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MEMORIAL/067: Vietnam vor 45 Jahren - Tet-Offensive leitete strategische Wende ein (Gerhard Feldbauer)


Vietnam vor 45 Jahren

Zum Tet-Fest leitete die Offensive des Affen die strategische Wende im Befreiungskrieg gegen die USA ein

von Gernhard Feldbauer, 28. Januar 2013



Das Mondneujahr, das traditionelle vietnamesische Tet-Fest, fiel 1968 auf den 29. und 30. Januar. Es war nach dem alten Kalender das 4.605. Mondjahr und stand nach der Folge des Tierkreises im Zeichen des Affen. Dieses größte Fest des Jahres übertrifft in seiner Bedeutung unser Weihnachts- und Neujahrsfest, ist in den tropischen Breiten zugleich Frühlingsanfang, dazu das Fest der Reisernte des zehnten Monats und nach altem Brauch auch Gedenktag für die Toten.

Meine Frau Irene (Fotoreporterin) und ich arbeiteten damals seit Juli 1967 als Korrespondenten des Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienstes, der Presseagentur der DDR, in Hanoi und berichteten über den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes gegen den Krieg, den die USA seit August 1964 mit Luftangriffen gegen Nordvietnam (das damals Demokratische Republik Vietnam hieß) und seit März 1965 mit Bodentruppen in Südvietnam zur Unterwerfung des Landes unter ihre neokoloniale Herrschaft führten.

In den frühen Morgenstunden des 31. Januar begannen Radio Hanoi und die Nachrichtenagentur der DRV Vietnam News Agency (VNA) zu berichten, dass die südvietnamesische Befreiungsarmee in der Nacht eine den Gegner völlig überraschende Offensive begonnen hatte. Sie ging in die Geschichte als Tet-Offensive, von den Vietnamesen "Offensive des Affen" genannt, ein und leitete die strategische Wende im Befreiungskrieg gegen die USA ein. Sie war ein wesentlicher Faktor, der Washington zwei Monate später nicht nur zwang, in Paris Friedensgesprächen zuzustimmen, sondern später auch die Front National de Liberátion Südvietnams (FNL) als Verhandlungspartner zu akzeptieren. Am 1. November 1968 musste US-Präsident Lyndon B. Johnson die Einstellung der Luftangriffe gegen Nordvietnam erklären. Es war das Eingeständnis der Niederlage der US Air Force in der vierjährigen Luftschlacht über Nordvietnam. Bis dahin hatte die nordvietnamesische Luftverteidigung rund 3.240 US-Flugzeuge abgeschossen, darunter eine Anzahl Hubschrauber.

Bereits seit 1966 war es dem Pentagon nicht mehr gelungen, die Verluste an Maschinen und Piloten auszugleichen. "Der Spiegel" berichtete in seiner Nr. 43/1966, dass die Amerikaner in Vietnam schon erheblich mehr Maschinen eingebüßt hätten, als ihre offiziellen Verlustziffern besagten. Schon damals, so war dem Hamburger Nachrichtenmagazin zu entnehmen, habe man angesichts der "extremen Verluste" in Washington eine Fortsetzung des Luftkriegs zu dieser Zeit für fraglich gehalten. Die Militärs hätten "nicht mit so hohen Verlustziffern" gerechnet. Die Produktion habe die entstandenen Lücken nicht schließen können. Außerdem klaffte, so "Der Spiegel", "noch ein anderes Loch: Es fehlte an Piloten". Allein die Marine-Luftwaffe habe einen Fehlbestand von 1600 Flugzeugführern verzeichnet. Die Air Force habe 1966 die Zahl ihrer Piloten-Schüler auf 2.760 erhöhen müssen.


Erbitterte Straßenkämpfe in Hue

Mit der Niederlage im Luftkrieg waren die USA auch mit dem Ziel gescheitert, die DRV zu zwingen, die Unterstützung des Befreiungskampfes im Süden einzustellen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die Befreiungsarmee zwei Drittel des Territoriums Südvietnams von der Besatzungsherrschaft befreit. Von diesem Terrain aus, von der am 17. Breitengrad (wo die in den Genfer Indochina-Abkommen von 1954 festgelegte Demarkationslinie zwischen Nord und Süd verlief) gelegenen Kreisstadt Dong Ha bis hinunter zur südlichsten Provinz Bac Lieu, setzte nun die Offensive ein. Die Befreiungsarmee griff das über 500.000 Mann starke amerikanische Expeditionskorps und die 700.000 Bajonette zählende südvietnamesische Marionettenarmee in zahlreichen Stellungen und Stützpunkten an und drang sogar in Hue und Saigon ein. Unter den angegriffenen Stellungen befanden sich 43 Kreis- und Provinzhauptstädte, Hunderte kleinere von amerikanischen oder südvietnamesischen Truppen besetzte Ortschaften sowie 20 US-Stützpunkte und Luftwaffenbasen, darunter die größten wie Bien Hoa, Pleiku und das von 30.000 Marins verteidigte Da Nang, die wochenlang im Feuer von Raketen und Granaten der Angreifer lagen.

