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GUTE-NACHT/2619: Felix wieder ganz zuhause (SB)


Wenn der Tiger eine Reise macht

Mit meiner Pfote klopfte ich auf die Bettdecke. Noch immer wartete ich ungeduldig auf Luisa, mein Frauchen. Dunkel war es im Zimmer. Nur der Mond warf ein wenig Licht durch das Fenster herein. Wo steckte Luisa heute nur so lange? Wo war sie mit ihrer Mutter hingegangen? Ab und zu hörte ich dumpfe Schritte auf dem Flur. Doch sie stammten nicht von Luisa. Es waren Vater Gustavs Schritte. Vielleicht wartete er genauso ungeduldig auf seine Frau wie ich auf seine Tochter.

Meine Pfoten klopften nun nicht mehr auf die Decke. Mein Kopf hatte sich auf meine Pfoten niedergelegt, zwischen denen die Geschenke lagen, die wie ich auf Luisa warteten.

Plötzlich, ich war wohl etwas eingenickt, hörte ich Schritte auf dem Flur und war sofort wieder hellwach. Da wurde die Tür auch schon aufgerissen und meine Luisa kam hereingestürzt. Ohne Licht zu machen, lief sie sogleich zu ihrem Bett und fand mich hier liegen. Vater Gustav hatte ja die Anweisungen, die er am Telefon erhalten hatte, genau befolgt und mich hierher gepackt.

Endlich, endlich war Luisa wieder da. Das war einfach toll! Wenn ich auch in der Stadt Lübeck eine Menge gesehen hatte, jetzt war ich froh wieder zuhause zu sein. Luisa ging es genauso. Denn nun nahm sie mich überall mit hin. Beim Abendessen durfte ich auf ihrem Schoß sitzen. Das darf ich sonst nie. Mutter sagt dann stets: "Leg ihn lieber woanders hin, sonst bekommt er noch heiße Suppe auf den Kopf." An diesem Abend sagte sie jedoch nichts. Luisa mußte sich ganz schön aufgeregt haben, als ich sie nicht von der Schule wie gewohnt abholte - wie konnte ich auch, ich war ja mit Vater Gustav in Lübeck. Auch ins Bad nahm mich Luisa später mit, wo sie sich die Zähne putzte. Dort plazierte sie mich auf der Waschmaschine, die gerade einen Schleudergang eingelegt hatte. Ich wurde ganz schön durchgeschüttelt. Danach spazierte Luisa noch einmal ins Wohnzimmer, um ihren Eltern "Gute Nacht" zu sagen. Mutter gab ihr einen Kuß auf die Stirn und streichelte mir sanft über den Kopf. Das tat sie sonst nie. "Schön weich ist dein Tiger", sagte sie, "sicher ist er so müde wie du. In Lübeck hat er schließlich eine Menge erlebt."

Stimmt! Wir hatten eine ganze Menge erlebt und Luisa hatte noch immer nicht ihre Geschenke ausgepackt. Sie hatte diese im dunklen Zimmer, als sie mich von ihrem Bett nahm, nicht gesehen. Aber an die Geschenke dachte jetzt Vater Gustav und fragte, ob ihr denn die Geschenke gefallen hätten.

"Was für Geschenke?", wollte Luisa sogleich wissen. Als Vater Gustav meinte, diese würden auf ihrem Bett liegen, stürmte sie gleich los, schnappte sich das Päckchen und den Umschlag und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Schon auf dem Weg zurück, riß sie das Päckchen und den Briefumschlag auf. Dabei klemmte sie mich ganz schön eng unter ihren Arm. Mir blieb fast die Luft weg. Aber sie wollte mich einfach nicht loslassen. Erfreut wickelte sie das Marzipanbrot aus. Denn Marzipan ist ihre Lieblingssüßigkeit. Nur noch beste Pralinen können mit Marzipan mithalten. In einem Teeladen hatte sie einmal eine einzige Praline bekommen, die so viel kostete, wie eine ganze Tafel Schokolade. Seither mag sie nur die besten Pralinen naschen. Die oder keine. Luisa ist schon ein richtiges Schleckermäulchen.

Nun war der Briefumschlag an der Reihe. Luisa holte die drei Karten heraus. Sofort erkannte sie das Bild von Jim Knopf. "Bekomme ich ein neues Buch? Gleich drei Stück?" Manchmal bekommt Luisa Gutscheine für irgendetwas geschenkt. Sie glaubte, wieder einen erhalten zu haben. Dann erst las sie: "Jim Knopf - das Musical kommt nach Lübeck! Und du kannst ihn hier treffen am ..."

Luisa freute sich. "Da gehen wir alle vier hin!" lachte sie. Dann erst merkte sie, daß sie nur drei Karten in ihrer Hand hielt und schaute betrübt. "Tiger muß aber mitkommen!" gab sie fest entschlossen von sich. "Du Dummerchen", hätte Mutter an einem anderen Tag gesagt, "Tiger brauchen keine Eintrittskarte, die dürfen so mit, allerdings nur Kuscheltiger." An diesem Abend ließ Mutter das Dummerchen lieber weg und bestätigte: "Na klar kommt Tiger mit! Schließlich hat er dir die Eintrittskarten besorgt. Du nimmst ihn einfach auf den Schoß, da kann er sowieso viel besser sehen."

