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BERICHT/061: Mathematik - Das Werkzeug der Erkenntnis (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 4/2008

Mathematik
Das Werkzeug der Erkenntnis

Prof. Dr. Juri Iwanowitsch Manin und Roland Wengenmayr


Viele Menschen schalten ihre innere Ampel auf Rot, sobald sie das Wort Mathematik hören: stopp, zu schwierig! Trotzdem prägt Mathematik unser aller Denken, und sie steckt in erstaunlich vielen Dingen und Vorgängen des Alltags. Juri Manin, emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn, zeigt, dass Mathematik ein wichtiges Werkzeug menschlicher Erkenntnis ist.


Kürzlich erlebte ich auf einer Tagung in Amsterdam, dass ein Manager in seinem Vortrag uns Mathematikern ernstlich eine Mitschuld an der Krise der Finanzmärkte gab. Er warf uns vor, dass unsere mathematischen Modelle eine der Ursachen dieser Krise seien. Dabei übersah er, dass Finanzmathematik auf statistischer Mathematik und damit auf Wahrscheinlichkeitsaussagen beruht. Sie vertuscht nicht, dass die Börse letztlich ein Glücksspiel ist. Offensichtlich gehen viele Menschen wie dieser Manager mit solchen mathematischen Werkzeugen vollkommen naiv um. Sie benutzen sie als Blackbox, ohne die dahinterliegenden mathematischen Modelle zu verstehen. Deshalb können sie plötzliche Entwicklungen wie etwa an der Börse, die mathematisch vielleicht unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen sind, so überraschen.

Dieses Beispiel zeigt, das es sich lohnt, über die vielen - oft versteckten - Anwendungen von Mathematik in unserem Lebensumfeld nachzudenken. Das gilt nicht nur für die scheinbar abgehobene Finanzwelt, die unser Leben doch so unmittelbar beeinflusst. Jede Technik basiert auf mathematisch formulierten Theorien und Modellen, seien es Computer, das Internet, Flugzeuge oder Baustatik. Mediziner, Sozialwissenschaftler, Demoskopen, Meinungsforscher oder Regierungen wenden Methoden der statistischen Mathematik an, wenn sie die Wirkung eines neuen Medikaments testen, Wahlprognosen erstellen oder zukünftige Steuereinnahmen schätzen. Besonders intensiv setzen natürlich die Naturwissenschaften mathematische Methoden ein, allen voran die Physik.

Mit Mathematik können wir viele Aspekte unserer Welt präzise fassbar beschreiben. Einige Mathematiker glauben ohnehin, dass mathematische Strukturen und Formen nicht einfach von Menschen erdacht werden, sondern dass sie unabhängig von uns existieren. Ein Hinweis darauf könnte die Tatsache sein, dass aus vollkommen abstrakten mathematischen Strukturen neue Theorien oder Modelle entstehen können, die bestimmte Eigenschaften unserer Welt präzise beschreiben. Die Physik kennt viele solcher Beispiele: Antimaterie, schwarze Löcher oder Teilchen-Spins waren zunächst rein theoretische Lösungen mathematischer Gleichungen, bevor sich zeigte, dass sie tatsächlich existieren.


Die Dialektik der Mathematik

Gäbe es also von uns unabhängige mathematische Strukturen, dann würden wir Mathematiker diese nicht erfinden, sondern entdecken. Ich kann die Existenz einer solchen platonischen Welt reiner Ideen außerhalb unseres Denkens zwar nicht beweisen, aber ich gehöre zu den Anhängern dieser Vorstellung. Unser Wissen über die Welt können wir uns dementsprechend als Hierarchie von Modellen vorstellen. Jedes Modell hat zwei Bedeutungen: Eine liegt auf der höheren platonischen Ebene der rein mathematischen Sprache und eine auf einer tieferen Ebene, auf der wir seine Beziehung zur Realität verstehen können.

