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MEMORIAL/111: Geteilte Erinnerung - der Erste Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Geteilte Erinnerung
Der Erste Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa

Von Felix Hett und Reinhard Krumm (Hg.)
Juli 2014



INHALT

Vorwort
Reinhard Krumm

Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs
Klaus Wiegrefe

Der »Große Krieg« in Ostmitteleuropa
Krzysztof Ruchniewicz

Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts
Andrej Subow


• Drei Perspektiven aus Deutschland, Polen und Russland beleuchten die Relevanz des Ersten Weltkriegs für die heutige Erinnerungskultur und Politik in Mittel- und Osteuropa.

• Nicht erst in jüngster Zeit, so Klaus Wiegrefe, wird der Erste Weltkrieg und die ihn auslösende Juli-Krise zur Analogiebildung in ganz unterschiedlichen politischen Krisen herangezogen: Ob Kuba 1962, Afghanistan 1980 oder die Ukraine 2014 - der beliebte Rückgriff auf den Juli 1914 zeigt, dass die komplexen historischen Ereignisse unterschiedliche Deutungen und Instrumentalisierungen zulassen. Zudem scheint die unterschwellige Angst vor einem neuen großen Krieg 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs überraschend verbreitet.

• In Ostmitteleuropa ist der Erste Weltkrieg weitgehend aus der öffentlichen Erinnerung verdrängt, obwohl die Opferzahlen an der Ost- mit denen an der Westfront vergleichbar sind. Gründe dafür nennt Krzystof Ruchniewicz: Nicht nur die Überlagerung durch den für die Region besonders verheerenden Zweiten, sondern auch das positive Moment der nationalen Befreiung für Polen und Tschechen als Folge des Ersten Weltkriegs führten zu einer deutlich anderen gesellschaftlichen Erinnerung.

• West- und Osteuropa haben aus der Geschichte des Ersten Weltkriegs grundlegend andere Lehren gezogen, argumentiert der russische Historiker Andrej Subow: Während Westeuropa 1945 die Fehler von Versailles 1918 nicht wiederholte und die Besiegten in die Nachkriegsordnung einband, unterblieb ein ähnlicher Schritt im sowjetischen Machtbereich. Frieden in Europa lässt sich nur dauerhaft sichern, wenn auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion in das gemeinsame Europa integriert werden.

*

Reinhard Krumm

Vorwort

Gedenkjahre können Star-Charakter erlangen. Sobald sich ein derartiger Verdacht erhärtet, werden die Buchmärkte mit Neuveröffentlichungen überschwemmt. Zumeist erinnern Jubiläen an historische Zeitenwenden, geben Anlass für historische Reflexionen, manchmal auch zu einer Neuinterpretation der Geschehnisse. In der jüngsten Vergangenheit hatte die Jahrestroika 1989, 1990, 1991 die höchste Konjunktur im öffentlichen Gedenken. Sie symbolisiert das Ende des Kalten Krieges und den Beginn der Einigung Europas. Die Gründe der Spaltung liegen freilich mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, festgemacht an den Jahren 1917, 1933, 1939, 1941, 1945.

Zu diesen Stars gesellt sich 2014 ein hundertjähriges Gedenkjahr: 1914 begann der Erste Weltkrieg. In Europa gilt dieser Krieg und die Niederlage Deutschlands vielen als indirekter Auslöser für den nächsten Weltkrieg - als Urkatastrophe. Deshalb findet sich das Jahrhundert-Ereignis in jedem Terminkalender der europäischen Staats- und Regierungschefs dick eingetragen wieder.

In Deutschland hatte Fritz Fischers Buch »Griff nach der Weltmacht« lange die Deutungshoheit. In anderen Ländern war das Interesse eher gering. Als Alexander Solschenizyn 1971 sein Werk »August Vierzehn" publizierte, waren seine Erwartungen an die Leser und deren Resonanz groß. Der erste Band der auf insgesamt 20 Bände angelegten Geschichtsaufarbeitung »Das rote Rad« sollte für den Ersten Weltkrieg die gleiche Aufmerksamkeit und den Einfluss erreichen, wie es einst Lew Tolstoj mit seinem epochalen Werk »Krieg und Frieden" für den Krieg Russlands gegen Napoleon gelang. Doch der spätere Nobelpreisträger scheiterte.

Gut vierzig Jahre später ist das Interesse der Leser in Europa neu erwacht - die Ursachen des Ersten Weltkrieges wollen verstanden werden. Den Anfang machte der in Großbritannien lehrende australische Historiker Christopher Clark mit seinen »Schlafwandlern«. Mit über 200 in Deutschland verkauften Exemplaren feierte Clark einen bemerkenswerten Erfolg. Andere folgten und folgen noch immer.

Einer der Gründe, der freilich bei den Vorbereitungen zum Gedenkjahr nicht vorhersehbar war, ist die Relevanz des Krieges für das heutige Europa. Sie wird deutlich am Beispiel der Krise in der Ukraine. Erneut scheinen Schlafwandler unterwegs zu sein. Binnen weniger Wochen kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und ebenso schnell verlor das Land mit der Halbinsel Krim ein Gebiet an Russland. Gewaltsame Grenzverschiebungen dieser Art galten im Jahr 2014 bis vor kurzem noch als unvorstellbar.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von der Verantwortung der Zivilgesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals, so Münkler, seien die Gesellschaften heroisiert gewesen, begeistert vom Patriotismus, bereit, in den Krieg zu ziehen und zu sterben.

Das hätte sich in Westeuropa seitdem verändert, heute seien die post-heroischen Gesellschaften eingebunden in Wohlstand und Stabilität. Anders als zum Beispiel in Russland, wo sich in Teilen der Bevölkerung ein starkes Nationalgefühl entwickelt hat, das weniger für als vielmehr gegen etwas steht - und zwar gegen den unklar definierten Westen.

