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MEMORIAL/222: Vor 85 Jahren überfiel das faschistische Italien Äthiopien (Gerhard Feldbauer)


Vor 85 Jahren überfiel das faschistische Italien Äthiopien

Großbritannien und Frankreich beförderten die Aggression mit ihrer sogenannten Politik des Appeasement, der Beschwichtigung der Öffentlichkeit über die Kriegsvorbereitung

Von Gerhard Feldbauer, 14. Oktober 2020



Foto: Walter Mittelholzer (1894-1937), Public domain, via Wikimedia Commons

Äthiopiens Kaiser Haile Selassie im Februar 1934
Foto: Walter Mittelholzer (1894-1937), Public domain, via Wikimedia Commons

Vor 85 Jahren, am 2. Oktober 1935, verkündete Italiens faschistischer Diktator Mussolini den Überfall auf Abessinien, das heutige Äthiopien. Am nächsten Tag fiel eine über 400.000 Mann zählende Armee aus den italienischen Kolonien Eritrea und Somalia in das im zentralafrikanischen Hochland liegende Kaiserreich ein. Das strategische Ziel zu erreichen erforderte, spätestens bis Mai in der Hauptstadt Addis Abeba anzukommen, da danach durch die einsetzende Regenzeit das Gelände nicht mehr zu passieren war. Die eine halbe Million Mann starke Armee Kaiser Haile Selassies brachte die italienische Offensive trotz der großen Überlegenheit an Flugzeugen, schwerer Artillerie und Panzern im Landesinneren zum Stehen. Danach befahl Mussolini Giftgas einzusetzen. Nach vorliegenden, wahrscheinlich unvollständigen Angaben wurden über den äthiopischen Stellungen zwischen Dezember 1935 und April 1936 über 350 Tonnen Yperit [1] in 1.500 Gasbomben abgeworfen. [2] Um keine Berichte darüber an die Öffentlichkeit kommen zu lassen, ordnete der "Duce" am 30. April 1936 an, gefangen genommene Europäer, die in der äthiopischen Armee gekämpft hatten, zu erschießen. [3] Am 5. Mai 1936 zogen Paradetruppen der Kolonialarmee zu Pferd mit Marschall Pietro Badoglio an der Spitze in Addis Abeba ein.


Foto: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Mai 1936 - Militärparade italienischer Besatzungstruppen in Äthiopiens Hauptstadt Addis Abeba
Foto: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Ein barbarischer Eroberungsfeldzug, der 275.000 Äthiopiern das Leben kostete, ging vorerst zu Ende. Der Widerstand hielt bis zum Einmarsch britischer Truppen 1941, an deren Seite äthiopische Einheiten kämpften, an. Dem Kolonialterror fielen bis dahin insgesamt 750.000 Einwohner zum Opfer. Der Überfall bildete ein Vorspiel in den Abgrund des vier Jahre später beginnenden Zweiten Weltkrieges.

Die Ereignisse, die dem Überfall vorangingen - die Beschwichtigung der Öffentlichkeit über die Aggressionsvorbereitung Mussolini-Italiens gegen Äthiopien wie der Hitlerdeutschlands durch Großbritannien und Frankreich - gingen unter der Bezeichnung Appeasement in die Geschichte ein. Der von Paris und London beherrschte Völkerbund schaute dem seit dem Bruch des Versailler Friedensvertrages durch Hitler bis zur Vorbereitung der Aggression gegen Äthiopien durch Mussolini tatenlos zu.

Lassen wir die Fakten sprechen: Hitler war noch keine sechs Monate an der Macht, da ergriff London eine Initiative, die am 15. Juli 1933 zum Abschluss eines "Abkommens über die gegenseitige Zusammenarbeit und die Erhaltung des Friedens" zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland führte. Das Hauptziel des sogenannten "Viererpaktes" bestand darin, eine antisowjetische Einheitsfront herzustellen. Mit der Klausel, dass alle Europa betreffenden Angelegenheiten von den Vertragspartnern entschieden würden, sollte die UdSSR davon ausgeschlossen und politisch isoliert werden. Nach starken Protesten in der Öffentlichkeit in Frankreich und anderen europäischen Staaten ratifizierte Paris das Abkommen nicht und es trat nicht in Kraft. Trotzdem stellte der Pakt für das noch nicht konsolidierte Hitlerregime eine bedeutende politisch-moralische Unterstützung dar.