Mathematik ist ein Werkzeug der Erkenntnis und sie liefert unserer Kultur wiederum mächtige Anwendungswerkzeuge. Sie produziert gleichsam abstrakte Hebel, mit denen wir in unserer realen Welt Dinge sehr effizient bewegen können. Der angewandten Mathematik verdanken wir Fortschritt und Wohlstand, allerdings auch spätestens seit der Antike Tod und Zerstörung in Form neuer Kriegstechniken. So muss Mathematik eben auch herhalten, um die Wirkung von Splitterbomben auf menschliche Körper zu simulieren, weil humanitäre Gründe den Test an lebenden Schweinen verbieten. Hier verkehren sich Aufklärung und Erkenntnis in ihr finsterstes Gegenstück.

Auch in friedlicheren Zeiten birgt der naive Umgang mit mathematischen Werkzeugen als Blackbox gewisse Gefahren, nicht nur an Börsen. Wer von uns denkt zum Beispiel darüber nach, was die Suchmaschine Google genau macht, wenn wir damit Informationen im Internet suchen. Diese Haltung ist bequem, hat aber ihren Preis: Wir merken nicht, wie uns Suchmaschinen als Informationsfilter gezielt manipulieren - und nebenbei auch noch unsere Interessen ausspionieren. Ganz ähnlich ergeht es den Akteuren auf dem Finanzmarkt, zumindest den naiveren. Sie schauen auf ihre Bildschirme und treffen nach den dort angezeigten Informationen Entscheidungen über Investitionen, ohne deren Zustandekommen wirklich tief gehend zu verstehen. Oft geht das gut, gelegentlich furchtbar schief.

Die Finanzwelt basiert auf Zahlen, und die Geschichte der Mathematik beginnt mit dem Zählen. Zählen ist eine Messung, und die natürlichen Zahlen 1, 2, 3 und so fort liefern das Maß. Damit begründeten unsere Vorfahren eine Proto- oder Urmathematik. Das Zählen von Herdentieren oder von mit Korn gefüllten Gefäßen ermöglichte es den Menschen erstmals, vorausschauend zu planen. Da das Zählen mit Fingern irgendwann nicht ausreichte, benutzten sie Stäbchen, Zählsteine oder Kerben. Damit wurde das Zählen abstrakter und mächtiger, denn einige Symbole repräsentierten nicht mehr nur eine 1, sondern 10 oder vielleicht 60. Hinzu kamen die Grundrechenarten als einfache Rechenoperationen. So entstand das Rechnen mit - zunächst noch natürlichen - Zahlen, das wir als einfachste Form der Arithmetik kennen. Die Zahlen repräsentierten dabei nach wie vor Dinge oder Werte aus der materiellen Welt: Die Urmathematik war angewandte Mathematik. Erst mit wachsender Abstraktion entstand daraus die reine Mathematik.

Sie und die Erfindung der Schrift ermöglichten das Entstehen komplexer Verwaltungssysteme. Das war die Geburt der höher entwickelten Gesellschaften mit tief gestaffelter Arbeitsteilung. Ein schönes Beispiel bietet die Verwaltungsreform des sumerischen Königs Shulgi, der das Land Ur vermutlich von 2047 bis 1999 v. Chr. regierte. Shulgi wollte die Arbeitskraft der Bevölkerung erfassen und effizienter nutzen. Natürlich ging es dabei vor allem um eine möglichst große Schlagkraft des Militärs, das zu seiner Versorgung eine effiziente Wirtschaft benötigte. Shulgi führte ein normiertes Maß für die Arbeitsleistung ein, die eine Gruppe von Arbeitern während eines Sechzigstels des Arbeitstages (etwa zwölf Minuten) bewältigen konnte. Damit konnten die Aufseher nun im Voraus planen, welche Zeit ihre Arbeitskolonnen für eine bestimmte Tätigkeit brauchen würden. Diese Arbeitsnorm mutet noch heute erstaunlich modern an.


