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GUTE-NACHT/2764: Gefangen (SB)


In dem Papierkorb vor der Galerie liegt das kleine Wesen. Das Papier der Anziehpuppe, in der es steckt, ist inzwischen von Colaresten, der Feuchtigkeit einer Bananenschale, Butter und Schmierkäse völlig durchweicht. Daher kann sich das kleine Wesen wieder bewegen. Leider hilft ihm diese Beweglichkeit nicht, aus den Tiefen des Papierkorbs herauszukommen.

Das Mädchen, welches das Papierpüppchen bereits erblickt hat und dieses am liebsten sofort aus dem Papierkorb herausgeholt hätte, traut seinen Augen nicht, als sich das Püppchen jetzt bewegt. Hatten die anderen Kinder vielleicht doch recht und es selber war ein bißchen verrückt? "Nein, was ich sehe, das sehe ich!" denkt das Mädchen. Es rückt eine Treppenstufe näher an den Papierkorb heran. Da wedelt das Püppchen mit seinen Armen und scheint um Hilfe zu rufen.

Zuerst denkt das Mädchen, es sollte die anderen Kinder rufen und ihnen das Wesen in dem Papierkorb zeigen. Dann aber überlegt es, ob sich da einer der Jungen vielleicht einen Trick ausgedacht hat, um das Mädchen wieder vor allen anderen lächerlich zu machen. Um nicht noch weiter darüber nachgrübeln zu müssen, steht das Mädchen auf, zuckt mit seinen Schultern und geht davon. "Sollen doch die anderen Kinder auf diesen Trick hereinfallen", denkt es bei sich, "ich lasse mich nicht wieder auslachen, nie wieder!"

Enttäuscht und entrüstet zugleich, daß ihm das Mädchen nicht geholfen hat, stemmt das kleine Wesen die Papierpüppchenarme in die Seiten. "Wer mag mir jetzt wohl heraushelfen?", denkt das kleine Wesen und fragt sich weiter, "kommen viele Leute hier vorbei?"

Die Frage erhält prompt eine Antwort. Eine Papiertüte, in der noch vor einer Minute ein lecker duftendes Brötchen gesteckt hat, wird gerade in den Papierkorb geworfen. Zum Glück ist die Tüte sehr leicht und das kleine Wesen kann schnell wieder unter der Tüte hervorkriechen. Doch was wird wohl noch hier herunterfallen? "Ich muß hier heraus?", stellt das kleine Wesen fest und blickt wie gebannt nach oben, um dem nächsten Angriff ausweichen zu können.

Schon wieder soll etwas in den Papierkorb geschmissen werden. Ein angegessener Apfel ist das nächste Objekt. Ein Junge zielt in den Papierkorb hinein, verfehlt ihn allerdings und nur ein winziges Stückchen, das durch den Eisenrand des Korbes abgespalten wurde, fällt hinunter und kommt neben dem kleinen Wesen zum Liegen. "Hier ist es ja lebensgefährlich", denkt das Papierpüppchen.

Noch ein leerer Joghurtbecher, Kaugummipapier und verschiedene andere Dinge landen in dem Mülleimer. "Wenn das so weitergeht, kann ich bald über diese Dinge zum Rand des Mülleimers gelangen und dann herunterspringen", malt sich das kleine Wesen aus, "das Papier darf bloß nicht wieder eintrocknen." Aber dazu kommt es nicht, denn es beginnt zu regnen. Zuerst klettert das kleine Wesen schutzsuchend in die Brötchentüte hinein. Dann aber erinnert es, daß ihm nichts besseres geschehen kann, als daß es ständig einem Maß an Feuchtigkeit ausgesetzt ist. So läßt es sich naßregnen und zieht sich dann in den leeren Joghurtbecher zurück.

Plötzlich stellt das kleine Wesen fest, daß sein Bein schmerzt. Es kann nicht mehr so richtig auftreten. Das kleine Wesen findet heraus, daß zuviel Nässe dem Material des Papierpüppchens schadet und es an einigen Ecken bereits einzureißen droht. "Irgendwie muß ich zu dem Zeichner Raimund zurückfinden, denn sonst bin ich verloren." Ausgehend von diesem Gedanken grübelt das kleine Wesen weiter nach, wie es sein Ziel erreichen kann.

21. Oktober 2008

Gute Nacht