Um sich der Interpretation der Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleichend zu nähern, gibt die Friedrich-Ebert-Stiftung Historikern aus den drei Ländern Russland, Polen und Deutschland die Möglichkeit, in der gebotenen Kürze die Bedeutung des Ersten Weltkrieges zu analysieren. Die Beiträge beruhen auf Vorträgen, die von den Autoren Ende April 2014 bei den von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung organisierten Schlangenbader Gesprächen gehalten wurden.

*

Klaus Wiegrefe

Der lange Schatten des Ersten Weltkriegs

Hundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges erlebt das Interesse an der Juli-Krise und deren Folgen eine ungewöhnliche Renaissance. Während Politiker, Historiker, Journalisten sich beim Gedenken runder Jahrestage sonst zumeist auf die Betrachtung des historischen Ereignisses beschränken, liefern sie sich beim Ersten Weltkrieg geradezu einen Wettlauf bei der Suche nach Analogien zwischen »1914« und der Gegenwart.

Es begann im Spätsommer 2012 mit Erscheinen der englischen Originalausgabe von Christopher Clarks »Die Schlafwandler«, in dem der australische Historiker das Vorgehen der EU-Mächte in der Euro-Krise mit dem Versagen der Großmächte nach dem Attentat von Sarajewo verglich. Als dann im vergangenen Jahr der Inselstreit zwischen China und seinen Nachbarn zu eskalieren drohte, wurde ebenfalls »1914« bemüht. Die amerikanischen, dann auch deutschen Medien, setzten die asiatische Supermacht mit dem Deutschen Reich gleich und die heutigen USA mit dem damaligen britischen Empire. In der Ukraine-Krise dieses Jahr schließlich thematisierte die Bundesregierung selbst das »Versagen der Diplomatie« (Außenminister Frank-Walter Steinmeier), von der sie sich bewusst abzugrenzen suchte.

Nun haben die Euro-Krise, der südostasiatische Inselstreit und der Ukraine-Konflikt derart unterschiedliche Ursachen, Protagonisten und Verlaufsformen, dass sich die Frage aufdrängt, was die geradezu inflationär vorgetragenen Verweise auf die Juli-Krise 1914 aussagen. Zwar wird die Diskussion wohl auch durch die Lust an Zuspitzung und an originellen Thesen befeuert; dennoch steht die Vermutung im Raum, dass die Angst vor einem neuen großen Krieg knapp siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges überraschend verbreitet ist und viele Beobachter nicht einmal dem Frieden zwischen den EU-Partnern trauen. Bundespräsident Joachim Gauck hat dieser Stimmung kürzlich Ausdruck gegeben, als er im SPIEGEL erklärte, der alte Kontinent sei »zu friedlich, als dass ich wieder in Kriegsszenarien denken kann, aber wir haben auf dem Balkan gesehen, dass mitten in einem befriedeten Jahrzehnt plötzlich archaische Hassmechanismen wieder greifen können«. Solche »Ja, aber«-Sätze sind in letzter Zeit vielfach zu hören und zu lesen gewesen.

Möglicherweise hat ein Befund aus der historischen Forschung zu diesem Unbehagen beigetragen, wonach die Welt bereits vor einem Jahrhundert von einer Globalisierung geprägt war. In der Tat boomte der interkontinentale Handel vor 1914. Deutsche trugen Jacken aus indischer Baumwolle und tranken Kaffee aus Zentralamerika. Sie arbeiteten als Friseure in London, als Bäcker in St. Petersburg und als Dienstmädchen in Paris, während im Ruhrgebiet Polen schufteten. Wer es sich erlauben konnte, reiste durch Europa, ohne Pass. Professoren schrieben sich mit ihren Kollegen in Oxford oder an der Sorbonne auf Englisch oder Französisch. Solche Ähnlichkeiten zu heutigen Verhältnissen werfen fast zwangsläufig die Frage auf, ob im 21. Jahrhundert dann auch eine politische Eskalation à la 1914 möglich ist.

Die heutigen Kommentatoren stehen dabei in einer langen Tradition. Schon unter den Zeitgenossen des Krieges gab es viele - insbesondere bei den Siegermächten Frankreich und Großbritannien -, die sich mit der Frage auseinander setzten, wie es zu dem Krieg mit den Millionen Toten hatte kommen können und wie sich ein erneuter Waffengang vermeiden ließe. Vor allem die britischen Appeasement-Politiker der 1930er-Jahre handelten aus dem Bestreben heraus, die Fehler von »1914« - wie sie sich ihnen damals darstellten - nicht zu wiederholen. Dies erwies sich im Nachhinein als tragischer Irrweg, denn Hitler sah sich dadurch in seinem Expansionskurs bestätigt.

Eine Generation nach den Appeasern richteten sich die Blicke erneut auf die Juli-Krise von 1914. Es war die Hochzeit des Kalten Krieges, und spätestens während der Kuba-Krise 1962 drohte die Konfrontation zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion in einem nuklearen Schlagabtausch zu enden. US-Präsident John F. Kennedy hatte damals Barbara Tuchmans Buch »August 1914« gelesen, in dem die amerikanische Historikerin jene Irrtümer und Fehleinschätzungen schilderte, aufgrund derer Europas Staatsmänner den alten Kontinent in den Abgrund geführt hatten. Das Werk Tuchmans beeindruckte Kennedy nachhaltig und trug nach Angaben von Kennedys Bruder Robert dazu bei, dass der Präsident sich während der Kuba-Krise darum bemühte, seinen sowjetischen Gegenspieler Nikita Chruschtschow zu verstehen und ihm einen prestigewahrenden Ausweg zu ermöglichen.

Wieder eine Generation später - in Bonn regierte Helmut Schmidt mit einer sozial-liberalen Koalition - war die Juli-Krise ein weiteres Mal in aller Munde. Man schrieb das Jahr 1980. Kurz zuvor war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert, zugleich spitzte sich das amerikanisch-iranische Verhältnis zu, und ein Aufeinanderprallen der Supermächte im Mittleren Osten schien näher zu rücken. In dieser Situation warnte Schmidt, die Lage sei »ähnlich explosiv wie im Jahre 1914, als nach dem Mord von Sarajewo der Erste Weltkrieg ausbrach«. Schmidt mahnte die Supermächte, ihr Krisenmanagement zu verbessern, was ein breites mediales Echo hervorrief. Der SPIEGEL veröffentlichte damals eine Titelgeschichte mit der Zeile »Wie im August 1914? Angst vor dem Großen Krieg«.

