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ENERGIE/065: Generation IV - die Kernspaltung erfindet sich neu (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - März 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Generation IV: Die Kernspaltung erfindet sich neu

Von Axel Meunier


Der Atomsektor, der 35 % des Stroms in der Europäischen Union produziert, bietet ein reelles Potenzial, um die Nutzung von Kohlenwasserstoffen zu senken. Obwohl er keinen Beitrag zum Treibhauseffekt leistet und große Mengen Strom produzieren kann, wird jedoch auch hier eine Ressource verwendet, die irgendwann einmal zu Ende gehen wird. Die Produktion von Atomstrom verursacht hochgefährliche Abfälle und stellt ein großes Risiko dar. Wie kann man diese Mängel ausgleichen und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit der Kernenergie vergrößern? Dieser Herausforderung versucht sich die vierte Generation von Kernreaktoren zu stellen.


Rückkehr zur Kernenergie nach zwei schwierigen Jahrzehnten: In Anwesenheit des französischen und des chinesischen Präsidenten unterzeichnet die Industriegruppe AREVA Ende 2007 einen Vertrag über die Lieferung von zwei europäischen Druckwasserreaktoren (European pressurised water reactor, EPR) an China. Ein anderer Auftrag des Weltführers in Kerntechnik ist der Bau des ersten Reaktors dieses Typs in Finnland, der mit zwei Jahren Verspätung und Budgetverlängerungen im Jahr 2011 ans Netz gehen soll.

Der EPR steht für die derzeit dritte Generation von Kernreaktoren, die sicherlich bereits verbessert ist. Allerdings verwendet sie Uran 235, und dieses kann in den verbrauchten Brennstäben nicht im großen Stil wieder aufbereitet werden, um sich damit auf eine Ressourcenknappheit einzustellen. "Sollte sich die Kernenergie mit den aktuellen Wasserreaktoren, die vor allem Uran 235 verwenden, so weiterentwickeln, werden in der Mitte des 21. Jahrhunderts die bekannten Ressourcen dieses Urans, das nur 1 % der natürlichen Uranvorkommen ausmacht, bereits zu drei Vierteln verbraucht sein", versichert Frank Carré, stellvertretender Direktor für Entwicklung und Innovation der Kernenergie bei der französischen Atomenergiebehörde.


Vollständige Verbrennung

Bei der aktuellen Technologie wird Wasser sowohl zur Bremsung der nuklearen Reaktionen im Reaktorkern als auch als Wärmeüberträger eingesetzt. Dabei wird die Hitze an Wärmeaustauscher weitergeleitet, die Dampf produzieren und damit einen Turbinengenerator antreiben. Bei dieser Technologie kann das zu 99 % aus Uran 238 bestehende natürliche Mineral nicht verbrannt werden. Für Druckwasserreaktoren, die jetzt die Mehrheit aller betriebenen Reaktoren ausmachen, ist die vorherige Anreicherung des Minerals mit 3 % bis 5 % Uran 235 erforderlich.

Aber für eine nachhaltige Entwicklung ist die Herausforderung weit größer: Vorgesehen ist der Übergang zu einer vierten Generation von Kernreaktoren, den sogenannten schnellen Brütern, die Uran vollständig verbrennen können, das sich bei diesem Prozess in Plutonium umwandelt. Mehrere Initiativen zeugen davon, dass das Interesse an dieser Technologie, die seit den 1960er Jahren zur Entwicklung mehrerer Prototypen geführt hat, wieder geweckt ist. Außer den nationalen Projekten in Indien, China und Russland gehören dazu auch das internationale Forum Generation IV der Atomstaaten, das Internationale Projekt für Innovative Kernreaktoren und Brennstoffkreisläufe (INPRO) der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), die Globale Partnerschaft für Kernenergie (Global Nuclear Energy Partnership, GNEP) der USA und die Technologieplattform für nachhaltige Kernenergie der Europäischen Union.

Frankreich, die USA und Japan haben sich den Bau von Kernreaktorprototypen mit Natriumkühlung bis 2025 vorgenommen. Natrium ist ein weiteres Kühlmittel, zu dem intensive Forschungen betrieben wurden. Es bremst die Neutronen nicht ab, die dank ihrer Geschwindigkeit natürliches Uran in Plutonium (einen weiteren nuklearen Brennstoff) umwandeln. Natrium kann dieses sogar effizient regenerieren, wodurch selbst zehnmalige Wiederaufbereitung möglich wird. Dadurch lässt sich Uran sparen und der Abfall begrenzen. Ein weiterer Vorteil: durch die riesigen Bestände an abgereichertem Uran aus den bestehenden Kernkraftwerken - allein 220 000 t in Frankreich - ist ein Brennstoffvorrat bereits vorhanden.


Zusammenarbeit geht vor Wettbewerb

Allerdings belasten die hohen Kosten dieser Technologie derzeit noch die wirtschaftliche Machbarkeit, sollten die Spannungen auf dem Uranmarkt diese nicht bald wettbewerbsfähig machen. "Während die USA die Entwicklung dieses Kernreaktortyps bereits in den 1970er Jahren aufgegeben haben, gefolgt von Europa mit der Stilllegung des Superphönix 1998, haben Russland, Indien, Japan und China die Entwicklung dieser Reaktoren weiterhin verfolgt. Indien ist bereits so weit, 2010 einen Prototypen mit einer Leistung von 500 MW in Betrieb zu nehmen." (1) Auch China nimmt am weltweiten Rennen um die Brutreaktoren mit einem für 2010 geplanten Versuchsreaktor teil.

