Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/2681: Burgfräulein oder Rittersmann (SB)


Burgfräulein oder Rittersmann

Hallo, hier bin ich wieder. Mein Name ist Kicky, wie ihr bereits wißt. Was ich heute gemacht habe? Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe mir ein Kostüm ausgesucht, obwohl doch gar kein Fasching ist. Auf ein Geburtstagsfest mit Verkleiden bin ich auch nicht eingeladen. Aber ich gehe morgen auf einen richtigen mittelalterlichen Markt. Dafür habe ich heute in meiner Verkleidungskiste gewühlt. Die hat mir meine Tante Mira geschenkt.

Zuerst mochte ich mir ein langes Kleid anziehen wie ein Burgfräulein aus dem Mittelalter. Dazu wollte ich meine Zuckertüte aus dem letzten Jahr umgekehrt auf den Kopf ziehen, und Mama sollte mir einen Schleier daran befestigen. Dann aber habe ich mich anders entschieden. Denn dort auf dem mittelalterlichen Markt gibt es extra für Kinder eine Kinderzeile. Wenn ich da klettern und toben will, ist ein langes Kleid bestimmt störend. Also habe ich mich für das Hemd eines Rittersmanns entschieden. Als ich das meiner Mama zeigte, erinnerte sie sich gleich an eine Geschichte.


*


"Damals, da warst du noch nicht auf der Welt, habe ich mit vielen anderen zusammengewohnt. Soetwas nennt sich Wohngemeinschaft. Wir haben in einem alten Bahnhof zusammengelebt. Manche studierten, andere gingen zur Arbeit oder auch noch in die Schule, einige blieben auch den ganzen Tag zuhause, weil sie keine Arbeit oder aber Kinder hatten. Manchmal besuchte mich meine noch sehr kleine Schwester. Du weißt, deine Tante Mira ist viel jünger als ich. Sie war gerade acht und war bei mir zu Besuch. Sie hatte in dem gleichen Jahr zu Fasching dieses Ritterkostüm getragen. Verkleiden war ihr liebstes Spiel. Deshalb brachte sie sich auch mehrere Verkleidungssachen zu mir mit. An diesem Tag, von dem ich jetzt erzähle, trug sie dieses Ritterkostüm. Sie spielte draußen auf dem nicht mehr benutzten Bahnsteig. Da kamen plötzlich seltsam gekleidete Männer und eine Frau vorbei. Manchmal war Mira so in ihr Spiel vertieft, daß sie Spiel und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten konnte. Deshalb glaubte sie auch, daß die Frau und die beiden Männer nur in ihrer Phantasie aufgetaucht seien, denn sie waren genau wie Mira in mittelalterliche Gewänder gehüllt. Doch dann sprach die Frau in ihrem langen Kleid Mira an. Mira blickte auf die beiden Männer. Der eine sah wie ein Ritter aus, der andere wie sein Knappe. Mira kannte sich da aus. Sie hatte mehrere Bilderbücher darüber. Aber hier in Wirklichkeit diese Menschen zu sehen, die eigentlich nur in ihrem Buch stecken konnten, das fand Mira schon unheimlich. Deshalb lief sie schnell ins Haus, rannte die Treppe hoch zu meinem Zimmer und versteckte sich hinter der Tür, aber nicht ohne gleich wieder um die Ecke zu linsen, ob diese Gestalten sie noch immer verfolgten.

Ich fragte, was denn los sei und Mira zeigte nur die Treppe hinunter. In nächsten Augenblick fragte sie: "Kommen da ein Rittersmann und ein Burgfräulein?" Ich lachte, denn wo sollte hier ein Ritter herkommen. Dann aber blickte ich ins Treppenhaus und wahrhaftig, da stiegen mittelalterlich gekleidete Leute die Stufen herauf. Jetzt wandten sich die drei mit einer Frage an mich. Es klärte sich schnell auf, daß sie einen meiner Mitbewohner besuchen wollten. Ich lebte noch nicht lange in dieser WG, so daß ich bisher den Freunden meines Mitbewohners noch nicht begegnet war. Robin war zwar selber immer ein bißchen wie ein Minnesänger gekleidet oder wie Troubadix aus Asterix. Aber sonst hatte ich nie eine Verbindung in diese Richtung hergestellt. Robin lebte auch nicht so intensiv wie seine Freunde in mittelalterlicher Tradition. Seine Freunde jedoch waren das ganze Jahr so wie jetzt gekleidet, hielten sich auf mittelalterlichen Festivitäten auf und lebten mit anderen, die wie sie die Traditionen der Vergangenheit bewahren wollten auf einer Burg.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir den Abend alle zusammen verbrachten. Die drei Fremden kochten etwas für uns, das sehr lecker schmeckte, und dabei reichten sie ihr Trinkhorn herum, aus dem alle einen Schluck nahmen und dann das echte Kuhhorn weiterreichten. Auch meine Schwester Mira durfte an diesem Abend sehr lange aufbleiben. Denn die Fremden hatten jede Menge aus der mittelalterlichen Vergangenheit und der mittelalterlichen Zukunft zu berichten."


*


So, jetzt habt ihr aber genug gehört. Ich werde nun meinen Vorhang vor mein Bett ziehen und ganz schnell schlafen, damit ich um so schneller in die Vergangenheit reisen kann, die jetzt noch in der Zukunft liegt. Ist das nicht völlig verquer?

11. Juli 2008

Gute Nacht