Die "Heimholung der Saar ins Reich" im Frühjahr 1935 stärkte das Hitlerregime nicht nur politisch weiter, sondern auch die schwerindustrielle Basis seiner Rüstung. Der sowjetische Außenminister Litwinov warnte: "Der Sieg an der Saar kann Hitler so sehr zu Kopf steigen, dass er noch größere Forderungen stellen wird als zuvor." [4] Diese folgten schon bald. Am 10. März erklärte Göring vor der Presse, die Reichsregierung habe den Wiederaufbau der deutschen Luftwaffe beschlossen. Ein "Lieferplan Nr. 1" legte am 1. Oktober 1935 fest, bis zum 1. April des nächsten Jahres 11.000 Maschinen herzustellen. Ebenfalls im März führte Hitler mit dem "Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht" die allgemeine Wehrpflicht wieder ein und annullierte so eine der wesentlichsten militärischen Bestimmungen des Versailler Vertrages.

Ungeachtet dieser konfrontativen Schritte Hitlers begaben sich der britische Außenminister Lord Simon und Schatzkanzler Anthony Eden zu einem Besuch Hitlers nach Berlin, in dessen Ergebnis am 18. Juni 1935 in London mit der Unterzeichnung des deutsch-britischen Flottenabkommen eine weitere Bestimmung von Versailles außer Kraft gesetzt wurde. Großbritannien gestand Hitlerdeutschland die vollständige Gleichstellung seiner Seerüstung mit Frankreich zu. Das Flottenabkommen legte für die Gesamttonnage der Kriegsflotten beider Länder ein Verhältnis von 100 zu 35 fest, wobei die deutsche U-Boot-Flotte so groß sein durfte wie die des gesamten britischen Empire. Nach einem Urteil Victor Klemperers festigte das Hitlers Stellung "aufs bedeutendste". Der Reichskanzler und Parteiführer konnte sich erneuten Erfolgs rühmen, mit dem die "Schmach von Versailles" getilgt, die "Ketten von Versailles" zerbrochen, ein weiterer Punkt des NSDAP-Programms erfüllt worden sei. [5]

Die Zulassung einer der britischen gleichen deutschen U-Boot-Tonnage erwies sich während des Zweiten Weltkrieges als von tödlicher Wirkung für Tausende britische und US-amerikanische Seeleute. Sie wurde von Deutschland noch vor Kriegsbeginn überschritten. Für Hitler war der Weg frei, eine millionenstarke Massenarmee aufzubauen, die viereinhalb Jahre später mit dem Überfall auf Polen zur Eroberung fast ganz Europas ansetzte.

Zu den wenigen konservativen Politikern, die das Flottenabkommen missbilligten, gehörte der spätere Premier Winston Churchill, der erklärte: "Meines Erachtens wird sich dieses isolierte Vorgehen Großbritanniens für die Sache des Friedens nicht als günstig erweisen." Während eines Aufenthalts 1932 in Deutschland hatte Churchill den Nazimob zwischen Hamburg und München erlebt und das Grölen "siegreich wollen wir Frankreich schlagen" gehört. Er hatte keinen Zweifel, dass der deutsche Faschismus zu allem bereit war. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien warnte er im November 1932 in einer aufsehenerregenden Rede im Unterhaus, die Regierung Seiner Majestät solle nicht glauben, "dass die Deutschen nur den Status der Gleichberechtigung fordern. (...) Alle diese Horden stämmiger teutonischer Jünglinge, die durch die Straßen und Gassen Deutschlands marschieren, (...) interessieren sich nicht für einen Status. Sie halten nach Waffen Ausschau, und wenn sie die Waffen haben, dann, glauben Sie mir, werden sie die Rückgabe ihrer verlorenen Gebiete und Kolonien fordern." [6]

