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AUSSENHANDEL/204: Kein Platz für Menschenrechte? - Freihandel mit Kolumbien und Peru (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 116, 2/11

Freihandel mit Kolumbien und Peru
Kein Platz für Menschenrechte in der EU-Außenhandelspolitik?
Ein Interview mit zwei kolumbianischen Menschenrechtsverteidigerinnen

Von Petra Steiner


Im Mai vergangenen Jahres wurde das EU-Freihandelsabkommen (FHA) mit Kolumbien und Peru unterzeichnet. Ursprünglich als Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Union und den vier Mitgliedsstaaten der Andengemeinschaft geplant, blieben nach dem Abbruch der Verhandlungen mit Bolivien und Ecuador im Juni 2008 nur noch Kolumbien und Peru, die bereit waren, aus der Andengemeinschaft auszuscheren und die ursprünglich gemeinsam formulierte Forderung nach einer "Sonder- und Vorzugsbehandlung" für Bolivien und Ecuador als ökonomisch schwächere Länder aufzugeben. Bolivien und Ecuador hingegen hatten das Recht auf den Schutz ihrer Binnenmärkte, die Wahrung der Ernährungssouveränität und einen freien Zugang zu Basisdienstleistungen gefordert.


Nicht nur der Zerfall des Andenbündnisses wird als Gefahr für die Region gewertet. Weitreichende Liberalisierungen sind für den Handel mit Gütern und Dienstleistungen, Investitionen und Kapitalverkehr sowie mit geistigen Eigentumsrechten geplant. Damit ist der freie Zugang zu Medikamenten und Saatgut bedroht. Die Ratifizierung des Vertrages soll nach Wunsch der Europäischen Kommission nun möglichst rasch erfolgen. Denn in Kraft treten kann das Abkommen erst nach Zustimmung des Europaparlaments sowie des kolumbianischen und peruanischen Kongresses. Ein strittiger und entscheidender Punkt bei den laufenden Verhandlungen ist die Frage, ob der Vertrag als so genannter "gemischter Vertrag"(1) zu behandeln ist oder nicht. Dieses scheinbar technische Detail ist von großer Bedeutung, da ein "gemischter Vertrag" die Ratifizierung seitens der Regierungen aller EU-Mitgliedsländer notwendig macht.


Das FHA wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und etlichen Abgeordneten des Europäischen Parlaments einhellig abgelehnt. Sie fordern eine umfassende Folgenabschätzung mit Blick auf die politischen wie auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte.

Das Programa Somos Defensores, ein kolumbianischer Menschenrechtsreport, meldet für 2009 177 Angriffe auf MenschenrechtsverteidigerInnen, darunter 32 Morde. Die Mechanismen der Straflosigkeit greifen dabei immer wieder: Am 22. März 2011 wurde die Richterin Gloria Constanza ermordet. Sie war mit mehr als hundert Fällen befasst, bei denen mehrheitlich Mitglieder bewaffneter Gruppen angeklagt sind.

64 Prozent aller tödlich verlaufenden Anschläge auf GewerkschafterInnen weltweit finden in Kolumbien statt. Daneben verweigert das kolumbianische Regime der erwerbstätigen Bevölkerung auch systematisch grundlegende Arbeitsrechte.


Im März dieses Jahres waren Maria Del Pilar Silva Garay (MSG) von der Menschenrechtsorganisation Colectivo José Alvear Restrepo (CAJAR) und Nohora Tovar (NT), Vizepräsidentin der kolumbianischen Metallarbeitergewerkschaft Fetramecol (CTC), in Österreich, um über die Menschenrechtslage in Kolumbien und die möglichen Auswirkungen des bevorstehenden Freihandelsabkommens zu informieren.


FRAUENSOLIDARITÄT: Wie ist die aktuelle Menschenrechtslage in Kolumbien?

MSG: Die Menschenrechtsorganisationen und andere soziale Organisationen sind sich einig darüber, dass eine Ratifizierung des FHA nicht angemessen ist, denn Kolumbien ist ein Land, in dem ein bewaffneter Konflikt herrscht, ein Land im Krieg.

Soziale AktivistInnen und GewerkschafterInnen werden nicht nur ermordet, sie "verschwinden", werden umgesiedelt und verlieren ihr Heim und ihre Arbeit.

Die Menschenrechtsverletzungen gegenüber den verschiedenen Bevölkerungsgruppen, insbesondere gegenüber der indigenen Bevölkerung, werden nicht weniger. 2010 wurden 122 indigene Frauen und Männer ermordet, zehn sind "verschwunden", und 1146 wurden zwangsumgesiedelt.

Die am weitesten verbreitete Menschenrechtsverletzung in Kolumbien ist die gewaltsame Vertreibung. In den vergangenen Jahren wurden 5,2 Mio. Menschen zwangsumgesiedelt.

Den Hintergrund für die Vertreibungen bilden Investitionsprojekte in der Viehwirtschaft, im Rohstoffabbau von Kohle und Gold und in agroindustrieller Plantagenwirtschaft von Ölpalmen, Zuckerrohr und Kakao. Ein großer Teil der Betroffenen besaß Land, das sich Unternehmen, die mit den Paramilitärs kollaborieren, illegal aneignen.

