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MEMORIAL/177: Vor 50 Jahren starteten die Befreiungskämpfer in Südvietnam die Tet-Offensive (Gerhard Feldbauer)


Vor 50 Jahren starteten die Befreiungskämpfer in Südvietnam während des Tetfestes die legendäre Offensive des Affen

Sie leitete die Wende im Krieg gegen die USA ein

von Gerhard Feldbauer, 31. Januar 2018


Seit Juli 1967 befand ich mich mit meiner Frau Irene, die als Foto-Reporterin arbeitete, für ADN, die Nachrichtenagentur der DDR, und das "Neue Deutschland" zur Berichterstattung über Vietnam, Laos und Kambodscha in Hanoi. Am 29. und 30. Januar 1968 erlebten wir unser erstes Mondjahr, das traditionelle Tetfest. Nach dem alten Kalender begann das 4.605. Mondjahr, das nach der Folge des Tierkreises im Zeichen des Affen stand. An diesen Tagen wurden einmal mehr Lebensmut, Würde und die Kraft sichtbar, welche die Vietnamesen aus ihrer Kultur und Geschichte schöpften. Hanoi, dem der Krieg so viele Wunden geschlagen hatte, trug ein, wenn auch bescheidenes, Festkleid. In den Straßen wurden die bekannten Tet-Blumen verkauft: Mandelbäumchen mit zarten roten Blüten, Pfirsichblüten und Narzissen, aber auch Gladiolen, Astern, Stiefmütterchen, farbige Gerbera und dazwischen Orchideen. Am meisten gefragt waren die etwa einen Meter hohen Mandarinenbäumchen mit ihren kleinen gelbroten Früchten, die im Tetfest die Stelle unseres Weihnachtsbaumes einnahmen. Zwischen den Blumenständen wurden Früchte angeboten: Bananen, Apfelsinen, Mandarinen und Pampelmusen, große wie kleine Melonen. In einer Tombola gab es als Hauptgewinn ein Moped. Statt Glückwunschkarten wurden Spruchbänder aus rotem Papier bevorzugt, darauf Wünsche für das neue Jahr, die Familie, den Frühlingsanfang.

Trotz kriegsbedingter Rationierung hatten die Handelsorgane vorgesorgt, dass die traditionellen Festspeisen nicht fehlten. Je Einwohner, ob groß oder klein, hatte es zwei der etwa ein Kilo wiegenden Banh Chung, eine Art Kuchen aus Klebereis mit zerstampften Bohnen und Schweinefleischstücken, gegeben. Das ist für den Vietnamesen zum Tet das gleiche wie für uns die Weihnachtsstolle oder der Gänsebraten. Allerdings wurde Ban Chung nicht gebacken, sondern, in große Dongblätter eingewickelt und gekocht. Als bevorzugte Festspeisen kamen dazu Fleisch und Fisch in Nuoc Mam, der würzigen Fischsoße, gesalzene Zwiebeln und Gemüse.

In den Mittelpunkt des Mondjahres 1968 rückte jedoch ein anderes Ereignis. In der Nacht zum 1. Februar eröffnete die Befreiungsarmee in Südvietnam ihre bis dahin größte Offensive. Von der am 17. Breitengrad gelegenen Kreisstadt Dong Ha bis hinunter zur südlichsten Provinz Bac Lieu griffen die Truppen der Befreiungsfront FNL die über 500.000 Mann starke US-amerikanische Aggressionsarmee und die 700.000 Bajonette zählenden südvietnamesischen Hilfstruppen in zahlreichen Stellungen und Stützpunkten an. Unter den angegriffenen Positionen befanden sich 43 Kreis- und Provinzhauptstädte, Hunderte kleinere von amerikanischen oder südvietnamesischen Truppen besetzte Ortschaften sowie 20 Stützpunkte und Luftwaffenbasen, darunter die größten wie Bien Hoa, Da Nang und Pleiku, die wochenlang im Feuer von Raketen und Granaten der Angreifer lagen. Westliche Presseberichterstatter räumten ein, dass Kampfhandlungen dieses Ausmaßes nur mit Unterstützung der Bevölkerung möglich waren und es in vielen Städten zu regelrechten Erhebungen, darunter in Hue und Saigon, kam. In Hue fanden über vier Wochen lang erbitterte Straßenkämpfe statt, wehte die Fahne der FNL auf der Zitadelle der alten Kaiserstadt, ehe es der 1. amerikanischen Luftlandedivision und Marines gelang, die Stadt wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Die FNL zog sich schließlich zurück, um weitere Verluste zu vermeiden. Denn dort, wo sie sich festgesetzt hatte, bombardierte die US-Air Force ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung die Stadt. Auf den angegriffenen Luftwaffenstützpunkten zerstörte die FNL über 100 Flugzeuge und machte die meisten Startbahnen unbrauchbar.

In Saigon griffen die Befreiungskämpfer das Hauptquartier General Westmorelands, den Generalstab der Marionettenarmee, den Präsidentenpalast und die Polizeizentrale an. Ein Stoßtrupp von 19 Kämpfern drang in den schwer bewachten Sitz des US-Statthalters, "das Weiße Haus von Saigon", wie die amerikanische Botschaft genannt wurde, ein und schlug sechs Stunden die Angriffe Hunderter Marines und Special Force zurück. Den meisten Kämpfern gelang es, unterstützt von Einheiten vor der Botschaft, sich zurück zu ziehen. Bei einem Angriff auf den Saigoner Flugplatz Tan Son Nhut wurden 20 Flugzeuge zerstört. Die Straßenkämpfe in Saigon dauerten noch monatelang an. In den Städten, aus denen sich die FNL nach den Kämpfen zurückzog, blieben gefestigte oder neue Stützpunkte des Widerstandes zurück. War der Kampf bis dahin vor allem auf dem Lande geführt worden, so trug ihn die Tet-Offensive in die Städte, aus denen er nicht mehr verdrängt werden konnte.