Dieser kleine Ausflug ins 20. Jahrhundert zeigt, dass die Juli-Krise nicht erst in jüngster Zeit zur Analogiebildung in ganz unterschiedlichen politischen Krisen herangezogen wird. Die Vermutung liegt nahe, Gründe dafür auch in der Juli-Krise selbst zu suchen, die vielerlei Deutungen zulässt. Zuletzt hat Clark darauf hingewiesen, wie komplex das historische Geschehen war.

Der Versailler Vertrag von 1919 schrieb demgegenüber in großer Schlichtheit in Artikel 231 die deutsche Alleinschuld am Beginn des Krieges fest. Dieser sogenannte Kriegsschuldartikel ging auf den Anwalt und späteren US-Außenminister John Foster Dulles zurück. Dulles wollte mit der Klausel den umfassenden Reparationsanspruch der Alliierten rechtlich verankern. Die Frage, wer den Ausbruch des Weltkriegs zu verantworten hatte, hatte der Amerikaner so nicht stellen wollen. Im Rückblick schrieb er, das habe er wohl »nicht angemessen eingeschätzt«.

In Deutschland führte Artikel 231 zu einer enormen politischen Aufladung der Debatte über die Ursachen der Juli-Krise und deren Folgen. Deutschlands Historiker sahen ihre Hauptaufgabe darin, die sogenannte Versailler Kriegsschuldlüge zu widerlegen, und der Beifall der Öffentlichkeit war ihnen sicher. Viele Deutsche fanden den Gedanken schwer erträglich, die Opfer des Krieges angesichts der Niederlage nicht nur vergebens, sondern auch noch schuldhaft erbracht zu haben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich die politische Überformung der Debatte um die Juli-Krise und den Kriegsausbruch 1914 fort, nun allerdings unter anderen Vorzeichen. Der Erste Weltkrieg hatte auf deutschem Gebiet mit Ausnahme der kurzen russischen Besetzung Ostpreußens so gut wie nicht stattgefunden. Im Zweiten Weltkrieg erlebten die Deutschen hingegen zuerst den Bombenkrieg, dann die Eroberung, Besetzung und schließlich Teilung des Landes. Je nach Zählweise waren die deutschen Verluste im Zweiten doppelt bis dreimal so hoch wie im Ersten Weltkrieg. Nach dessen Ende hatte Berlin ein Sechstel des Reichsgebiets abtreten müssen, 1945 verloren die Deutschen hingegen ein Drittel des Staatsgebiets. Und während nach 1918 die Deutschen in den abgetrennten Gebieten hatten weiter leben können, endete der Zweite Weltkrieg mit der Flucht und Vertreibung von rund 12 Millionen Menschen. Hinzu kam, dass die Deutschen den Krieg nicht nur angestrebt und begonnen, sondern auch in einer beispiellosen und verbrecherischen Weise geführt und in den besetzten Gebieten Millionen Juden und Slawen umgebracht hatten.

Mag der Erste Weltkrieg die »Urkatastrophe« (George F. Kennan) des 20. Jahrhunderts gewesen sein, so war der Zweite Weltkrieg die Hauptkatastrophe der deutschen Geschichte.

Es kann insofern nicht erstaunen, dass die Suche nach den Ursachen für Hitlers Aufstieg bald auch die Debatte um den Ersten Weltkrieg und dessen Vorgeschichte überschattete. Und nach und nach räumten westdeutsche Historiker die nationalapologetischen Positionen der Zwischenkriegszeit ab, allen voran der in Hamburg lehrende Fritz Fischer, dessen Buch »Griff nach der Weltmacht« 1961 ein Bestseller wurde. Fischer behauptete auf der Basis umfangreicher Archivrecherchen, die deutsche Reichsführung habe »einen erheblichen Teil der Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges« 1914 getragen. Zugleich deutete er die Möglichkeit einer Kontinuität zwischen der Außenpolitik des Kaiserreichs und des »Dritten Reiches« an und stellte damit die verbreitete Auffassung in Frage, Hitler sei ein Betriebsunfall der deutschen Geschichte gewesen.

Fischers Aussagen lösten eine der wohl schärfsten Historikerdebatten aus, die je in Deutschland geführt wurden. Sein Gegenspieler Gerhard Ritter sprach von einem »nationalen Unglück«, das Fischer über Deutschland bringe, und die seinerzeitige Bundesregierung versuchte sogar, die Verbreitung von Fischers Thesen zu behindern. Dahinter stand auch die Sorge, Fischers Forschungen könnten den nur wenige Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg gegründeten deutschen Nationalstaat grundsätzlich diskreditieren und damit die Spaltung Deutschlands in Bundesrepublik und DDR legitimieren.

Doch die Deutung der sogenannten Fischer-Schule setzte sich durch, zumindest in der Öffentlichkeit. Fischers Thesen passten zum aufkommenden Zeitgeist der 1968er Generation, die Vorstellungen von »Reich«, »Machtpolitik« sowie »Nation« und damit auch der deutschen Einheit tendenziell distanziert gegenüberstand. Der Historiker Imanuel Geiss schrieb 1972, aus den beiden Weltkriegen ergebe sich »die Notwendigkeit, sich mit einem Status minderer Macht in Europa zu bescheiden«. Die öffentliche Debatte um den Ersten Weltkrieg flaute in der Folgezeit deutlich ab und wurde dann beinahe vollständig überlagert von der Auseinandersetzung um Nationalsozialismus und Holocaust. Der Erste Weltkrieg schien dem Vergessen anheimzufallen.