Gegenüber Maiski äußerte Churchill 1935 die Ansicht, "dass Deutschland die größte Gefahr für das Empire ist", er deshalb "ein Gegner Deutschlands" sei. Er erkannte, dass Hitler nicht nur gegen die UdSSR im Osten zur Expansion rüstete, sondern auch gegen das Empire. Dabei machte er kein Hehl daraus, dass er "ein Gegner des Kommunismus" war und bleibe, erklärte aber, "um der Integrität des Empire willen bin ich zur Zusammenarbeit mit den Sowjets bereit." [7] Als die Wehrmacht im März 1936 mit 35.000 Mann in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands einmarschiert, gehört Churchill ebenfalls zu den wenigen Politikern, die vor den Konsequenzen warnten. "Der Überfall auf das Rheinland ist schwerwiegend, weil es eine Bedrohung für Holland, Belgien und Frankreich bedeutet." Es entstehe eine Befestigungslinie, die Deutschland freie Hand gebe, "nach Osten und Süden vorzudringen. (...) Die baltischen Staaten, Polen und die Tschechoslowakei, zu denen überdies Jugoslawien, Rumänien, Österreich und einige andere Länder hinzukommen, sind entscheidend in Mitleidenschaft gezogen...". Kein Politiker des Westmächte hat in dieser Zeit die von Hitlerdeutschland weltweit ausgehende Kriegsgefahr so deutlich ausgesprochen wie Churchill. Doch er blieb auch in den nächsten Jahren "ein Rufer in der Wüste". [8]

Dem gegenüber unterbreitete der stellvertretende Staatssekretär Orme Sargent am 7. Februar 1935 dem britischen Foreign Office ein Memorandum, in dem ein Krieg gegen die UdSSR regelrecht herbeigesehnt wurde. Es hieß darin, "so lange das bolschewistische Regime in Russland existiert, kann diese Expansion unmöglich nur die Form friedlichen Vorgehens annehmen." Mitte April 1935 notierte Außenminister Simon in seinem Tagebuch: Wenn Deutschland handle, dann solle das lieber nach Osten geschehen, wo dann "seine Energien für lange Zeit beschäftigt" sein würden. Der US-Historiker Hines H. Hall kommentierte: "Simon war der Ansicht, dass man Hitler ermutigen sollte, seine annexionistischen Ziele dort zu suchen". Unter diesem Gesichtspunkt hatte Simon bereits im Januar 1935 der forcierten deutschen Aufrüstung volles Verständnis entgegengebracht und gegenüber dem Kabinett erklärt, man könne von Deutschland nicht erwarten, dass es die Rüstungen, die es gerade aufbaue, verschrotte; eine "praktikable Alternative" hierzu gebe es nicht. [9]

Die antikommunistische Linie Londons entsprang der großen Sympathie, die konservative Politiker schon seit Beginn der faschistischen Machtergreifung in Rom gegenüber Mussolini bekundeten. Die Times würdigte den "Marsch auf Rom", die faschistische Machtergreifung im Oktober 1922, als "Reaktion gegen den Bolschewismus". Die Daily Mail feierte den "Duce" an der Jahreswende zu 1923 in einer Artikelserie als eine "Cromwellsche Persönlichkeit". Nach dem "Marsch auf Rom" war kaum ein halbes Jahr vergangen, da besuchte im Mai 1923 die Königsfamilie Rom, um "die guten Beziehungen zur Regierung Mussolini zu festigen". Außenminister Lord Curzon schickte dem "Duce" eine Botschaft seiner "hohen Wertschätzung". [10] Auf der Konferenz von Locarno im Oktober 1925 hofierte London Rom als "ehrenvollen Zweiten" (Sieger des Ersten Weltkrieges), der mit Großbritannien, Frankreich und Belgien die Rheingrenze garantiere.