Scheitern an der Wurzel

In der westlichen Kultur bildet das antike Griechenland eine Zäsur in der Entwicklung der Mathematik. Das Wort Mathematik stammt vom altgriechischen Wort μαθηματικ`η τ´εχνη (math-ematik-e tékhn-e) ab, das wiederum auf μ´αθημα (máth-ema) für Gelerntes, Kenntnis, Wissenschaft zurückgeht. Die antiken Griechen legten auch den Grundstein für die reine Mathematik. Über das Teilen ganzer Zahlen fanden sie zu den rationalen Zahlen und trieben das Spiel weiter bis zu der Frage, wie groß die Diagonale eines Quadrats mit den Seitenlängen 1 sei. An diesem Problem scheiterten sie allerdings. Heute kennen wir die Lösung, √2, doch solche irrationalen Zahlen waren in der Antike noch unbekannt.

Mehr noch als jeder andere aufkeimende Zweig repräsentierte damals die euklidische Geometrie die reine Mathematik: Plötzlich gab es unendlich ausgedehnte Flächen aus unendlich vielen unendlich kleinen mathematischen Punkten. Das war ein enormer Fortschritt im abstrakten Denken.

Die findigen Griechen wendeten die neuen Werkzeuge der reinen Mathematik sogleich auf Technik und grundlegende Fragen über unsere Welt an. Sie drehten den Spieß also wieder um. Eratosthenes von Kyrene (274-194 oder 284-202 v. Chr.) zum Beispiel gelang damit eine Schätzung des Erdumfanges, deren Genauigkeit uns heute überrascht. Der Mathematiker wusste, dass im ägyptischen Syene (heute Assuan) am Tag der Sommersonnenwende die Sonne in der Tagesmitte keinen Schatten mehr wirft, denn so nahe am Äquator steht sie mittags senkrecht am Zenith. Das verglich er mit ihrem Schattenwurf in Alexandria am gleichen Tag zur gleichen Zeit. Hier, nördlicher, steht die Sonne tiefer. Ihr Abstand zum Zenith sollte einem Fünfzigstel des Erdumfanges entsprechen, überlegte Eratosthenes mit Hilfe der Geometrie.

Um aus dieser Winkelmessung auf den Erdumfang zu schließen, benötigte der Mathematiker noch die Entfernung zwischen Alexandria und Syene. Heute wissen wir, dass es 850 Kilometer sind. Erastothenes setzte sie mit 5000 griechischen Stadien an. Vielleicht hatte er diese Information aus der hoch organisierten Verwaltung des antiken Ägyptens, zum Beispiel aus durchschnittlichen Reisezeiten von Kamelkarawanen oder Nilschiffen. Jedenfalls kam er so auf einen Erdumfang von 250.000 Stadien. Diese Schätzung liegt, umgerechnet auf Kilometer, nur ein Prozent neben dem modernen Wert des Erdumfangs.

Angesichts der Ungenauigkeiten in den Daten war Eratosthenes' Schätzung verblüffend präzise, sicher hatte er auch etwas Glück. Bei seiner Rechnung verwendete er euklidische Geometrie und machte drei Annahmen: Erstens sei die Erde eine Kugel, zweitens die Sonne sehr weit entfernt, sodass ihre Strahlen parallel einfallen, und drittens seien Alexandria und Syene auf dem gleichen Längengrad gelegen. Eratosthenes ging also wie moderne Wissenschaftler vor: Er entwarf ein mathematisches Modell, fütterte es mit Messdaten und erhielt so den Erdumfang. Diese Zahl lag weit jenseits der Maßstäbe damaliger Menschen, die vom direkten Lebensumfeld bestimmt waren. Mit dieser Erkenntnis über die Erde hatte die Menschheit also einen gewaltigen intellektuellen Sprung gemacht.