Eine andere gravierende Menschenrechtsverletzung betreffen die Verschleppungen. Im Moment sind 51.310 Menschen als "verschwunden" registriert. Davon sind 3.043 Frauen.

Auch die extralegalen Hinrichtungen nehmen in jüngster Zeit wieder zu, und es wurde festgestellt, dass häufig für diese Tötungen der Staat direkt verantwortlich ist, besonders das Militär, das 2010 3.000 außergerichtliche Tötungen begangen hat.

Verstrickungen von PolitikerInnen mit Angehörigen der Paramilitärs befinden sich nach wie vor in gerichtlicher Aufarbeitung. Abgeordnete sind enge Verbindungen zu Paramilitärs eingegangen, um mit deren Hilfe AktivistInnen zu terrorisieren oder politische Gegner auszuschalten.

Die ILO hat für Kolumbien 39 Empfehlungen herausgegeben, die das Gewerkschaftsrecht und die Versammlungsfreiheit betreffen. Die Regierung hat davon nicht eine einzige in ihre Gesetzgebung aufgenommen, um die Situation zu verbessern.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wer profitiert von einem Freihandelsabkommen?

MSG: Wir glauben, dass nur die großen multinationalen Konzerne, die bereits im Land sind und viele kolumbianische Betriebe aufgekauft haben, profitieren werden. Bereits heute beuten diese Konzerne alle kolumbianischen Ressourcen aus: Mineralien, Kohle, Gold und Öl. Sie sind hauptverantwortlich für die Zwangsumsiedlungen.

Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Der Steinkohletagebau von Cerrejón im Bezirk La Guajira ist der größte in Lateinamerika und erstreckt sich über ein Gebiet von mehr als 124.000 Hektar. Die Konzessionen für die Mine halten zu je einem Drittel Anglo American (GB), BHP Billiton (AUS-GB) und Xstrata (CH). Die Bevölkerung der Gegend ist mittlerweile komplett verschwunden. Auch der kolumbianische Staat war an deren Vertreibung nicht unbeteiligt.

FRAUENSOLIDARITÄT: Wie schätzen Sie die Bedrohungen für kleinbäuerliche ProduzentInnen durch die geplanten Liberalisierungen im Handel mit Agrargütern ein?

MSG: Eine bereits jetzt schwierige Situation wird sich noch weiter verschärfen. Kolumbianische BäuerInnen sehen sich mit umfassenden Ressourcenengpässen konfrontiert. Das beginnt mit einem Mangel an Transportmitteln und Straßen. Ihre Produkte auf den Markt zu bringen ist eine Herausforderung. Multinationale Konzerne verfügen über ausreichend Ressourcen, und eine Folge wird sein, dass den BäuerInnen noch weniger bezahlt wird. Ihre Arbeitszeiten werden sich verlängern, ohne dass sie irgendeinen Gewinn machen. Diese Wirtschaftspolitik lässt den BäuerInnen keine Möglichkeit, ihre Situation zu verbessern.

FRAUENSOLIDARITÄT: In welcher Weise werden Frauen von dem FHA betroffen sein?

MSG: Männer werden überwiegend Opfer von Gewaltverbrechen, und Frauen sind stark von Zwangsumsiedlungen betroffen. Ein sehr hoher Anteil an Frauen landet ohne Land und Unterstützung irgendwo als Flüchtling.

FRAUENSOLIDARITÄT: Das FHA geht im Bereich "Schutz geistiger Eigentumsrechte" weit über das TRIPS-Abkommen (Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights,) der Welthandelsorganisation (WTO) hinaus. Welche Gefahren sehen Sie hier für die Bevölkerung Kolumbiens?

NT: Das Thema der Patentierungen ist ein sehr schwer wiegender Punkt. Die großen multinationalen Konzerne und Marken werden den gesamten Markt für Medikamente übernehmen, und Generika werden komplett verschwinden. Es gibt strenge Auflagen und Tests, die ein Konzern erfüllen muss, um Medikamente herstellen zu dürfen. Verlieren die Produktionsfirmen der Generika diesen Kampf, verliert ihn vor allem auch der einkommensschwächste Teil der Bevölkerung Kolumbiens, der die Mehrheit darstellt. Innerhalb der ärmsten Bevölkerungsschicht überwiegen Frauen, insbesondere alleinerziehende Mütter, für die die Ratifizierung des FHA die schwerwiegendsten Folgen nach sich ziehen würde.

FRAUENSOLIDARITÄT: Was möchten Sie unseren LeserInnen abschließend mitgeben?

NT: Wir rufen die Menschen in der Europäischen Gemeinschaft auf, sich zusammenzuschließen und gemeinsam mit uns gegen die Ratifizierung des FHA durch die EU zu protestieren. Alle sollen Briefe an ihre ParlamentarierInnen in Brüssel schicken, damit das FHA nicht vorschnell ratifiziert wird. Es ist entscheidend, dass es als gemischtes Abkommen gewertet wird, damit es zusätzlich durch das Parlament jedes Mitgliedslandes gehen muss.

FRAUENSOLIDARITÄT: Danke für das Gespräch.


Anmerkungen:

(1) Details zur Frage des "gemischten Vertrages" (mixed agreement) unter www.s2bnetwork.org


Übersetzung aus dem Spanischen: Jenni Jerabek


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 116, 2/2011, S. 28-29
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2011