Die Haltung Frankreichs gegenüber Hitlerdeutschland zeigte in dieser Phase gegenüber der Großbritanniens bestimmte Unterschiede. Außenminister Louis Barthou suchte, obwohl er ein erbitterter Gegner der Oktoberrevolution und der UdSSR war, die Zusammenarbeit mit ihr zu erweitern. Als einer der wenigen französischen Politiker hatte er Hitlers "Mein Kampf" im Original gelesen und war sich der von Deutschland ausgehenden Gefahr bewusst. Seine Linie stieß jedoch in der französischen Regierung auf erheblichen Widerstand. Die Vorschläge der UdSSR für einen kollektiven Sicherheitspakt, die von London rundweg abgelehnt wurden, fanden auch in Paris nur geringen Widerhall. Barthous Nachfolger Pierre Laval war weniger an einer Zusammenarbeit mit Moskau als mit Berlin gelegen.

Das entsprach der Furcht der rechten Kräfte in Frankreich vor der Volksfront, die im Ergebnis des 1934 zwischen Kommunisten und Sozialisten geschlossenen Aktionseinheitsabkommens im Frühjahr 1935 bei den Wahlen einen überwältigenden Sieg errang. Unter dem Rechtssozialisten Léon Blum bildete sie am 4. Juni ihre erste Regierung. Während die Volksfront im Inneren eine Reihe grundsätzlicher sozialer und politischer Rechte bzw. Gesetze und progressive Wirtschaftsmaßnahmen erkämpfte (Sozialgesetzgebung, Achtstundentag, bezahlten Urlaub, Nationalisierung von Zweigen der Großindustrie, Verbot der faschistischen Organisationen), kamen vergleichbare Ergebnisse in der Außenpolitik nicht zustande. Zwar wurde am 2. Mai 1935 mit der UdSSR der von Barthou vorbereitete "Vertrag über gegenseitigen Beistand" unterzeichnet, gegenüber Mussolinis Vorbereitung des Überfalls auf Äthiopien aber die Appeasement-Politik betrieben.

Neben der Haltung des französischen Außenministers Pierre Laval ermunterte besonders die Regierung Großbritanniens den "Duce" zum Überfall auf Äthiopien. Der Korrespondent des Observer gab am 23. Juni 1935 aus Rom kund, da Großbritannien "eine so bestimmte und realistische Linie zum Flottenpakt (mit Deutschland) bezogen" habe, "es umso weniger Vorwand hat, sich in den italienisch-äthiopischen Disput einzumischen."


Foto: Nikolay Petrov b. 1875 d. 1940, Public domain, via Wikimedia Commons

Der französische Pazifist, Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger von 1915 Roman Rolland mit Stalin am 28. Juni 1935
Foto: Nikolay Petrov b. 1875 d. 1940, Public domain, via Wikimedia Commons


Romain Rolland: "Wir befinden uns an einem gefährlichen Wendepunkt der Geschichte"

Auf einem vom 21. bis 25 Juni 1935 in Paris tagenden internationalen Schriftstellerkongress mit Vertretern aus 37 Ländern mit 112 Teilnehmern, darunter Johannes R. Becher, Berthold Brecht, Lion Feuchtwanger, Egon Erwin Kisch, Arthur Koestler, Heinrich Mann, Gustav Regler, Anna Seghers und Erich Weinert, appellierte Romain Rolland: "Wir befinden uns an einem gefährlichen Wendepunkt der Geschichte". Lion Feuchtwanger sah in einem Brief an Arnold Zweig den neuen Krieg "leider nahe genug". [11]

Auf der Tagesordnung des VII. Weltkongresses der Komintern vom 5. Juli bis 20. August in Moskau, auf dem von den 76 Mitgliedsparteien 65 mit 510 Delegierten vertreten waren, stand: "Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunisten im Kampf für die Volksfront gegen Krieg und Faschismus". Die in den Beschlüssen gegebene zentrale Orientierung bestand in der Schaffung einer Einheits- und Volksfront mit dem Ziel, den Faschismus zu schlagen. [12]

