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MEMORIAL/143: Italien - Ausrufung der Demokratischen Republik wurde 1861 von der Bourgeoisie verhindert (Gerhard Feldbauer)


Mit der Ausrufung von Vittorio Emanuele II. zum König von Italien kam die konservative Bourgeoisie 1861 der Ausrufung der Demokratischen Republik zuvor

von Gerhard Feldbauer, 19. Februar 2016


Als sich im April 1860 die Bauern auf Sizilien gegen das Besatzungsregime der Bourbonnen erhoben, kam ihnen der Revolutionsgeneral und Führer der Demokraten, Giuseppe Garibaldi, mit 1.000 Mann seiner Rothemden auf zwei gekaperten Dampfschiffen zu Hilfe.


Gemälde - Tancredi Scarpelli [Public domain], via Wikimedia Commons

Garibaldi landet bei Marsala
Tancredi Scarpelli (1866-1937)
[Public domain], via Wikimedia Commons

Am 11. Mai ging der "Zug der Tausend" bei Marsala an Land. Am nächsten Tag wurden die bourbonischen Truppen bei Calatafimi geschlagen. Aus der Bevölkerung strömten Garibaldi in großer Zahl Freiwillige zu. Am 14. März bildete er eine revolutionäre Regierung, setzte die bourbonische Verwaltung auf allen Ebenen ab und berief alle Männer zwischen 18 und 50 Jahren zum Militärdienst ein. Zu den wichtigsten sozialen Dekreten gehörte die Übergabe der Gemeindeländer an die Bauern und die Einberufung eines Parlaments. Nachdem die Bourbonen beim Versuch, die Insel zurückzuerobern erneut eine Niederlage erlitten hatten, überquerte Garbaldi am 18. August die Meerenge von Messina und landete bei Reggio Calabria. Unter den Aufständen der Bevölkerung brach das Bourbonenregime zusammen. Franz II. floh mit dem Rest seiner Truppen nach der Festung Gaeta. An der Spitze der revolutionären Regierung beherrschte Garibaldi ganz Süditalien und bereitete sich auf die Einnahme des unter der weltlichen Herrschaft des Papstes stehenden Roms (des Kirchenstaates) vor.


Garibaldi stand vor der Einnahme Roms

Die bevorstehende Einnahme Roms durch den Volkshelden rief die Großbourgeoisie mit ihrem Führer Graf Benso von Cavour, Ministerpräsident des Königreichs Piemont, auf den Plan, der entschieden für die nationale Einheit in Form der Monarchie eintrat. Garibaldi zu folgen, hätte eine Aufwertung des Einflusses der kleinbürgerlichen Demokraten mit Giuseppe Mazzini (zusammen mit Garibaldi deren Führer) an der Spitze und demgegenüber eine Schwächung der Macht der Bourgeoisie von Anfang an bedeutet. Obwohl die Demokraten die Monarchie nicht grundsätzlich abgelehnt hatten, befürchteten die Monarchisten, bei einem Einzug der Armee Garibaldis in Rom die Ausrufung der Republik.

Hatte Cavour bis dahin untätig verharrt, ging er am 11. September 1860 mit einem Ultimatum an den Heiligen Stuhl in die Offensive, das den Abzug der französischen Söldnertruppe des Papstes aus dem Kirchenstaat forderte. Als der Papst ablehnte, rückte Piemont mit 30.000 Mann in Umbrien und den Marken ein. Am 18. September fügte es der Armee des Papstes bei Castelfidardo eine Niederlage bei. Am 29. September eroberten die Piemontesen Ancona, den letzten Stützpunkt der französischen Truppen des Papstes. Die Herrschaft des Pontifex wurde auf das Latium und die ewige Stadt beschränkt. Damit blockierten die piemontesischen Truppen die von Garibaldi besetzte Heerstraße nach Rom. Franz II. versuchte in letzter Minute die sich abzeichnende Vereinigung Nord- und Süditaliens zu vereiteln und griff von Gaeta aus mit 40.000 Mann Garibaldis Armee an. Nach zweitägigen Kämpfen trieben die Rothemden am Abend des 2. Oktober die Söldnertruppe nach Gaeta zurück. Der Bourbonenkönig blieb in der Festung von Garibaldis Armee eingeschlossen. Am 11. Oktober beschloss das Turiner Parlament den bedingungslosen Anschluss Süd- und Mittelitaliens an Piemont-Sardinien. Es war ein Akt der Festschreibung der "Revolution von oben" dergestalt, dass Piemont-Sardinien einfach auf diese Gebiete ausgedehnt und ein demokratischer verfassungsmäßiger Weg, bei dem sich die Entscheidung über Republik oder Monarchie hätte stellen können, ausgeschlossen wurde.