Modellbau für die Physik

Das Denken in mathematischen Modellen reicht von den Epizyklen, mit denen der griechische Astronom Klaudios Ptolemaios (etwa 100-175) die beobachteten Planetenbewegungen beschrieb, bis zum modernen Standardmodell der Elementarteilchenphysik. Letzteres beschreibt die Elementarteilchen und die Kräfte zwischen ihnen. Als quantitatives Modell kann es Prozesse in der Mikrowelt in präzise Zahlen fassen. Allerdings müssen die Physiker dazu vorher gut zwei Dutzend "freier Parameter" - sozusagen die Schrauben der Modellmaschinerie - richtig einstellen. Dieses Drehen an Parametern ist charakteristisch für Modelle, die ein begrenztes Phänomen möglichst genau beschreiben.

Modelle sind viel bescheidener als Theorien. Eine gute Theorie kommt mit wenigen freien Parametern, sprich Schrauben, aus. Im besten Fall soll sie aber die ganze Welt beschreiben - zumindest eine stark idealisierte Welt. Theorien entstehen also aus dem Konzept heraus, dass es jenseits der materiellen Welt eine Realität gibt, die mathematisch beschreibbar ist. Die Physik liefert dafür wieder schöne Beispiele. Die klassische Mechanik idealisiert ausgedehnte Körper, indem sie annimmt, dass sich ihre gesamte Masse in kleinen Schwerpunkten konzentriert.

Diese Annahme vereinfacht die mathematische Behandlung physikalischer Körper entscheidend. Der englische Physiker Isaac Newton (1643-1727) konnte so sein berühmtes Gravitationsgesetz formulieren. Danach ziehen sich zwei Körper mit den Massen m1 und m2, zum Beispiel Erde und Mond, gegenseitig mit folgender Gravitationskraft F an: F=Gm1.m2/r2, wobei r der Abstand zwischen ihren Schwerpunkten ist, in denen sich ihre Massen jeweils konzentrieren sollen. Die Konstante G sowie die Größen r, m1 und m2 sind dabei aus mathematischer Sicht freie Parameter, also die "Schrauben" der Formel. In r2 steckt jedoch eine exakte 2, keine 2,000000003 oder 1,99999995. Diese Zwei gibt Newtons Theorie präzise vor.


Ein Weltbild für das Universum

Sobald eine neue Theorie Newtons Gravitationsgesetz ablöst, ändert sich nicht allein die Formel, sondern die gesamte mathematische Struktur der Theorie. Diese Ablösung geschah tatsächlich durch Albert Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Sie beschreibt die Gravitation viel allgemeiner als geometrische Folge von Verkrümmungen der vierdimensionalen Raumzeit, die die Massen verursachen. Die Allgemeine Relativitätstheorie kennt gar keine Formel für eine solche Kraft mehr: Newtons Gravitationsgesetz ergibt sich erst als spezieller Grenzfall.

Theorien beschreiben also die Welt nur so lange in uns befriedigender Weise, bis bessere Theorien sie ersetzen. Sie sind durch unser Weltbild geprägt, das selbst im Fluss ist. Zu Newtons Weltbild gehörte noch die Absolutheit von Raum und Zeit, die von Gott gegeben sind. Albert Einstein zerstörte dieses Weltbild mit seinen beiden Relativitätstheorien in einer Zeit, in der allgemein traditionelle Weltbilder ins Wanken gerieten. Die Relativitätstheorien boten nun einen viel mächtigeren mathematischen Werkzeugkasten. Damit und mit astronomischen Beobachtungen, also Fernmessungen, konnte die Kosmologie des zwanzigsten Jahrhunderts unser Weltbild auf das gesamte Universum ausdehnen. Obwohl der Urknall weit jenseits menschlicher Maßstäbe liegt, wurde er zum Allgemeinwissen, das schon Kinder erlernen. Das ist erneut ein gewaltiger intellektueller Sprung in unserer Erkenntnis der Welt. Der Urknall ist zudem eine moderne, mathematisch formulierte