Allerdings sind die technologischen Herausforderungen so groß, dass sich die Konkurrenten von morgen erst einmal zusammengeschlossen haben. Dieser Zusammenschluss erfolgte unter dem Dach des Forums Generation IV. Daran beteiligt sind die USA, Frankreich, Japan, Südkorea, Südafrika, Brasilien, Argentinien, das Vereinigte Königreich, die Schweiz, die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) sowie seit Kurzem China und Russland. Zwischen 2000 und 2002 haben sich die Experten mit der Auswahl von sechs Systemen befasst, die im 21. Jahrhundert möglicherweise eine wichtige Rolle spielen könnten. Obwohl sie unter dem Titel "nukleare Systeme der vierten Generation" zusammengefasst werden, sind sie noch nicht alle gleichermaßen ausgereift.


Sechs technologische Möglichkeiten

Außer an den schnellen Brütern mit Natriumkühlung ist auch das Interesse an Hochtemperaturreaktoren wieder gestiegen. "Die internationalen Bemühungen auf dieser zweiten Achse werden durch Projekte in Südafrika (PBMR, voraussichtlich 2014) und den USA (NGNP, voraussichtlich 2020) wieder aufgegriffen." Mit dieser Technologie könnten die Anwendungen der Kernenergie auch auf die Produktion von Industriewärme ausgeweitet werden, insbesondere auf die Produktion von Wasserstoff, auf synthetische Kraftstoffe und auf die Trinkwasserproduktion durch Meerwasserentsalzung - alles zentrale Ressourcen der Zukunft.

Zwei weitere innovative Denkrichtungen betreffen die Kühlmittel für Brutreaktoren: Blei und Helium. "Brutreaktoren, die mit Gas gekühlt werden (das ein schlechteres Kühlmittel als Natrium darstellt), fordern die Entwicklung hitzebeständiger Brennstoffe, die Kühlunfälle überstehen können. Im Gegenzug bieten sie im Vergleich zu den Flüssigmetallreaktoren (Natrium und Blei) den Vorteil eines einphasigen Kühlmittels, das aus chemischer Sicht reaktionsträge ist, und einen einfacheren Zugang für Wartung und Reparaturen." Die ersten beiden Technologien, mit Schmelzsalz und superkritischem Wasser, werden eher als Möglichkeiten für die ferne Zukunft angesehen, für die der Bau von Prototypen noch lange nicht in Sicht ist.


Die Risiken

Seit dem Unfall von Tschernobyl 1986 und dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 müssen alle Systeme besonders hohen Sicherheitsanforderungen genügen. Dabei stehen robuste Sicherheitsmäntel und ein Unfallmanagement im Vordergrund, bei dem menschliches Eingreifen auf ein Minimum beschränkt ist - besonders beim Abbau der Restleistung des Reaktors. Das Risiko der Weitergabe von nuklearem Material würde sowohl durch Kontrollen der IAEO, durch Wiederaufbereitungsmethoden, die vor der Unterschlagung von Kernmaterial abschrecken, als auch durch Brennstoffkreislaufzentren gesteuert werden. Diese bieten den Ländern, die Reaktoren betreiben, ihre Dienstleistungen an - sie liefern Brennstoff und nehmen verbrauchten Brennstoff zurück.

Durch diesen Ansatz könnten die Länder zwar auf die Anschaffung potenziell gefährlicher Technologien verzichten, es würde aber auch ein Ungleichgewicht gegenüber den Ländern entstehen, die das gesamte technologische Spektrum beherrschen. Und dies würde ein geopolitisches Risiko in sich bergen.

Die Entwicklung nuklearer Systeme der vierten Generation wird auch eine wichtige Rolle im globalen Energiegleichwicht spielen und scheint heutzutage vor allem von den Aussichten auf technologische Entwicklung, von Umweltbedenken und wirtschaftlichen Strategien abhängig zu sein. Eine Zukunftsperspektive, die die Energien berücksichtigen muss, die mit der Kernenergie konkurrieren, aber auch die Frage, wie weit sie von der Gesellschaft akzeptiert wird.


(1) Alle Zitate von Frank Carré.


Und die Fusion?

Genauso wie die heutigen Reaktoren stützen sich auch die Reaktoren der vierten Generation auf das Prinzip der Kernspaltung: Ein schwerer Uran- oder Plutoniumkern wird mit einem Neutron beschossen und spaltet sich dabei in zwei leichtere Kerne.

Dabei werden Energie und Neutronen freigesetzt, die diese Reaktion unterhalten.

Dagegen beruht die Kernfusion, für die die Errichtung des derzeit in Cadarache (FR) gebauten Internationalen Thermonuklearen Experimentalreaktors ITER eine wichtige Demonstrationsphase darstellt, auf der Verschmelzung zweier leichter Kerne (in einer ersten Etappe sind dies Deuterium und Tritium) zu einem schwereren Kern (Helium). Dabei werden Energie und ein Neutron produziert, das eine wichtige Rolle für die Regenerierung des Tritiums spielt. Aber eine Fusionsreaktion kann sich nur in einem Plasma mit einer Temperatur von über 100 Mio. °C vollziehen, und ITER muss nachweisen, dass ein kontrollierter Ablauf der Kernreaktionen möglich ist. Für die darauf folgende Phase, voraussichtlich 2040, ist ein Demonstrationsreaktor (DEMO) geplant, der Strom erzeugen und das verbrauchte Tritium regenerieren soll. Zu diesem Zeitpunkt müssten die Kernspaltungssysteme der vierten Generation bereits wirtschaftlich genutzt werden.


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Quelle:
research*eu Nr. Sonderausgabe - März 2008, Seite 30-31
Magazin des Europäischen Forschungsraums
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Chefredakteur: Michel Claessens
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research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. August 2008