Irgendwie hatte ich die Eintrittskarten vielleicht wirklich besorgt. Schließlich hatte ich mir ganz fest gewünscht, das Plakat an der Wand für Luisa mit nach Hause nehmen zu können. Vielleicht war es eine Art Gedankenübertragung, daß mein Wunsch Vater Gustav erreichte. Er sagte nämlich: "Fast hätte ich die Karten gar nicht bekommen. Doch als ich schon aus der Tür war, drehte ich mich noch einmal um und betrat erneut das Büro meines Geschäftspartners. "Na, schon wieder da?" fragte dieser lachend. Ich sagte: "Mir war, als hätte ich etwas vergessen!" - "Vielleicht das hier?" sagte mein Geschäftspartner und überreichte mir die drei Karten. "Sie haben doch eine kleine Tochter. Ich bin leider an diesem Tag verhindert und kann selbst nicht gehen. Sie können die Karten also gern mitnehmen!" Als ich die Karten in die Hand nahm, war mir als habe ich wirklich genau dies vergessen gehabt. Ich bedankte mich und ging zum Auto zurück. Woher wußte er nur, daß ich eine Tochter habe?" Luisa lachte: "Er hat bestimmt Tiger in deinem Arm gesehen!" Vater schüttelte den Kopf: "Nein, der saß ja unten im Auto!" Oh, Vater Gustav merkte, daß er etwas Falsches gesagt hatte. Luisa stemmte die Arme in die Hüften: "Du hast doch am Telefon versprochen, daß du ihn überall mit hinnimmst. Das war aber gemein, was du mit Tiger gemacht hast. Mich würdest du ja auch nicht allein im Auto sitzen lassen." - "Stimmt!" bestätigte Vater Gustav, "da hätte ich viel zuviel Angst, du könntest auf den Gedanken kommen, mit dem Auto auf Weltreise zu gehen." Luisa lächelte schon ein bißchen wieder, sagte aber streng: "Tiger darfst du auch nicht alleine lassen. Er könnte sonst auf dumme Gedanken kommen, wenn er sich alleine fühlt."

Vater Gustav nahm Luisa in die Arme und drückte auch mich dabei sehr heftig. "Ich habe mich bei Tiger auch schon dafür entschuldigt. Er durfte sogar von meinem Marzipan naschen!" Wie recht Vater Gustav damit hatte. Natürlich glaubte er nicht wirklich daran, daß er mir etwas von dem Marzipan abgegeben hatte. Das war auch gut so. Jetzt schaltete sich noch Mutter ein: "Soso, Luisa bekommt ein Marzipanbrot als Entschuldigung mitgebracht, dir selbst hast du auch ein Marzipanbrot gekauft und sogar Tiger hat etwas abbekommen. Und wo bleibe ich, bitte?" Da fiel Vater Gustav ein, daß er an der Tankstelle ja noch ein neues Marzipanbrot gekauft hatte. Es war zwar nicht so ein echtes Marzipan aus der Stadt Lübeck, aber dafür war es von Schokolade umgeben. Das mochte Mutter sowieso viel lieber.

Vater stand auf. "Warte mein Schatz!" sagte er und ging auf den Flur. Dort holte er aus seiner Jackentasche das Marzipan mit Schokolade drumherum. "Ich hatte leider noch keine Zeit es einzupacken", mit diesen Worten überreichte er seiner Frau das Marzipanbrot. Etwas beschämt strahlte diese wieder. Vater Gustav hatte das letzte Marzipanbrot eigentlich für die Rückfahrt gedacht, es aber glatt vergessen. Jetzt kam ihm sein schlechtes Gedächtnis doch zugute. Um seine Frau noch etwas verlegener zu machen, fügte er hinzu: "Ich wollte es dir ja eigentlich erst etwas später geben, wenn wir allein sind!" - "Soso! Allein wollt ihr sein", schimpfte Luisa, "dabei wollte ich gerade heute, daß wir alle vier miteinander kuscheln, du Vati, du Mutti, Tiger und ich!" - "Na, dann aber los, ab marsch ins Bett! Du kannst mit Tiger schon mal vorgehen, das Bett anwärmen. Wir müssen schließlich auch noch Zähneputzen." An diesem Abend schliefen wir also zu viert in dem großen Bett von Luisas Eltern. Das mag Luisa sowieso immer am liebsten.

Meine erste große Reise war nun zu Ende. Vielleicht erlebe ich bald eine neue Reise. Da soll Luisa aber unbedingt dabei sein. Wollt ihr dann vielleicht auch mitkommen? Bis dahin wird es aber sicher noch eine Weile dauern. Deshalb wünsche ich euch jetzt erst einmal eine gute Nacht!


Erstveröffentlichung am 20. Oktober 2001

2. Mai 2008

Gute Nacht