Metapher für das Alpha, den Anfang unserer Welt. Die Kosmologie bietet auch eine solche Metapher für das Omega: Nach vorläufigem Kenntnisstand wird unsere Welt in einem sich ewig ausdehnenden Universum einfrieren. Mathematische Metaphern bilden also neben Modellen und Theorien eine dritte Art ungemein mächtiger Werkzeuge der Erkenntnis. Eine mathematische Theorie ist eine Einladung, auf die Realität anwendbare Modelle zu entwickeln (oder ganz handfest damit Maschinen zu bauen). Eine mathematische Metapher ist eine Einladung zum Nachdenken über das, was wir wissen.


Metaphern als Werkzeug

Metaphern vergleichen etwas, was wir sehr gut kennen, mit etwas, was wir nicht gut kennen. Wir machen es also damit für uns besser fassbar. Eine noch junge mathematische Metapher ist die Künstliche Intelligenz. Sie umfasst auf der einen Seite gewisse Aspekte der technologisch realisierten Computerwelt. Auf der anderen Seite wird sie - inklusive Computer-Hard- und Software - gerne als Bild für die Funktionsweise biologischer Gehirne gebraucht, um diese zu veranschaulichen. Sie vermittelt so das Gefühl, etwas über das komplexeste aller Organe zu erkennen, obwohl die Hirnforschung dessen Funktionsweise längst noch nicht versteht.

Der Computer als Metapher für das Gehirn greift allerdings viel zu kurz. Sie trifft besser auf die Funktionsweise einer einzelnen Nervenzelle im Gehirn zu. Computer wie Neuronen haben schließlich eine Ein- und eine Ausgabe. Für das Gehirn als Ganzes liefert das Internet eine viel präziser zutreffende mathematische Metapher: In dem riesigen und offenen Netzwerk knüpfen Computer ständig neue Verbindungen, es kommen neue Teilnehmer hinzu, andere schalten ab - ganz ähnlich wie Neuronen im Gehirn.

An dieser Stelle könnte man einwenden, dass der Computer und das Internet ja gar keine mathematischen, sondern technische Metaphern seien. Das stimmt aber nicht, denn der Computer ist viel mehr als jede andere Maschine materialisierte Mathematik. Das mathematische Fundament der modernen, das heißt frei programmierbaren Computer ist die sogenannte Turing-Maschine. Der englische Mathematiker Alan Turing (1912-1954) erfand diesen rekursiven Algorithmus, der wie eine gedachte Maschine Werte einliest, berechnet und ausgibt.

Allerdings sollte die Turing-Maschine nicht als praktisch anwendbarer Rechner dienen, sondern als universale mathematische Methode, um logische Probleme lösen können. Sie tut dies auch erfolgreich. Turing vollzog damit den vielleicht radikalsten Schritt in der Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts. Er verwandelte das Gebiet der Logik, das seit den Griechen im Prinzip auf Sprache basierte, in einen Gegenstand reiner Berechenbarkeit: Lässt sich beweisen, dass die Turing-Maschine in ihren Rechenschleifen irgendwann stoppt, dann ist das logische Problem theoretisch lösbar - selbst wenn man praktisch die exakte Lösung nie herausbekommt. So wird eine Maschinen-Metapher zur reinsten mathematischen Metapher.

Zum Schluss können wir in bester antiker Tradition den Spieß umdrehen und uns fragen, was das Internet mit unserem Gehirn macht. Verändert es wissenschaftliches Wissen? Was wird passieren, wenn unser Denken und Wissen immer komplexer wird und sich zunehmend in große Datenbanken und Computer-Netzwerke hineinverlagert? Ich bin davon überzeugt, dass das abstrakte Denken der Mathematik sich auch in Zukunft in den Köpfen einzelner Menschen abspielen wird. Jedenfalls gilt das, solange nicht die alte Science-Fiction-Vision von ins Gehirn implantierbaren Chips Realität wird, die uns auf völlig neue Weise mit anderen Menschen und Computern vernetzen. Aber das ist pure Spekulation.