Umso mehr überrascht das große öffentliche Interesse, das zum hundertsten Jahrestag zu beobachten ist, vorneweg der Erfolg der Werke von Clark und dem Politologen Herfried Münkler (»Der Große Krieg«), die es bis in die Bestsellerlisten schafften. Beide Wissenschaftler exkulpieren das Reich nicht, widmen sich aber auch dem Versagen der anderen Großmächte während der Juli-Krise und distanzieren sich auf diese Weise von Fischers Thesen. Es lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, inwieweit der kommerzielle Erfolg auf diese inhaltliche Korrektur zurückzuführen ist.

Da seit 1990 über die Berechtigung eines deutschen Nationalstaats nicht mehr gestritten wird, war zu vermuten gewesen, dass eine weitere Auseinandersetzung über den Ersten Weltkrieg in Deutschland erstmals ohne Politisierung stattfinden würde. Doch auch hundert Jahre nach seinem Beginn wirft der Erste Weltkrieg lange Schatten. Münkler leitet aus seinen Forschungen explizit politische Folgerungen ab. Es gebe Anzeichen, so argumentiert der Berliner Professor, dass die Bundesrepublik in der Vorstellung einer Alleinschuld gefangen sei. Auf dieser Basis lasse sich »kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben«. Andere Wissenschaftler wie Sönke Neitzel oder Dominik Geppert gehen weiter und fordern unter Verweis auf Clark und Münkler, dem europapolitischen Konzept der supranationalen Einbindung der Bundesrepublik eine Absage zu erteilen.

Ob solche Stimmen im politischen Raum Gehör finden, wird sich zeigen. Bislang sieht es nicht danach aus. Außenminister Steinmeier hat in öffentlichen Stellungnahmen die Werke von Clark und Münkler nur als Mahnung an sich und seine Kollegen interpretiert, der »Verantwortung der Diplomatie« gerecht zu werden.

Eines zeigen solche Versuche, den Ersten Weltkrieg politisch zu instrumentalisieren, allerdings mit großer Deutlichkeit: Von einer Historisierung sind wir auch nach einem Jahrhundert weit entfernt.

*

Krzysztof Ruchniewicz

Der »Große Krieg« in Ostmitteleuropa

Am 27. Juni 2014, fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand, wurde in Sarajevo ein dem Attentäter Gavrilo Princip gewidmetes Denkmal enthüllt. Das serbische Mitglied im dreiköpfigen bosnischen Staatspräsidium, Nebojsa Radmanovic, würdigte vor über 1.000 Gästen den Attentäter als Nationalhelden. Princip verkörpere die serbische Sehnsucht nach einem einheitlichen Staat, die auch im Jahr 2014 noch unerfüllt ist.

Die Feier am Ort der Tat, die den Ersten Weltkrieg auslöste, stellt einen von vielen Versuchen dar, die Geschehnisse von vor 100 Jahren ins öffentliche Gedächtnis zurückzurufen - manchmal in einer von aktueller Politik motivierten Verkleidung. Trotz ganzer Dekaden, die uns vom Ersten Weltkrieg trennen, weckt der Krieg auch heute noch große Emotionen und ruft Kontroversen hervor.

In der Rückschau auf den Krieg durch das Prisma des heutigen Europa sind viele Gemeinsamkeiten, aber auch viele Unterschiede zu erkennen. Zum Jahrestag gab es zahlreiche neue Bücher, Veranstaltungen und große Ausstellungen. Dabei wurde deutlich, dass das Interesse im Westen Europas viel tiefgehender ist als im Osten des Kontinents. Dort wird der Erste Weltkrieg weitestgehend aus der Erinnerung verdrängt, obwohl die Opferzahlen mit denen an der Westfront durchaus vergleichbar sind.

Konsens herrscht ohne Zweifel dahingehend, dass mit dem Jahr 1914 das »lange 19. Jahrhundert« endete und mit einem der blutigsten Konflikte der Geschichte ein neues Zeitalter begann. Europa, der bisher die Welt dominierende Kontinent, verlor in Folge des Krieges an Bedeutung. Die alte Ordnung löste sich auf, ad acta gingen viele Monarchien. Auf den Ruinen der Vielvölkerreiche entstanden in Ostmitteuropa neue Staaten. In Italien, Deutschland und der UdSSR entstanden mit Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus totalitäre Systeme. Manchmal trifft man daher auf die Behauptung, der Erste Weltkrieg sei das Präludium des Zweiten Weltkriegs. Beide Kriege werden zuweilen gar als Einheit betrachtet, als zweiter »Dreißigjähriger Krieg«. Dies ist eine geistreiche Betrachtung, aber ist sie berechtigt? Der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej bemerkte während eines Vortrags in Zürich vor kurzem: »Zwar verleiht sie [diese Interpretation - Anm. des Verf.] der Deutung des Kampfes zwischen Liberalismus/Demokratie und dem rechten Totalitarismus einen durchaus passenden Rahmen, zugleich übergeht sie aber die Frage des Stalinismus bzw. Staatssozialismus. Nimmt man den bolschewistischen Gegenentwurf zum Liberalismus als Herausforderung des letzteren ernst, so stimmen weder die 30 Jahre noch der Begriff des Krieges: Das Sowjetimperium ist bekanntlich nicht an diesem gescheitert, sondern hat den jahrzehntelangen Frieden nicht überlebt«.

Doch damit haben sich die Interpretationsunterschiede nicht erschöpft. Im Ostteil des Kontinents wird der Krieg weniger als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« gesehen. Der Krieg wurde eher als Instrument zur Zielerreichung, zur Änderung der relativen Machtposition von Nationen betrachtet. Dies war die Realisierung - so Borodziej - des Sozialdarwinismus als Prinzip der Weltordnung. Für den Großteil der ostmitteleuropäischen Nationen endete der Erste Weltkrieg nicht 1918, sondern dauerte weiter an und brachte für einen Teil die Realisierung politischer Ziele, die oft im Sommer 1914 noch nicht ausformuliert waren.

