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GUTE-NACHT/2799: Barbarazweige werden am 4. Dezember geschnitten (SB)


Gute Nacht Geschichten - Wilhelm Wunderlich


Schon gestern hatte es im Park den ersten Schnee gegeben. Auch heute fallen die Flocken nieder. Es sieht schön aus, auch wenn der Schnee schnell wieder taut. Wilhelm Wunderlich ist froh, daß er genug Vogelfutter eingekauft und es ausgestreut hat.

Die vielen kleineren Schnäbel im Park finden heute auf jeden Fall Futter in den überall verteilten Vogelhäusern. Wilhelm hat außerdem Sonnenblumenkerne auf den Weg gestreut. Da kommen sie auch schon angeflogen.

Der Parkwächter wendet sich nun seinen Kaninchen zu. "Morgen braucht ihr unbedingt frisches Stroh", verkündet er ihnen, "da werde ich doch gleich noch heute abend beim Bauern Bescheid sagen, daß ich morgen vorbeikomme."

Jetzt erblickt Wilhelm zwei Mädchen, die sich an dem Mandelbaum zu schaffen machen. Vorsichtshalber geht er näher heran. Er sieht, wie sie mit einem Messer Zweige abschneiden. "Hey, was macht ihr denn da?", ruft Wilhelm. Die beiden Mädchen sehen aus, als wollten sie fortlaufen. Doch Wilhelm ist schnell bei ihnen. "Was soll das, Zweige abzuschneiden?", fragt Wilhelm noch einmal. Das eine Mädchen antwortet: "Wir brauchen sie für die Schule. Für morgen." - "Soso", dröhnt Wilhelms Stimme, "bestehen jetzt neuerdings eure Hausaufgaben darin, Bäume zu beschädigen?" Das eine der beiden Mädchen ergreift das Wort, während das andere noch immer schweigt: "Wir wollten das Mandelbäumchen nicht beschädigen. Wir wollten nur ein paar Zweige für die Schule mitnehmen. Morgen wollen wir sie in eine Vase stellen, damit sie bis Weihnachten aufblühen."

Wilhelm wundert sich: "Warum müßt ihr das machen?" - "Unsere Lehrerin hat gefragt, ob jemand Kirsch- oder Mandelbaumzweige mitbringen kann. Das seien die typischen Barbarazweige, die immer am 4. Dezember geschnitten werden. Wir haben uns bereit erklärt, ein paar Zweige mitzubringen", antwortet noch einmal das eine Mädchen. Wilhelm fragt: "Woher wißt ihr denn, daß dies ein Mandelbaum ist?" Nun antwortet das zweite Mädchen: "Wir sitzen doch im Sommer immer hier unter dem Mandelbaum."

Wilhelm schaut auf das Messer der beiden Mädchen. "Also damit erreicht ihr nichts. Wartet einen Moment!" Wilhelm läuft zum Schuppen und bringt beim Zurückkommen eine geeignete Gartenschere mit. "Wieviele Zweige sollen es denn sein?", fragt er. "Nur ein kleiner Strauß", beantwortet das zweite Mädchen die Frage. Das erste fragt: "Schneiden sie sich auch Barbarazweige?" Doch sie läßt Wilhelm nicht antworten und erzählt gleich weiter: "Wir nehmen verschiedene Heilige gerade im Religionsunterricht durch. Heute ist der Tag der Heiligen Barbara und an diesem Tag werden ihr zu Ehren Zweige in die Vase gestellt." Wilhelm überreicht den Strauß. "Ich weiß nichts von der Heiligen Barbara. Ich bin ja nicht einmal katholisch." - "Es ist eine traurige Geschichte. Die Heilige Barbara war die Tochter eines reichen Kaufmannes. Sie war so schön, daß er sie in einen Turm sperren ließ, wie Rapunzel. Nur ein Arzt durfte sie besuchen. Außgerechnet der war ein verkleideter Priester und bekehrte Barbara zum Christentum. Als Barbara das ihrem Vater beichtete, brachte der sie um, der eigene Vater." - "Warum dann aber die Zweige?", fragt Wilhelm, der den Worten des Mädchens gelauscht hat. "Auf dem Weg in ihr Gefängnis blieb Barbara an einem Kirschzweig hängen. Den nahm sie mit und stellte ihn in ein Glas Wasser. Genau am Tag, an dem sie sterben mußte, erblühte der Zweig und da wußte sie, daß ihr Leben noch nicht zu Ende war." Wilhelm schneidet noch einen einzelnen Zweig ab und sagt: "Das hast du schön erzählt. Dieser Zweig hier ist für mich. Laßt die Zweige über Nacht in lauwarmem Wasser liegen. Stellt sie morgen erst in eine Vase und gebt einen Eßlöffel Zucker pro Liter dazu. Außerdem müßt ihr das Wasser alle zwei bis drei Tage wechseln. Dann blühen die Knospen bestimmt bis Weihnachten auf." - "Woher wissen sie denn das?", fragt nun das zurückhaltende Mädchen. "Nun, ich bin schließlich Gärtner."

3. Dezember 2008

Gute Nacht