Eine Nationalversammlung verhindert

Gleichzeitig wurde die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung zur Konstituierung des Nationalstaates verhindert. Die feudalen Grundbesitzer des Südens, bisher Verbündete der davon gejagten Bourbonen, stimmten gegen die Zusicherung der Bourgeoisie des Nordens, ihren Besitz nicht anzurühren, der Vereinigung mit Piemont-Sardinien zu. Ergebnis des Kompromisses zwischen Bourgeoisie und Adel war, dass die wichtigste soziale Aufgabe der Revolution, die Beseitigung des feudalen Grundbesitzes, nicht gelöst wurde.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa hat in seinem 1958 erschienenen weltberühmten Roman "Der Leopard" augenscheinlich beschrieben, was den Feudaladel bewog, auf die Seite der Revolution zu wechseln. Für Fürst Salini vom sizilianischen Hochadel sind die Piemonteser im Herbst 1860 die Feinde des Königreichs beider Sizilien, das sie sich einverleiben wollen. Er versteht nicht, wie sein Neffe, Don Tangredi, als Offizier in ihrer Kavallerie dienen kann. Der erklärt ihm, warum er die Fahne gewechselt hat. "Sind nicht auch wir dabei, so denken die Kerle sich noch die Republik aus. Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, dass sich alles verändert."

Am 17. Dezember 1860 beschloss das Turiner Parlament für den 27. Januar 1861 Wahlen für ein gesamtnationales italienisches Parlament und löste sich danach auf. An der Abstimmung konnten 1,9 Prozent der Bevölkerung teilnehmen, von denen nur 57,2 Prozent ihre Stimme abgaben. Die Wahl stellte einen großen Erfolg für die italienische Rechte mit Cavour an der Spitze dar. Seine Anhänger belegten 350 der 443 Abgeordnetensitze. Ein Großteil der neu gewählten Parlamentarier gehörte der Bourgeoisie an, 85 waren Fürsten bzw. Prinzen, 28 hohe Militärs, 72 Anwälte, 52 Universitätsprofessoren, Ärzte oder Ingenieure. Die Bauernmassen im Süden, das entstehende Proletariat im Norden, welche die aktivsten Teilnehmer am Kampf für die Einheit und Unabhängigkeit Italiens gewesen waren, blieben ausgeschlossen. Im Wesentlichen hatten nur die herrschenden Oberschichten abgestimmt.


Mit der Konterrevolution ausgesöhnt

Am 15. Februar kapitulierte der in Gaeta eingeschlossene Franz II. Ein französisches Kriegsschiff brachte ihn mit seiner Familie nach Rom, wo er als Gast Pius IX. im Exil verblieb. Nach der Kapitulation unternahm Vittorio Emanuele einen spektakulären Schritt der Aussöhnung mit der Konterrevolution des Südens. Er übernahm den General des Königreichs beider Sizilien Alessandro Nunziante in die italienische Armee. Dieser hatte 1821 die Revolution in Neapel blutig niedergeschlagen und noch im Oktober 1860 in der Schlacht gegen Garibaldi am Volturno für die Bourbonen gekämpft. Am 18. Februar 1861 trat in Turin das italienische Parlament zusammen und rief Vittorio Emanuele zum "König von Italien" aus. Nachdem dieser angenommen hatte, folgte am 18. März die Proklamation des Königreichs Italien.