Die europäische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist weiterhin geteilt. Für den Westen Europas wird die Erinnerung vor allem durch den Konflikt zwischen Frankreich, Großbritannien und Deutschland geprägt. Die Erfahrung des Stellungskriegs und das Gedenken an die Millionen getöteten Soldaten dominieren. Dies sieht man auf den zu Erinnerungsorten gewordenen Schlachtfeldern. Orte wie das Museum des Ersten Weltkriegs im französischen Peronne gibt es in Ostmitteleuropa nicht. Die Gräber der Gefallenen werden sorgfältig gepflegt. Jeden Herbst ist eine kleine, ins Revers gesteckte Mohnblume aus Papier ein rührendes Zeichen der Erinnerung an den tausendfachen Tod auf den Feldern Flanderns. Wie schwer es für die Franzosen war, das nationale Trauma zu überwinden, sieht man an der Tatsache, dass erst 1984 mit François Mitterrand und Helmut Kohl ein französischer Präsident und ein deutscher Bundeskanzler sich in Verdun die Hände reichten.

Demgegenüber spielt das Gedenken an den Ersten Weltkrieg in Ostmitteleuropa nur eine Nebenrolle auf der Erinnerungskarte des 20. Jahrhunderts. Dies ist ein eigentümliches Phänomen. Einige Fakten: Die Zerstörung der Stadt Kalisch (Kalisz) in den ersten Tagen des Krieges durch die deutsche Armee ist ein vergessenes Kriegsverbrechen. Im Winter 1914/15 fielen in den Karpaten etwa 800 Soldaten der österreich-ungarischen Armee, bei ebenso hohen Verlusten auf der russischen Seite. Während der Belagerung von Przemysl verloren etwa 120 Kriegsgefangene ihr Leben. Die Anzahl von Kriegsgefangenen an der Ostfront war höher als die an der Westfront (die Sterblichkeit schätzt man auf zehn bis 20 Prozent!). Nur wenige Historiker weisen darauf hin, dass Giftgas zum ersten Mal nicht an der Westfront, sondern in Polen im Januar 1915 eingesetzt wurde.

Welche Gründe stehen hinter der geteilten Erinnerung an den Ersten Weltkrieg? Vielleicht sollte man im Falle von Ostmitteleuropa von der teilweisen oder kompletten Nicht-Erinnerung sprechen. Mit Sicherheit kann festgestellt werden, dass viele Tschechen, Slowenen, Polen, Ukrainer, Kroaten, Slowaken, Letten oder Litauer für ein »Vaterland und einen Kaiser« kämpften und starben, der nicht ihr Kaiser war. Sie fielen in Uniformen fremder Armeen, seien es deutsche, österreichische oder russische, weit davon entfernt, die Interessen der Staaten zu akzeptieren, die sie in den Krieg geführt hatten. In ihrem Fall scheint der Begriff »Kanonenfutter« schockierend treffend. Somit war es schwierig, auf dieser Grundlage in den nächsten Jahren eine Erinnerung aufzubauen. Wozu sollte das Gedenken an Verluste und Niederlagen im Namen von Fremden den neuen, nach dem Krieg wieder entstehenden Staaten nutzen? Zu Trägern einer nationalen Kriegserinnerung konnten in einigen Fällen wenige Militäreinheiten werden, die formal für die Mächte kämpften, aber - wie sich erwies - vor allem in ihrem eigenen Interesse handelten. Polen kann hierfür ein gutes Beispiel sein. Die Legionäre von Jozef Pilsudski oder die Soldaten von Jozef Haller nahmen am Krieg teil, aber mit eigener Fahne und eigenen Zielen. In den Zwischenkriegsjahren wurde die Erinnerung an diese beiden Militärgruppen gepflegt und die Ereignisse des Großen Krieges mit späteren lokalen Kriegen verbunden. Vor allem ging es um den Weg zur Unabhängigkeit: Nicht 1914, sondern 1918 stand im Vordergrund.

Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die kommunistischen Machthaber diese Ereignisse beinahe vollkommen in Vergessenheit geraten zu lassen. Das neue Narrativ schob die bolschewistischen Aktionen in den Vordergrund. Dieser Versuch war auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt, da er auf Heuchelei angesichts der wahren Einstellung Sowjetrusslands zur polnischen Freiheit basierte. Die gesellschaftliche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg wurde auf diese Weise aber weiter zurückgedrängt.

Eine andere Erinnerungskultur bildete sich bei den Siegermächten heraus, etwa in Serbien oder Rumänien, wo die Geschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit stark auf die Heroisierung der eigenen Armeen fixiert war. Einige Folgen davon können wir noch heute beobachten, nicht zuletzt bei der eingangs erwähnten Stilisierung des Attentäters Gavrilo Princip zum serbischen Nationalhelden. Auch in den besiegten Ländern wurde das Gedenken an den Krieg kultiviert, allerdings unter anderen Vorzeichen: Der Schmerz der Niederlage sollte die Nation vereinen und zu neuer, revisionistischer Kampfkraft anspornen. Das Paradebeispiel ist die Weimarer Republik, in der der Totenkult immer radikalere Formen annahm und über den Mythos der Dolchstoßlegende gegen die Demokratie ins Feld geführt wurde. In Ungarn wurden Städte und Gemeinden verpflichtet, den gefallenen Helden Denkmäler zu setzen. Seit 1924 feierte man am letzten Maisonntag den »Tag der Helden«, um beständig an die notwendige Revision der für Ungarn nachteiligen Nachkriegsordnung zu erinnern. Was für die Polen und Tschechen ein letztendlich positives Resultat des Krieges war - die nationale Befreiung aus den Vielvölkerstaaten -, war für die Ungarn eine Niederlage.

