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FORSCHUNG/186: Dr. Anna Kollatz forscht in Indien zu Mogulherrschern (forsch - Universität Bonn)


forsch Herbst/Winter 2017
Bonner Universitäts-Magazin

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Dr. Anna Kollatz forscht in Indien zu Mogulherrschern

Von Johannes Seiler


Wer mehr über den Mogulhof des 16. und 17. Jahrhunderts erfahren will, muss nach Indien reisen. Denn viele Originalquellen lassen sich nur dort in Bibliotheken einsehen. Kopien, Scans oder Mikrofilme sind die Ausnahme.


Die National Library in Kalkutta hat eine große Anzahl persischer Handschriften digital erfasst. Auch viele andere Bibliotheken in Indien halten digitalisierte Scans vor. "Allerdings sind diese nicht frei zugänglich und auch nicht aus dem Ausland bestellbar", sagt die Islamwissenschaftlerin Dr. Anna Kollatz, die unter der Leitung von Prof. Dr. Eva Orthmann "Herrschaftsrepräsentation und Zeremoniell am Mogulhof" erforscht. Manchmal gelang es Kollatz, wichtige Textpassagen als Kopie, Scan oder Mikrofilm mitzunehmen - das war aber die Ausnahme. Die indischen Archivare erlaubten nur, kleine Teile einzelner Handschriften zu kopieren - maximal ein Viertel einer Handschrift pro Person. "Die Arbeit erforderte schnelles Lesen, geschwindes Notieren und ein gutes Gedächtnis, um später die Quelle in ihrem Gesamtzusammenhang noch in Erinnerung zu haben", sagt die Wissenschaftlerin.


Selbstinszenierung der Mogulherrscher

Das Projekt über Herrscher-Repräsentationen und das Zeremoniell am Mogulhof des 16. und 17. Jahrhunderts ist Teil des neuen Sonderforschungsbereichs "Macht und Herrschaft - Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive" an der Universität Bonn. Ziel ist ein besseres Verständnis der ideologischen Selbstinszenierung der Mogulherrscher und ihres Wandels sowie der Beziehung und Beziehungspflege zwischen den Moguln und den verschiedenen Eliten. "Viele der persischen Handschriften, die hierüber Aufschluss geben, lassen sich nur direkt vor Ort, etwa in Kalkutta, Varanasi, Lucknow, Patna, Aligarh und Delhi einsehen", berichtet Kollatz. Sie war rund drei Wochen in Indien, um Bestände zu erfassen, Quellentexte zu finden und inhaltlich zu erschließen.

Der Besuch einzelner Bibliotheken war häufig nur durch Vermittlung ortsansässiger Wissenschaftler möglich. "Eine große Hilfe war mein Kollege Professor Shekhar von der Universität Delhi, der auch schon in Bonn als Gastwissenschaftler tätig war", berichtet Anna Kollatz. Aber auch in den Bibliotheken selbst hätten sich oft interessante Pausengespräche mit indischen und internationalen Forschern ergeben. Es zahlte sich also aus, vor Ort zu sein. Auch Überraschungen blieben nicht aus: Manchmal schlug sie ein hässlich eingebundenes und verschmutztes Dokument auf - und hatte plötzlich eine wunderbar illuminierte Seite vor sich.

Während ihrer ersten Reise legte Anna Kollatz von Kalkutta über Varanasi, Lucknow und Aligarh nach Delhi rund 1.500 Kilometer binnen zwei Wochen zurück. "Die Züge waren eine wunderbare Gelegenheit, Indien und seine Menschen ganz hautnah und unverfälscht kennenzulernen", erzählt die Wissenschaftlerin. Von der allein reisenden Geschäftsfrau bis zur zehnköpfigen Großfamilie, die zu einer Hochzeit fuhr, war alles dabei. Es waren vor allem etwas besser situierte Inder, denn in der "air conditioned class" reist die gehobene Mittelschicht. Die Einheimischen sorgten sich während des indischen Winters um die Forscher. "Bei Temperaturen um die 20 Grad wurden wir ständig aufgefordert, doch warme Pullover anzuziehen und uns vor einer Erkältung zu hüten", berichtet Kollatz.


Ziegen in Wollpullovern

Dass diese Sorge auch dem Vieh galt, beobachtete die Islamwissenschaftlerin vom Zug aus: Kühe waren auf den Weiden in Decken gehüllt und Ziegen trugen Wollpullover, die die Menschen zuvor ausgemustert hatten. "Ich hatte den Eindruck, dass die Tiere häufig besser ernährt waren als ihre Besitzer", merkt die Wissenschaftlerin an. In den Städten musste sie sich dagegen an Menschenmassen anpassen: In der ersten halben Stunde zu Fuß in Kalkutta war es noch schwierig, sich an das Gedränge, die Nähe, die Enge zwischen Straßenhändlern, Autos und vielen Menschen zu gewöhnen. Kollatz: "Aber schon am ersten Abend, nach dem Tee beim Chaiwallah an der Ecke, war das ein normales Gefühl." Chaiwallahs sind Teeverkäufer auf der Straße, die mit Gewürzen und Ingwer versetzten Milchtee - "Chai" genannt - anbieten. Dieses Lieblingsgetränk hat Anna Kollatz versucht nachzukochen - vergeblich. "Ich scheiterte schon am kunstvollen Zerhacken des Ingwers, der mit einem Stein zerkleinert wird." Doch voraussichtlich im Jahr 2019 ist die nächste Reise anvisiert - dann wird sie wieder Chai genießen und weitere Originaldokumente einsehen können, die bislang nicht zugänglich waren.


DER SONDERFORSCHUNGSBEREICH 1167.

Der SFB "Macht und Herrschaft - Vormoderne Konfigurationen in transkultureller Perspektive" macht es sich seit dem Sommer 2016 zunächst für vier Jahre zur Aufgabe, vormoderne politisch-gesellschaftliche Organisationsformen von Macht und Herrschaft in Asien, Europa und dem nördlichen Afrika aus transkultureller Perspektive zu untersuchen. Wechselseitige Abhängigkeiten zwischen 'gelebten', faktisch etablierten Ordnungen und ihrer Wahrnehmung, Darstellung und Kommentierung stehen im Mittelpunkt. In zeitlicher und räumlicher Breite untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Aushandeln von Macht und Herrschaft, fragen nach den Faktoren, die diese überhaupt ermöglichen, legitimieren und bedingen. Sie ergründen, wie Macht und Herrschaft an Personen gebunden oder jenseits von Persönlichkeiten umgesetzt wurden. Das interdisziplinäre Verbundprojekt erarbeitet mit seinen etwa 70 Mitgliedern ein weites Spektrum von Macht und Herrschaft in vormodernen Ordnungen anhand von schriftlichen und materiellen Zeugnissen - von altägyptischen steinernen Prunkreliefs über mittelalterliche Baudenkmäler und Wandmalereien bis hin zur tibetischen Königschronik des 17. Jahrhunderts. Der SFB umfasst 20 inhaltliche Projekte aus sieben Instituten der Philosophischen Fakultät; Sprecher ist der Historiker Prof. Dr. Matthias Becher. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert das Vorhaben mit rund neun Millionen Euro.

Informationen: https://www.sfb1167.uni-bonn.de

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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Herbst/Winter 2017, S. 34-35
herausgegeben im Auftrag des Rektorats der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
vom Dezernat Hochschulkommunikation,
Poppelsdorfer Allee 49, 53115 Bonn
Tel.: 0228/73 7647, Fax: 0228/ 73-7451
E-Mail: forsch@uni-bonn.de
Internet: www.forsch.uni-bonn.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Dezember 2017

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