Der Überfall auf Äthiopien, der dann am 3. Oktober 1935 begann, stellte eine Aggression im Vorfeld des kommenden neuen Weltkrieges dar. Togliatti sprach vom "Hineinschlittern (...) in einen neuen Weltkrieg", den er als einen "Vernichtungskrieg" charakterisierte, der alles zerstören werde, "was die Grundlage des Lebens einer modernen kultivierten Nation bildet." Der britische Historiker Eric Hobsbawm, der zu dieser Zeit am King's College in Cambridge Geschichte studierte, schrieb: Man wusste, dass "ein zweiter Weltkrieg bevorstand". [13]

Italien hatte bereits am 5. Dezember 1934 mit der Provokation eines Grenzzwischenfalls von seiner Kolonie Somalia aus auf äthiopischem Gebiet bei Ual Ual (Ogaden) einen Vorwand dazu geschaffen. Auf äthiopischer Seite gab es über 100 Tote, auf italienischer 20. Mussolini lehnte von Anfang an diplomatische Vermittlungen ab und erklärte, eine Lösung werde es nur "durch den Einsatz der Waffen" geben. Äthiopiens Kaiser Haile Selassie forderte eine Untersuchung durch den Völkerbund, zu der es nie kam. Der "Duce" befahl Generalstabschef Marschall Badoglio am 30. Dezember, die Streitkräfte auf den Krieg vorzubereiten, dessen Ziel "die Vernichtung der abessinischen Armee und die vollständige Eroberung Äthiopiens sein" werde. [14]


Paris gab Carte blanche

Im Ergebnis eines Besuchs Pierre Lavals am 7. Januar 1935 in Rom vereinbarte dieser in einem Geheimvertrag mit dem "Duce" die Unterstützung der französischen Politik im Mittelmeer durch Italien, während Frankreich "freie Hand" für das italienische Vorgehen in Äthiopien gewährte. [15] London, das um seine angrenzenden Kolonien Kenia und Uganda sowie den anglo-ägyptischen Sudan fürchtete, versicherte Mussolini, dass "seine Interessen in Ostafrika nicht beeinträchtigt würden". [16] Ein interministerieller Ausschuss Londons hielt im Juni 1935 fest, dass es "keine vitalen britischen Interessen" gebe, die erforderten, "sich einer italienischen Eroberung Äthiopiens zu widersetzen". Im Rahmen der bekannten Vorbereitung des Überfalls sorgte London sich allen Ernstes, dass der italienische Eroberungsfeldzug angesichts der beträchtlichen Kampfkraft der äthiopischen Armee, die militärischen Potenzen Italiens überfordern, es zu einem "erschöpfenden afrikanischen Abenteuer" und gar zu einem Zusammenbruch des Faschismus kommen könnte. [17] Als Simon nach Beginn der Aggression gefragt wurde, warum die Engländer nicht ein Schiff im Suezkanal versenkten, um die Verbindung zu den italienischen Truppen in Äthiopien zu unterbrechen, antwortete Simon: "Wir können das nicht tun, weil das Mussolinis Sturz bedeuten würde." [18]


Foto: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Abessinische Kämpfer im Zweiten Italienisch-Äthiopischen Krieg am 3. November 1935
Foto: Autor unbekannt, Public domain, via Wikimedia Commons

Nachdem seit Dezember 1934 von Italien provozierte militärische Grenzkonflikte anhielten, schlugen Paris und London am 15. August 1935 vor, gemeinsam mit Rom über Äthiopien ein Protektorat zu verhängen. Mussolini lehnte ab, versicherte dafür in einem Interview für die Londoner Morning Post vom 18. September erneut feierlich, Italien habe nicht die Absicht, die Interessen Frankreichs und Großbritanniens in Ostafrika zu beeinträchtigen. Gleichzeitig beteuerte er, Italien werde alles Mögliche tun, um einen Konflikt mit Äthiopien zu vermeiden.