Ein anderer Grund für das nicht allzu große Interesse am Ersten Weltkrieg ist die Tatsache, dass für viele Länder Mittel- und Osteuropas der Krieg nicht 1918 zu Ende ging, sondern noch einige Jahre andauerte und in eine Reihe von Konflikten mit anderem Charakter überging. Es gab also »ihren« Krieg (1914-1918) und »unsere« Freiheit. 1919 dauerten in Ungarn Revolution und Konterrevolution an. Polen kämpfte bis 1921 mit Deutschland und Russland um seine Grenzen und verteidigte seine Gebietsansprüche gegen Tschechen, die Ukraine und Litauen. Die baltischen Staaten wankten an der Grenze zwischen Eigenständigkeit und dem erneuten Fall unter Moskauer Herrschaft. Erst 1923 kam es zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags zwischen Griechenland und der Türkei. Die Spannungen blieben der gesamten Region allerdings in den nächsten Jahren erhalten.

Mit der ungeheuren Zahl menschlicher Opfer, der Grausamkeiten der Besatzungsregime und der Tragweite der politischen Folgen stellte der Zweite Weltkrieg seinen Vorgänger in Mittel- und Osteuropa vollkommen in den Schatten. Die Zerstörungen radierten die bis 1939 so hart erarbeiteten Erfolge beinahe vollkommen aus. Zudem bedeutete der Siegeszug der Idee des national homogenen Staates für Millionen von Menschen den Verlust der Heimat. Die wichtigste Folge zeigte sich in der Vasallisierung Mittel- und Osteuropas durch die UdSSR.

Ein vereinheitlichtes europäisches Gedenken an den Großen Krieg bleibt auch in Zukunft unwahrscheinlich. Aber es wäre mit Sicherheit von Vorteil, wenn die Erinnerung in Ost und West um neue Motive bereichert würde. Aus Sicht der Polen wird der Erste Weltkrieg nicht als unnötiges Massaker betrachtet. Bleiben wird die Erinnerung an den von Generationen lange erhofften Konflikt der bis dahin kooperierenden Besatzungsmächte (Russland, Deutschland, Österreich), der den Weg zur Freiheit eröffnete. 2010 wurde für die Expo in Shanghai ein kurzer Film zur polnischen Geschichte gedreht. Darin fehlt das Jahr 1914. Dafür wird das Jahr 1918 aufgeführt, als das Jahr, in dem »die Unabhängigkeit ausbrach«.

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Andrej Subow

Lehren aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts

»Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt«, - dieses verdrehte Herodot-Zitat ist neuerdings häufig zu hören. Dabei hatte eher Herodot recht als die Journalisten, die diesen Satz gebrauchen. Die Geschichte lehrt tatsächlich, bedauerlicherweise schwänzen wir jedoch oft den Unterricht oder vergessen das Gelernte.

Der Erste Weltkrieg hat uns einige wichtige Lektionen erteilt, die durch den Tod vieler Millionen für immer verinnerlicht sein müssten. Doch wurden diese Lehren damals, nach 1918, nicht zur Kenntnis genommen, obwohl die Ereignisse ihre Gültigkeit überzeugend belegten. Welche Lehren sind das?

Erstens lag die Ursache des Weltkrieges 1914 im Nationalismus, der sich aus der Nationalromantik des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Diese Ideologie betrachtete Ethnien als kollektive Organismen, die Wachstum, Blütezeit und Niedergang erleben können und ums Überleben kämpfen müssen. Spencer in England, Ratzel und Spengler in Deutschland, Leontjew und Danilewski in Russland sowie viele andere haben diese Ansicht ideell untermauert.

Nationaler Egoismus und Ehrgeiz führen aber, und das ist die zweite Lehre, nicht zur nationalen Größe, sondern zur nationalen Katastrophe. Die Kulturvölker Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten das uralte Prinzip: »Hochmut kommt vor dem Fall« vollkommen vergessen. Deutschland wollte die Vorherrschaft auf dem Kontinent und befürchtete, eine günstige Gelegenheit zu versäumen. Österreich hatte einen bescheideneren Anspruch, nämlich das zerfallende Reich zu sichern, das, wie Wien nicht ganz unbegründet annahm, von den slawischen Völkern auseinandergerissen wurde. Um Kroatien, Dalmatien, das heutige Slowenien und das frisch einverleibte Bosnien nicht zu verlieren, versuchte Österreich, die unabhängigen Staaten Serbien und Montenegro unter seine Gewalt zu bringen. Auch Italien war dem Krieg nicht abgeneigt, zögerte aber mit der Wahl des Gegners: Rom wollte sowohl Savoyen und Nizza von Frankreich als auch die österreichischen Gebiete Tirol, Istrien und Dalmatien. Der Bevölkerung wurde eingebläut, dass Gebiets- und Machtgewinne Menschen glücklich machen. Natürlich war dies eine Täuschung. Aber die Mehrheit ging grundsätzlich davon aus, auf Kosten von anderen glücklich sein zu können. Europa war von Gier und Immoralität beherrscht. Philosophen rechtfertigten diesen geistigen Zustand damit, dass christliche Werte nicht für Handlungen von Volkskörpern gälten: »Wenn es eine Moral des historischen Prozesses gibt, so entspricht diese nicht der Moral des Einzelnen«, schrieb beispielsweise Nikolai Berdjajew.

Erst die Katastrophe des Ersten Weltkrieges zeigte anschaulich, dass es keine großen und kleinen, keine wertvollen und wertlosen Völker gibt. Jedes Volk ist wertvoll und hat das Recht auf Existenz und Selbstverwirklichung. Mit diesem Grundsatz kam der amerikanische Präsident, der große Humanist Woodrow Wilson zur Friedenskonferenz nach Versailles. In ihrer Folge wurde das Europa der Imperien zu einem Europa der Nationalstaaten. Nationale Grenzen erwiesen sich aber als Provisorium. Trotz zahlreicher Volksabstimmungen, mit denen der Wille der Einwohner bestimmter Regionen erfragt werden sollte, blieben die politischen Grenzen instabil, da sie unvermeidlich mitten durch Ethnien verliefen.