Abrechnung mit dem Komplott Cavours

Garibaldi wies das königliche Angebot ab, ihn ehrenvoll für seine Leistungen zu belohnen. Seine Armee wurde aufgelöst. Seinen Rothemden wurde freigestellt, in den Dienst der königlichen Armee einzutreten. Nur ein geringer Teil ging diesen Weg. Von denen, die ausschieden, erhielten nur wenige eine Abfindung. Viele lehnten sie auch ab. Garibaldi selbst wurde zum aktiven General der königlichen Armee befördert. Er trat dieses Amt nicht an, sondern zog sich auf seinen einfachen Landsitz auf der zu Sardinien gehörenden Insel Caprera zurück. Auf der Liste der Demokraten Neapels wurde Garibaldi seit 1860 in sieben Legislaturperioden in die Abgeordnetenkammer gewählt. Im April 1861 musste die Auflösung seiner Armee offiziell im Parlament behandelt werden. Als er mit seinem traditionellen Poncho und im Rothemd auf die Rednerbühne trat, empfing ihn aus den Zuschauerreihen stürmischer Beifall, während die in Schwarz gekleideten Abgeordneten der Regierungsmehrheit in eisigem Schweigen verharrten. In einer leidenschaftlichen Rede rechnete der Revolutionsgeneral mit dem Komplott Cavours ab, mit dem die Befreiung Roms verhindert und die Gefahr eines Bruderkriegs heraufbeschworen worden war.


Foto - gemeinfrei via Wikimedia Commons

Giuseppe Garibaldi um 1866
gemeinfrei via Wikimedia Commons

Es dauerte noch 10 Jahre bis Italien nach der Niederlage Frankreichs gegen Preußen und dem Abzug der französischen Schutztruppen des Papstes am 9. Oktober 1870 dessen weltliche Herrschaft beseitigte und Rom in das Königreich eingliederte.


Unterschiede zwischen Deutschland und Italien

Manche Historiker heben gern Gemeinsamkeiten im Prozess der Herstellung des Nationalstaates in Deutschland und Italien hervor. Das beschränkt sich indessen im Wesentlichen auf den zeitlichen Abschluss 1870/71. In Deutschland war der Einheitsstaat vorwiegend das Werk des Vertreters der Junkerkaste Bismarck. Er wurde nach dem Feldzug gegen Frankreich, der als Eroberungskrieg endete, im besetzten Feindesland proklamiert. In Italien konstituierte er sich dagegen im Ergebnis des Kampfes einer nationalen Bewegung, lange Zeit revolutionär-demokratischen Charakters, und der gegen die Fremdherrschaft geführten Befreiungskriege. Während sich die deutsche Bourgeoisie 1871 der preußischen Hegemonie unterordnete und die politische Macht mit den Junkern teilte, war es in Italien umgekehrt. Die Bourgeoisie des Nordens, vertreten vor allem durch einen starken liberalen Flügel, die sich mit den Latifundistas des Südens arrangierte, indem sie deren Besitz garantierte, war bei der Proklamation des Nationalstaates die politisch führende Kraft. In Gestalt Camillo Cavour führte sie, und nicht der Turiner Hof, den "Kompromiss von oben" herbei. Das Handeln der liberalen Bourgeoisie wurde dadurch begünstigt, dass in Italien in dieser Etappe des revolutionären Prozesses noch nicht der Formierungsprozess des modernen Proletariats, das eigene Forderungen stellte, eingesetzt hatte. Die Großbourgeoisie handelte jedoch nicht aus eigenem Entschluss, sondern unter dem Druck der kleinbürgerlichen Demokraten, besonders ihres radikalen Flügels, der bis Anfang der 60er Jahre die Bewegung vor allem durch den Einfluss Garibaldis dominierte. Franz Mehring schätze ein: "Am Ende hat Cavour ein einiges Italien geschaffen, als Monarchie zwar nur, aber doch ohne alle Untersatrapen und nur mit dem Verlust von ein paar hunderttausend meist französischer Untertanen seines angestammten Königshauses an Frankreich, während Bismarck einen großen Teil Deutschlands in die preußische Kaserne gesperrt hat, mit Beibehaltung von zwei oder drei Dutzend Mittel- und Kleinstaaten und mit Opferung von acht oder zehn Millionen Deutscher an die slawischen Mehrheitsvölker in Österreich" (Gesammelte Schriften, Bd. 7 Zur deutschen Geschichte von der Revolution 1848/49 bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Berlin/DDR, 1965, S. 228). Die Spuren, die das Handeln der revolutionären Demokraten in Italien hinterließ, wirkten sich in bestimmter Weise bis ins 20. Jahrhundert aus, beeinflussten zum Beispiel den Kampf gegen Mussolini, dessen faschistische Diktatur von den Kräften des Volkes gestürzt wurde, und verleihen dem Widerstand gegen faschistische und Rechtsentwicklungen bis in die Gegenwart einen, wie man in Italien sagt, Hauch von Garibaldismus.

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Quelle:
© 2016 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2016

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