Nach dem Überfall versuchten London und Paris, dem Aggressor durch Zugeständnisse einen "legalen" Teilerfolg zu sichern. Laval und Hoare unterbreiteten am 11. Dezember einen "Plan zur Lösung der Äthiopienfrage", der vorsah, Italien große äthiopische Gebiete von Ogaden und Danakil sowie Teile der Provinz Tigre, darunter Adua, insgesamt etwa die Hälfte des Landesterritoriums, zu überlassen. Äthiopien wurde dafür der Hafen Asab und ein schmaler Zugang zu ihm versprochen. Selassie lehnte ab, der Annexion auf Raten zuzustimmen. Mussolini wies selbst diese "diplomatische Lösung" zurück. Internationale Proteste gegen den Schacher mit dem Aggressor zwangen Laval und Hoare, den Plan zurückzuziehen. London opferte Hoare, er musste demissionieren. [19]


Wirkungslose Sanktionen

Der von Paris und London beherrschte Völkerbund war 1931 beim Angriff Japans auf die chinesische Mandschurei untätig geblieben und hatte das mit der ungünstigen geografischen Lage begründet. Jetzt sein Mitgliedsland Äthiopien ebenso völlig im Stich zu lassen, hätte bedeutet, die eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. So versuchte man, das Gesicht zu wahren und verurteilte am 7. Oktober Italien als Aggressor, verhängte vier Tage darauf jedoch nur weitgehend wirkungslose wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen und überließ Äthiopien seinem Schicksal. Vom Embargo war das für den Einsatz der Luftwaffe und der Panzer entscheidende Erdöl ausgenommen, ferner Eisenerz und Kohle. Chamberlain hatte Sanktionen regelrecht als "Wahnsinn" bezeichnet. [20] Auf militärische Maßnahmen, welche die Völkerbundsatzung ebenfalls vorsah, wurde verzichtet, lediglich Waffenlieferungen untersagt. Für die Resolutionen stimmten 51 Mitgliedsstaaten, Österreich, Ungarn und Albanien dagegen.

Sieben Mitgliedsstaaten befolgten das Waffenembargo nicht, acht wendeten finanzielle Maßnahmen nicht an, zehn stellten den Warenexport nach Italien nicht ein, dreizehn importieren weiter aus Italien. Viele Völkerbundmitglieder gaben Italien heimlich zu verstehen, dass sie die Sanktionen nur formal anwenden würden. Italien erhielt Kriegsgerät und Rohstoffe aus Belgien, der Tschechoslowakei, Österreich und der Schweiz. Aus Frankreich kamen auf Kreditbasis Traktoren, Kraftwagen, Flugzeugmotoren sowie Granatwerfer. Aus Großbritannien große Mengen Treibstoff, die erst nach Abschluss des Krieges bezahlt werden mussten.

Italien stellte nach seiner Verurteilung die Mitarbeit im Völkerbund ein. Deutschland, das die Organisation bereits nach dem faschistischen Machtantritt verlassen hatte, erklärte sich formell neutral und verweigerte Zwangsmaßnahmen. Die deutschen Exporte nach Italien stiegen bei Kohle, Koks, Maschinen, Chemieerzeugnissen sowie Eisen- und Stahlprodukten bis Ende 1935 um etwa ein Drittel an. Berlin interpretierte die italienische Aggression als einen "Rassenkonflikt" und "gerechten Kampf". Mit seiner Rechtfertigung bereitete Hitler das Bündnis mit Italien in Gestalt der späteren "Achse Berlin-Rom" vor.