Die amerikanischen Nachrichtenagenturen sprachen von einer Katastrophe für das Pentagon und seine Saigoner Hilfstruppen. In Hue fanden über vier Wochen schwere Straßenkämpfe statt, wehte die Fahne der FNL auf der Zitadelle der alten Kaiserstadt, ehe es der 1. amerikanischen Luftlandedivision und Marins gelang, die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. In Saigon wurde das Hauptquartier des Befehlshabers der USA, General William Westmoreland, der Generalstab der Marionettenarmee, der Präsidentenpalast und die Polizeizentrale angegriffen. Ein Stoßtrupp von 19 Mann drang in die schwer bewachte amerikanische Botschaft ein und schlug sechs Stunden die Angriffe Hunderter Marins und Special Force zurück. Danach gelang es den Befreiungskämpfern laut einem Bericht von VNA "sich vom Gegner zu lösen" und zu ihrer Einheit zurück zu kehren.

Bei einem Angriff auf den Saigoner Flugplatz Tan Son Nhut wurden 20 Flugzeuge zerstört. Die Straßenkämpfe in Saigon dauerten noch monatelang an. In den Städten, aus denen sich die FNL nach den Kämpfen zurückzog, blieben gefestigte oder neue Stützpunkte des Widerstandes zurück. War der Kampf bis dahin vor allem auf dem Lande geführt worden, so trug ihn die Tet-Offensive in die Städte, aus denen er nicht mehr verdrängt werden konnte.

Eine Schlacht bis dahin ohnegleichen fand um den schwer befestigten US-Stützpunkt Khe Sanh auf der Hochebene im nördlichen Teil Südvietnams an der Straße Nr. 9 etwa 50 km südlich der Demarkationslinie statt. Seine Besatzung zählte 6.000 amerikanische Soldaten und Offiziere, von denen ein großer Teil während einer 170 Tage dauernden Belagerung ums Leben kam. Nachdem Khe Sanh nur noch aus der Luft versorgt werden konnte, evakuierte das US-Oberkommando schließlich seine restliche Besatzung.


Enorme Verluste an Kriegsmaterial und Soldaten

Die Planung der Tet-Offensive schloss von Anfang an ein, dass die eingenommenen Städte, Stützpunkte und Stellungen des Gegners nach einer gewissen Zeit wieder aufgegeben werden mussten. Das als Niederlage zu bezeichnen, wie das Pentagon verbreitete, ging an der Realität vorbei. Es handelte sich im Gegenteil um die schwerste militärische Schlappe, welche die Amerikaner bis dahin erlitten. Die Befreiungskämpfer vernichteten rund 200.000 Mann Saigoner Truppen oder setzte sie außer Gefecht, zerstörten 1.300 Panzer und SPW sowie 90 Kriegsschiffe und Kampfboote auf Flüssen oder beschädigte sie schwer. Auf den Luftwaffenstützpunkten wurden über 100 Flugzeuge zerstört und die meisten Startbahnen unbrauchbar gemacht. In 14 Stützpunkten kapitulierten die südvietnamesischen Besatzungen. Tausende Soldaten liefen zu den Befreiungskämpfern über oder desertierten. Bei den Amerikanern verlor die 173. Luftlandebrigade zwei Drittel ihrer Soldaten. Eine Luftkavallerie- und zwei Infanteriedivisionen erlitten schwere Verluste.


Eine weitere strategische Offensive

Das US-Oberkommando leugnete dieses Desaster und sprach von einem "vollkommenen Sieg". Die Lage sei "völlig unter Kontrolle", dem "Viet Cong" eine "schwere Niederlage" beigebracht worden. Die FNL strafte das Pentagon im Mai/Juni 1968 mit einer zweiten Offensive erneut der Lügen. Sie griff gleichzeitig erneut über 120 Zentren des Gegners an. Im Mekong-Delta fanden in 16 Provinzen Kämpfe statt, in Saigon tobten wieder schwere Gefechte. Westlich von Hue erlitten die Besatzer und ihre Saigoner Söldner im A-Shau-Tal große Verluste. Insgesamt wurden 30.000 Mann außer Gefecht gesetzt, etwa 1.000 Flugzeuge abgeschossen oder am Boden zerstört, der Gegner verlor 2.200 Militärfahrzeuge, über 100 Treibstofflager oder Munitionsdepots wurden gesprengt. Die zweite Offensive verdeutlichte erneut, dass die Amerikaner die strategische Initiative verloren hatten. Zwar fanden um viele befreite Dörfer in der Ebene weiterhin Kämpfe statt, aber die FNL bestimmte von nun an die Orte größerer militärischer Auseinandersetzungen. Nach noch sieben Jahre dauernden schweren und opferreichen Kämpfen marschierten die Befreiungskämpfer dann am 29./30. April 1975 in Saigon ein und vollendeten die völlige Befreiung Südvietnams.


Irene und Gerhard Feldbauer schrieben das Buch: Sieg in Saigon. Erinnerungen an Vietnam. Pahl Rugenstein, Bonn 2005, 2. Auflage 2006.

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Quelle:
© 2013 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2013