USA verloren strategische Initiative

Eine Schlacht bis dahin ohnegleichen fand um den schwer befestigten US-Stützpunkt Khe Sanh statt. Er lag auf der Hochebene im nördlichen Teil Südvietnams an der Straße Nr. 9 etwa 50 km südlich der Demarkationslinie am Ben Hai und 30 Kilometer von der laotischen Grenze entfernt. Seine Besatzung zählte 6.000 amerikanische Soldaten und Offiziere, von denen ein großer Teil während einer 170 Tage dauernden Belagerung ums Leben kam. Nachdem Khe Sanh nur noch aus der Luft versorgt werden konnte, evakuierte das US-Oberkommando seine restliche Besatzung.

Die Planung der Tet-Offensive schloss von Anfang an ein, dass die eingenommenen Städte, Stützpunkte und Stellungen des Gegners nach einer gewissen Zeit wieder aufgegeben werden mussten. Das als Niederlage zu bezeichnen, ging an der Realität vorbei. Es handelte sich im Gegenteil um die schwerste militärische Niederlage, welche die Amerikaner bis dahin erlitten. Davon zeugte auch, dass die Befreiungskämpfer im Verlaufe der Tet-Offensive Saigoner Truppen in einer Stärke von rund 200.000 Mann vernichteten oder außer Gefecht setzten, 1.300 Panzer und SPW sowie 90 Kriegsschiffe und Kampfboote auf Flüssen zerstörten oder schwer beschädigten. In 14 Stützpunkten kapitulierten die südvietnamesischen Besatzungen. Tausende Soldaten liefen zu den Befreiungskämpfern über, ebenso viele desertierten. Bei den Amerikanern verlor die 173. Luftlandebrigade zwei Drittel ihrer Soldaten. Eine Luftkavallerie- und zwei Infanteriedivisionen erlitten schwere Verluste.

Die erfolgreiche Tet-Offensive stellte für das Pentagon auch eine öffentliche Blamage dar. Es hatte immer wieder verkündet, die FNL sei militärisch erledigt. Heeresgeneralstabschef Harold Johnson hatte gegenüber UPI am 22. August 1967 von "Fortschritten bei der Ausschaltung des Viet Cong" gesprochen. Fast täglich wurde in den Saigoner Medien, die wir in Hanoi verfolgten, derartiger "Optimismus" über "den baldigen Zusammenbruch des Gegners" verbreitet: "Seine Streitkräfte bestünden zum großen Teil nur noch aus Frauen und Kindern; sie hätten nichts mehr zu essen, seien von den ständigen Bombenangriffen völlig demoralisiert; nur noch durch Terror brächte der "Vietcong" seine Soldaten zum kämpfen."

Auch die Niederlage während der Tet-Offensive hielt das US-Oberkommando in Saigon nicht davon ab, nach dem die Kämpfe im Mai - von Khe Sanh abgesehen - zum Erliegen gekommen waren, erneut "einen vollkommenen Sieg" zu verkünden. Die Lage sei wieder "völlig unter Kontrolle", dem "Viet Cong" eine "schwere Niederlage" beigebracht worden. Davon blieb nichts, aber auch gar nichts übrig, als die FNL im Mai/Juni zu einer zweiten Offensive antrat. Sie griff gleichzeitig erneut über 120 Zentren des Gegners an. Einen Schwerpunkt bildete das Mekong-Delta, wo in 16 Provinzen Kämpfe stattfanden. Auch in Saigon kam es wieder zu schweren Gefechten. Westlich von Hue erlitten die Amerikaner und ihre Saigoner Söldner im A-Shau-Tal große Verluste. Insgesamt wurden 30.000 Mann außer Gefecht gesetzt, etwa 1.000 Flugzeuge abgeschossen oder am Boden zerstört, der Gegner verlor 2.200 Militärfahrzeuge, über 100 Treibstofflager oder Munitionsdepots wurden gesprengt.

Diese zweite Offensive verdeutlichte ein weiteres Mal, dass die Amerikaner die strategische Initiative verloren hatten. Zwar fanden um viele befreite Dörfer in der Ebene weiterhin Kämpfe statt, aber die FNL bestimmte von nun an die Orte größerer militärischer Auseinandersetzungen. Gleichzeitig kombinierte sie die militärische Auseinandersetzung mit ihrem politischen Auftreten und ihren diplomatischen Aktivitäten auf internationaler Ebene. Ausdruck ihres herausragenden Erfolges war, dass sie von den USA nach diesen glänzenden militärischen Siegen in Paris ab November 1968 als gleichberechtigter Verhandlungspartner zu den Friedensverhandlungen der vier Seiten (DRV/FNL und USA/Saigoner Regierung) akzeptiert werden musste. Mit der gleichzeitigen Erklärung über die Einstellung ihrer Luftangriffe gegen Nordvietnam mussten sie ihre Niederlage in der Luftschlacht gegen die DRV eingestehen.

Zu den unvergesslichen Eindrücken, die wir von Hanoi behielten, gehörte die Freude der Menschen, dass den Landsleuten im Süden ein solcher Sieg gelungen war, den sie mit aller Kraft unterstützten. Dafür waren sie der Rache der Verlierer ausgesetzt, die täglich ihre Bomben abwarfen. Die Freude war oft verhalten, denn von so vielen kämpften die Väter und Mütter, Söhne und Töchter dort mit und sie wussten, dass so mancher nicht zurückkehren würde.

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Quelle:
© 2018 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2018

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