Foto: Bundesarchiv, Bild 102-11045 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Kein Schutz aus Genf - Das Haus des Völkerbundrates, Aufnahme vom Januar 1931
Foto: Bundesarchiv, Bild 102-11045 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Washington, das dem Völkerbund nicht angehörte, brach die Beziehungen zu Rom nicht ab. Eine bereits am 31. August 1935 vom Kongress angenommene Resolution über Neutralität spielte dem Aggressor in die Hände, weil sie den Verkauf von Waffen an beide kriegführende Parteien verbot. Für Italien war das nicht entscheidend, denn es war für den Kriegsbeginn ausreichend gerüstet. Äthiopien hingegen besaß keine Kriegsindustrie und war von Waffenimporten abhängig. Washington stellte auch seine Erdöllieferungen nach Italien nicht ein. Hatte es 1934 für 447.000 $ Erdöl geliefert, so stieg sein Export an den Aggressor bis Ende 1935 auf 1.252.000 $. Für 451.000 $ bezog Rom über seine Afrika-Kolonien Erdöl. Die USA erteilten damit gleichzeitig der von der UdSSR verfolgten Politik der kollektiven Sicherheit eine Absage.

Für wirksame Sanktionen trat nur die UdSSR ein. Sie forderte, jegliche Zufuhr von Erdöl nach Italien und zu dem Kriegsschauplatz zu unterbinden und dazu auch die Durchfahrt durch den Suezkanal zu sperren, was den Nachschub für die Kolonialarmee außerordentlich erschwert hätte. Der Völkerbund ignorierte die Anträge und Mussolini konnte ungehindert seinen verbrecherischen Feldzug fortsetzen. [21] Den begangenen Völkermord und den anhaltenden barbarischen Kolonialterror ignorierend hob die internationale Organisation die Sanktionen bereits am 16. Juli 1936 auf.


Fußnoten:

[1] Von den deutschen Chemikern Lommel und Wilhelm Steinkopf entwickelter chemischer Kampfstoff, so benannt nach der niederländischen Stadt Ypern, wo er im Ersten Weltkrieg zuerst eingesetzt wurde.

[2] Angelo Del Bocca: Le Guerre coloniali del Fascismo, Rom/Bari 1991, S. 232 ff.

[3] Gabriele Schneider: Mussolini in Afrika, Köln 2000, S. 143.

[4] Kurt Pätzold, Erika Schwarz (Hg.): Europa vor dem Abgrund, Köln 2005, S. 51.

[5] Ebd. S. 19.

[6] Ursula und Otto Weil: Churchill und der britische Imperialismus, Bd. 2, Berlin/DDR (ohne Jahrgang), S. 105 ff.

[7] Iwan Maiski: Memoiren eines sowjetischen Botschafters, Berlin/DDR 1967, S. 232.

[8] Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die UdSSR vertrat Churchill allerdings den Standpunkt: Gewinnen die Deutschen, so soll den Russen geholfen werden, gewinnen aber die Russen, so soll den Deutschen geholfen werden - mögen sie einander so viel wie möglich umbringen. Zu den Äußerungen, die an Truman anknüpften, siehe: D. F. Fleming: The Cold War and his Origins, 1917-60, Bd. I (London 1961).

[9] Pätzold/Schwarz, S. 73, 80.

[10] I Giorni della Storia d'Italia. Cronaca quotidiana dal 1815, Novara 1997, S. 383 ff.

[11] Zit. in: Pätzold/Schwarz, S. 15 und 24.

[12] Palmiro Togliatti: Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin/DDR 1977, S. 43 ff.

[13] Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 144.

[14] Marco Palla: Mussolini e il Fascismo, Florenz 1993, S. 102; Giorni, S. 455.

[15] Giorni, S. 449 ff.

[16] Palla, Ebd.

[17] Pätzold/Schwarz, S. 82 ff.

[18] Leslie Rowse: All Souls and Appeasement, London 1961, S. 26.

[19] Giorni, S. 458 f.

[20] Zu dieser Zeit Finanzminister, ab 1937 Premier, exponierter Vertreter der Konservativen, die Hitler gegen die UdSSR lenken wollten. Unterzeichnete 1938 das Münchener Abkommen. 1940 durch Churchill abgelöst.

[21] Geschichte der sowjetischen Außenpolitik, Bd. 1, Berlin/DDR 1969, S. 364 f.

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2020

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