgen im Sinne von Entwicklung und Ermutigung zu nachhaltigen und fairen Süd-Süd-Handelsbeziehungen.


Anmerkungen:

(1) Es gibt das angestrebte Freihandelsabkommen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und Indien (EU-India-FTA) und jenes zwischen den EFTA-Staaten (Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein) und Indien. Bis dato gab es sechs Runden zu EU-India-FTA und drei mit der EFTA unter Ausschluss sowohl der europäischen als auch der indischen Öffentlichkeit.

(2) Bei diesem Treffen kamen u.a. Vertreterinnen von WEED (Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung, Deutschland), Oxfam, Erklärung von Bern (Schweiz), Women in Development Europe (WIDE), Ärzte ohne Grenzen (Deutschland) und Forum on Development und Environment (Norwegen) von europäischer Seite und Forum on FTAs (Indien), Center for World Solidarity, Water and Democracy (Indien) und Center for Trade and Development (Indien) zusammen. Für WIDE-Österreich war die Autorin anwesend.

(3) Die ungekürzten Forderungen der zivilgesellschaftlichen AkteurInnen:
www.oneworld.at/wide/2009/EU-Indien-FTA_April09.pdf


Lesetipp:

Sharma, Shefali: Die Fesseln des EU-Indien-Freihandelsabkommens: Die indische Wirtschaft im Visier der Europäischen Union. Hg.: WEED und EED (Bonn/Berlin 2009)
(nachzulesen unter: www.weed-online.org/themen/2382813.html).

Wichterich, Christa: Economic growth without social justice: EU-India trade negotiations and their implications for social development and gender justice. Ed. WIDE (Brussels 2007).

Wichterich, Christa: Wettbewerbsfähigkeit sichern? Eine kritische Betrachtung des geplanten Freihandelsabkommens zwischen der EU und Indien. In: Frauensolidarität 103 (Wien 2008) S. 26-27.


Hörtipp:

Unequal partners. Helga Neumayer interviewt Shefali Sharma und Ranja Sengupta zum geplanten EU-Indien-Freihandelsabkommen:
www.noso.at (Sendung vom 26. Mai 2009).


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 108, 2/2009, S. 24-25
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. August 2009