Zweifellos verändert das Internet unsere Art zu arbeiten, unseren Umgang mit Information und unsere Kommunikation untereinander. Das im Netz vorhandene Wissen wächst enorm, Neuigkeiten breiten sich viel schneller als früher aus, der Einzelne erlebt eine permanente Beschleunigung. Diese Entwicklung birgt aber auch die Gefahr, sich in Ablenkung zu verlieren anstatt tief nachzudenken. Paradoxerweise könnte also gerade das Internet das schöpferische Denken untergraben. Die vielen darin versteckten mathematischen Black-boxes würden dann zu einem Erkenntnisverlust führen. Da Menschen jedoch anpassungsfähig sind, wird die Mathematik sicher auch in Zukunft ein mächtiges Werkzeug der Erkenntnis bleiben.


Wie funktioniert Google?

Auf eine Sucheingabe produziert Google, vereinfacht gesagt, eine Liste von Webseiten. Diese Seiten enthalten das gesuchte Wort oder den gesuchten zusammengesetzten Begriff. Die Suchmaschine muss nun diese meist riesige Liste von Seiten nach ihrer inhaltlichen Relevanz sortieren. Wie aber misst Google diese Relevanz? Das Maß dafür liefern die Hypertext-Links auf den Webseiten. Ein Kriterium für die Bedeutung einer Webseite ist die Zahl der Links, mit denen andere Webseiten auf sie verweisen. Diese Auswahlstrategie verfeinert Google noch. Dazu berücksichtigt es, dass nicht alle Links gleichwertig sind: Der Link von einer wichtigen Webseite erhält ein höheres Gewicht, der von einer unwichtigen ein geringeres. Jede Seite überträgt also ihre eigene Bedeutung zu gleichen Teilen auf alle Seiten, auf die sie verlinkt. Die Bedeutung der betrachteten Webseite entsteht durch die (gewichteten) Links, über die die anderen Seiten auf sie verweisen. Das scheint zu einem Zirkelschluss zu führen, funktioniert aber. Mathematisch gesehen ist diese Strategie wohl definiert, sie basiert auf dem Markow-Theorem.


Prof. Dr. Juri Iwanowitsch Manin, 71, war bis 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Mathematik in Bonn. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Zahlentheorie, Geometrie und Mathematische Physik. Er schrieb mehr als 15 Bücher. Sein jüngstes, Mathematics as Metaphor (American Mathematical Society, 2007), vertieft in Essays die hier diskutierten Fragen.

Roland Wengenmayr, 47, ist Physiker, Wissenschaftsjournalist und Redakteur von Physik in unserer Zeit. Forschung ist für ihn Abenteuer und wichtigster Kulturmotor der Moderne. Daran, findet er, sollten über populärwissenschaftliche Texte möglichst viele Menschen teilhaben können. Er greift dafür auch gerne als Illustrator zum Zeichenstift.



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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Konstruiertes Sonnensystem: Mit geometrischen Körpern beschrieb Johannes Kepler die Planetenbahnen.
Ein kluger Kopf, leider nur noch in Stein: Eratosthenes berechnete mit Schattenlängen, Schätzungen und ausgeklügelter Geometrie einen ziemlich exakten Erdumfang.
Auch Ptolemaios beschrieb Planetenbahnen mathematisch - leider falsch (links). Isaac Newtons Gravitationsgesetz, vorgestellt in den Prinzipien, gilt noch, wenn auch als Spezialfall.
Glück gehabt: Als Albert Einstein, hier bei einer Vorlesung 1921 in Wien, die Allgemeine Relativitätstheorie formulierte, gab es die dafür nötige nichteuklidische Geometrie schon.
Pioniere des Computerzeitalters: Alan Turing brachte den Rechnern - hier eines der ersten Exemplare von 1951 - das Rechnen bei.

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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 4/2008, S. 52-57
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2009