Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2305: Familie Schwalbe - Der Vogelmann und die Giraffe (SB)


Familie Schwalbe - Der Vogelmann und die Giraffe

Unterm Dach von Herrn und Frau Schwalbe lebt auch eine Menschenfamilie, die Menschleins. Vater Menschlein beobachtet gern Vögel und mag alles lesen, was mit Vögeln zu tun hat, besonders mit Schwalben. In einem sehr alten Buch mit vielen Zeichnungen von Vögeln befindet sich auch die Geschichte über den Vogelmann. Die liest Vater Menschlein lieber allein, denn Mutter Menschlein findet, daß diese Geschichte von ausgestopften Vögel, die in irgendwelchen Museen herumstehen und von leeren Nestern, deren Eier geraubt wurden, keine erzählenswerte Gute-Nacht-Geschichte.


*


Es war einmal ein kleiner Junge. Er hieß John genau wie sein Vater. Der große John war Gärtner, sogar im königlichen Garten. Er liebte seinen Beruf und er liebte die Natur. Diese zeigte er auch dem kleinen John, seinem Sohn. Es war an einem dieser schönen Tage, an denen der große John sich die Zeit nahm, um dem kleinen John ein Stück von der Welt zu zeigen, ein kleines Stück von der Welt. Er nahm seinen Sohn hoch und ließ ihn in ein Nest hineinschauen. Dort erblickte der kleine John viele winzige Eier mit bunten Punkten. Dieser Blick in das kleine Nest erweckte in dem Jungen ein Gefühl, ein Verlangen nach mehr. Es war der Augenblick, in dem er sich in die Natur verliebte. Das erzählte er später seinen Kindern. Doch es sollte noch lange dauern, bis er die Natur so zu schätzen lernte, wie wir es heute tun, wenn wir sagen, wir lieben und schützen die Natur.

Die Zeit in der John aufwuchs liegt ungefähr 200 Jahre zurück. Damals gab es noch nicht so viele breite Straßen, so viele Fabriken und so große Städte wie heute. So weit das Auge blickte, sah man Wiesen und Wälder, die Natur war fast überall. Die Kinder hatten zwar nicht so viel Spielzeug wie heute, doch sie wußten sich zu helfen. Eines ihrer beliebten Spiele war, Vogeleier zu sammeln und sie mit nach Hause zu nehmen, um sie dort als Wandschmuck aufzustellen, aber auch, um mit ihnen zu spielen bis sie zerbrachen.

Früher gab es noch jede Menge von Vögeln. Manche waren den Bauern sogar eine rechte Plage, wenn sie sich die Samen von den frisch mit Saatgut bestreuten Feldern pickten. Keiner machte ein Aufheben davon, wenn die Kinder die Vogelnester plünderten. Auch nicht, wenn die Erwachsenen Jagd auf Vögel machten, um sie auszustopfen. Das war es auch, was der kleine John sich wünschte - auf Jagd gehen, Vögel schießen und diesen Fang dann präparieren, d.h. ihn ausstopfen und auf eine Kommode stellen oder an der Wand aufhängen. Soetwas hatte er schon oft gesehen. In den Hütten der Kleinbauern dort in Südengland hingen getrocknete Eisvögel herum. Die Bauern hängten diese toten Vögel an die Decken ihrer Hütten auf, um aus den Bewegungen, die Richtung des Windes deuten zu können.

Ja, damals kümmerte sich keiner um die Vögel, es gab einfach zu viele. Erst fast ein Jahrhundert später, genauer gesagt, erst nach 1880 wurde ein Gesetz zum Schutz der Vögel erlassen.

Wer nun der Vogelmann ist? Es ist der kleine John. Jedenfalls wollte er so genannt werden. Als er etwas älter war, machte er eine Ausbildung zum Gärtner wie sein Vater. Aber es war nicht sein Vater, der ihm das Handwerk zeigte. John muß ungefähr 14 Jahre alt gewesen sein, da zog seine Familie nach Windsor. Dort wurde sein Vater zum königlichen Gärtner berufen - in Windsor Castle bei Georg III. Der erste Gärtner hieß Aiken. Bei ihm kam der junge John in die Lehre. Eine von Johns Aufgaben war es, Löwenzahn- blätter zu pflücken, ganze Bündel davon. Denn aus diesen Blättern wurde der Lieblingstee für Charlotte, die Mutter der Königin, gebraut. Löwenzahn ist also kein Unkraut, sondern gar ein königlich geliebter Tee.

Nun, John wurde wie sein Vater zum Gärtner ausgebildet. In seiner Freizeit streunte er gern umher. Schließlich war er mit 14 Jahren ja fast noch ein Kind. Sein Wunsch war es, später einmal ein großer Präparator zu werden, einer der Tiere ausstopft und sie verkauft. Von so einem Laden muß er als Junge geträumt haben.

Einmal war er wieder unterwegs. Wie er es anstellte und mit welcher Waffe er loszog, das ist nicht bekannt. Doch es ist wahr, daß er mit seinen 14 Jahren ein Elsternpaar schoß und dieses ausstopfte. Noch heute können genau diese beiden Elstern in der Zoologischen Sammlung des Britischen Museums in Hertfortshire beschaut werden.

Nach seiner Lehre bekam John Gould eine Anstellung als Gärtner in Riply Castle in Yorkshire bei Sir William Ingilby. Schon bald ging er in den Süden Englands zurück nach London, gab den Beruf als Gärtner auf und erfüllte sich endlich seinen Traum vom Präparator. Damals war er 21 Jahre alt, als er sein Geschäft eröffnete. Vor allem stopfte John Vögel aus, präparierte aber auch Säugetiere. Das sind alle Tiere, die nicht aus Eiern stammen und sich am Anfang von der Milch ihrer Mütter ernähren. Das größte Säugetier, daß John Gould präparierte, war eine Giraffe.

Diese Giraffe hatte Georg IV. von Mehemet Ali von Ägypten geschenkt bekommen. Um sie nach England zu bringen, wurde sie auf den Rücken eines Kamels gebunden und durch die Wüste transportiert. Das arme Tier! Es war im August des Jahres 1827, da kam die Giraffe schließlich in Waterloo Bridge in London an. Von dort wurde sie in den Park von Windsor gebracht. Zwar liebte Georg IV. sein neues Haustier. Doch das allein genügt eben nicht. Die junge Giraffe hat sich nie von ihrer Verschleppung aus Afrika erholt. Und wer weiß, was sie in England für Futter erhalten hat. Schließlich wächst in England nicht das, was in Afrika wächst. Und ganz allein in einem fremden Land, das hält auch kein Tier aus. Zwei Jahre nach ihrer Ankunft in England starb die Giraffe.

Georg IV. gab nun der Firma von John Gould den Auftrag, die Giraffe auszustopfen. Der Nachfolger von Georg IV., Thronfolger Wilhelm IV., verschenkte die ausgestopfte Giraffe dann der Tiersammlung des Zoos vor Ort. Fast dreißig Jahre lang konnte die gut erhaltene Giraffe dort bewundert werden. Doch als die Tiersammlung aufgelöst wurde, erstand ein Dr. Crips das ausgestopfte Tier. Wo die Giraffe heute ist, das weiß jetzt keiner mehr.

Was aber mit dem Vogelmann weiter geschah, ist morgen dran.

19. April 2007

Gute Nacht