Auf intellektueller Ebene gelang Europa die Überwindung der geistigen Irrwege, die zur Tragödie von 1914 geführt hatten. Für europäische Denker hatte nunmehr nicht die Ethnie, sondern die Person den höchsten Wert. Davon waren sowohl französische Vertreter des christlichen Personalismus um Mounier als auch die deutschen Existenzialisten Jaspers und Heidegger überzeugt. Den zentralen Platz des Menschen in der Geschichte deklarierte der große englische Denker Toynbee mit großer Bestimmtheit, ebenso wie auch die russischen Philosophen Berdjajew, Fedotow und Wyscheslawzew. In den Gesellschaften dominierte aber weiterhin das Gedankengut des 19. Jahrhunderts. Der Weltkrieg brachte keine Läuterung, sondern erfüllte den Durchschnittsbürger mit dem bitteren Wunsch nach Revanche oder dem egoistischen Bestreben, den günstigen Status quo zu erhalten. Die Wahrnehmung der Nation als Organismus erweckte totalitäre Regime zum Leben: Das kommunistische Russland erklärte mehrere soziale Gruppen zu Parasiten (d.h. zu fremden und für den Körper schädlichen Lebewesen, die zu beseitigen sind). Im Nationalsozialismus wurde die Nation als Ganzheit empfunden, deren Willen durch den Führer verkörpert wird. Minderwertige Rassen und Völker sollten ausgerottet oder erobert werden.

Es war ganz natürlich, dass solche Überzeugungen, verstärkt durch das Gefühl der Demütigung der Besiegten (bei den Deutschen), der Enttäuschung eines Teils der Sieger (bei den Italienern), des Messianismus der Verkünder der künftigen klassenlosen Gesellschaft (bei den Kommunisten/Internationalisten) und durch das Auseinanderklaffen zwischen politischen und ethnischen Grenzen zwei Jahrzehnte nach Versailles zu einem neuen, schrecklicheren Weltkrieg führten.

In der Friedenspolitik nach 1945 gab es grundlegende Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa. Die westlichen Alliierten hatten aus der tragischen Erfahrung von Versailles gelernt und bauten die Beziehungen zwischen den Siegern und den Besiegten auf der Basis völlig neuer Grundsätze auf.

• Erstens war es ein Frieden ohne Annexionen. Die westlichen Grenzen Deutschlands und Italiens sowie die deutsche Nordgrenze blieben letztlich so, wie sie vor Beginn der Expansion Hitlers im März 1938 verlaufen waren. Die Unverrückbarkeit der Grenzen hatte zur Folge, dass die Siedlungsgebiete der einzelnen ethnischen Gruppen unverändert blieben. Zwangsumsiedlungen blieben aus.

• Zweitens war es ein Frieden ohne verheerende Reparationen. Während der Versailler Vertrag massive Zahlungen zugunsten der Sieger in Höhe von etwa 100.000 Tonnen Gold vorsah,(1) verzichteten die westlichen Alliierten nach 1945 auf Reparationen. Ganz im Gegenteil: für das besiegte Deutschland, das zerstörte Österreich und das verarmte Italien leisteten die USA eine umfangreiche Wiederaufbauhilfe. Der Marshallplan erstreckte sich ab 1948 auf die besiegten Achsenmächte und die europäischen Siegerstaaten gleichermaßen.

• Drittens wurde der Gesinnung der Deutschen, Österreicher und Italiener durch eine konsequente Entnazifizierungspolitik große Beachtung geschenkt. Die liberalen Wertvorstellungen der westlichen Alliierten wurden der Bevölkerung der ehemals totalitären Staaten Westeuropas über das Bildungssystem und Kultureinrichtungen schrittweise, aber nachdrücklich vermittelt. Die Besatzungsmächte wurden dabei wesentlich von Politikern wie Adenauer in Deutschland oder Andreotti in Italien unterstützt, die in Opposition zum Totalitarismus gestanden hatten.

Dank der Veränderungen im Bewusstsein konnten die besiegten Achsenmächte schrittweise, im historischen Maßstab allerdings recht schnell, als gleichwertige Partner in die europäischen und atlantischen Wirtschafts- und Verteidigungsstrukturen integriert werden. So entstand, was es in Europa zuvor nie gegeben hatte: eine freie Staatenunion mit gemeinsamen Politik-, Wirtschafts- und Militärstrukturen, die sich von Irland bis Finnland und von Norwegen bis Malta erstreckte. Der Krieg wurde aus dem vereinten Europa verbannt.

Der europäische Osten ging nach 1945 einen anderen Weg. Es war der traditionelle Weg der Entmachtung der Besiegten, den Europa in Versailles gewählt hatte und der es zwanzig Jahre später in den Zweiten Weltkrieg gestürzt hatte:

• Die Grenzen wurden vollkommen neu definiert. Dabei wurden nicht nur Territorien der Verlierer den Siegern zugeschlagen. Auch Opfer des nationalsozialistischen Angriffskriegs mussten Gebiete an die Sowjetunion abtreten. So verlor Polen die östliche Hälfte seines Staatsgebiets von 1939, die Tschechoslowakei gab die Karpatenukraine ab. Die Verschiebung der Grenzen ging mit massenhaften Zwangsumsiedlungen einher, nicht nur der kompletten deutschen Bevölkerung. Polen wurden aus der UdSSR in die Volksrepublik Polen, Ukrainer aus Polen in die Sowjetunion umgesiedelt. Etwas Vergleichbares hatte es in Europa auch nach dem Frieden von Versailles nicht gegeben.

• Die sowjetischen Besatzungszonen mussten enorme Reparationszahlungen leisten. Nach Angaben der sogenannten Hauptbehörde für Kriegsbeute wurden allein aus Deutschland etwa 400 Eisenbahnwaggons in die UdSSR transportiert, darunter die Ausstattung von fast 3 Fabriken und 100 Kraftwerken. In der Sowjetunion verschwanden Goldreserven vieler besetzter Staaten. Die sowjetische Elite eignete sich 60 Flügel, 265 Wand- und Standuhren, über eine Million Mäntel und etwa eine Million Möbelstücke an. Bis heute wird in Deutschland angenommen, dass etwa 200 museale Ausstellungsstücke und zwei Millionen Bücher illegal in die UdSSR ausgeführt und nicht zurückgegeben wurden. Auch ungarische, tschechoslowakische, polnische und österreichische Städte wurden geplündert.

• Schließlich blieb in allen Staaten der Sowjetzone eine Aufarbeitung des Totalitarismus aus. Eine totalitäre Ideologie wurde durch eine andere ersetzt. Den Platz des Faschismus oder Nationalsozialismus nahm nun der Kommunismus ein, der mit äußerster Härte durchgesetzt wurde. Andersdenkende wurden unter Stalin vernichtet und unter Chruschtschow und Breschnew von der Arbeit entlassen oder in Lagern inhaftiert.

Während in Westeuropa eine Union von unterschiedlich großen, jedoch gleichberechtigten Nationen von Großbritannien bis Liechtenstein aufgebaut wurde, waren die Länder Osteuropas keine Partner, sondern Satellitenstaaten, die nur so viel durften wie Moskau gestattete. Hier galt das Prinzip der »beschränkten Souveränität«, die sogenannte Breschnew-Doktrin. Die UdSSR behielt sich das Recht vor, einzugreifen und die Regime, die es nicht schafften, für Gehorsam den Kommunisten gegenüber zu sorgen, auszuwechseln. 1953 wurde der Aufstand in der DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1981 in Polen gewaltsam niedergeschlagen.

Europas unterschiedlich verlief. Der westliche Teil wuchs immer stärker zusammen, da die Politik nach 1945 das richtige Fazit aus zwei europäischen Kriegen des 20. Jahrhunderts und den Fehlern der Befriedung von Versailles gezogen hatte. Der östliche Teil Europas träumte davon, der UdSSR zu entfliehen und dem Westblock beizutreten. Nur die Macht der sowjetischen Kriegsmaschinerie hielt die Staaten des Warschauer Vertrages im Einflussbereich des Kremls. Als in den Jahren 1989-1991 der rasche Zerfall der UdSSR einsetzte, strömten ihre osteuropäischen Verbündeten sofort in westliche Bündnisse. Mit ihnen zusammen wurden die baltischen »Republiken« der Sowjetunion, Estland, Lettland und Litauen, Teil von Europa.

Für die osteuropäischen Staaten galten 1990 die gleichen Regeln wie für Westeuropa nach 1945: Es gab keine Neuziehung der Grenzen (abgesehen von der Teilung von Vielvölkerstaaten wie Jugoslawien und der Tschechoslowakei); es wurde Wirtschaftshilfe geleistet; die neuen europäischen Staaten waren mit dem »alten Europa« gleichberechtigt; die ethnische und konfessionelle Zusammensetzung der in Europa aufgenommenen Nationen wurde berücksichtigt. So wurden etwa nach dem Beitritt Estlands zur Eurozone die neuen, 2013 gedruckten Euroscheine aus Respekt vor der russischsprachigen Bevölkerung dieses kleinen Staates auch in kyrillischer Schrift gekennzeichnet. Verpflichtend bei der europäischen Integration war eine Aufarbeitung des Totalitarismus. Die kommunistischen Regime wurden für verbrecherisch erklärt; die Widerstandskämpfer und die Opfer des Totalitarismus wurden zu Helden. Die osteuropäischen Gesellschaften mussten demokratische politische Systeme aufbauen, unabhängige Gerichte etablieren, das nationalisierte Eigentum zurückgeben, wirtschaftliche Freiheit sichern und den Vorrang von Menschenrechten garantieren.

Zwei Jahrzehnte später kann man die positiven Ergebnisse dieser neuen Stufe der europäischen Integration sehen. Heute beginnt mit der Eingliederung postsowjetischer Staaten die dritte Integrationsstufe. Führend sind hier Georgien, Moldawien und die Ukraine. Die heutige Regierung der Russischen Föderation betrachtet diese dritte Integrationsphase als einen Nachteil für Russland. Meiner Meinung nach ist dies ein großer Irrtum. Je früher Russland beginnt, in Europa nicht einen Gegenspieler, sondern das eigene Integrationsziel zu sehen, desto stärker werden Russland und seine postsowjetischen Nachbarstaaten davon profitieren. Erst wenn der gesamte postsowjetische Raum auf der Basis der Prinzipien von 1945 und 1990 Europa beitritt, wird die 1945 in Westeuropa begonnene Entwicklung erfolgreich abgeschlossen und der Krieg nachhaltig aus Europa verbannt sein. Erst dann wird es möglich sein zu sagen, dass die Lehren des Ersten Weltkrieges von allen Nationen auf unserem Kontinent tatsächlich verinnerlicht wurden.



Anmerkung

(1) Der Betrag wurde im Nachhinein mehrfach deutlich reduziert; die Reparationen wurden von Deutschland jedoch erst 2010 vollständig geleistet.



Über die Autoren

Reinhard Krumm leitet das Referat Mittel- und Osteuropa der FES in Berlin.

Felix Hett ist Referent für Belarus, die Russische Föderation und die Ukraine im Referat Mittel- und Osteuropa der FES in Berlin.

Krzysztof Ruchniewicz ist Direktor und Leiter des Lehrstuhls für Geschichte des Willy Brandt Zentrums für Deutschland- und Europastudien der Universität Wroclaw.

Andrej Subow ist Historiker und lehrt u.a. am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) sowie an der Apostel-Johannes-Universität der Russisch-Orthodoxen Kirche. Er ist Autor des breit diskutierten Buches »Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert« (2009).

Klaus Wiegrefe ist Autor beim SPIEGEL und dort zuständig für den Bereich Zeitgeschichte. Der promovierte Historiker ist Herausgeber und Autor zahlreicher Bücher zur deutschen und internationalen Geschichte im 20. Jahrhundert.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2014