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GUTE-NACHT/2948: Frau Löwenzahn und die dunkle Gestalt mit den Spitzen (SB)


Gute Nacht Geschichten


Noch zwei winzige Löwenzahnkinder halten sich an Mutter Löwenzahn fest. Einige der Kinder, die der Wind gestern nicht mit hinauf in die Luft geweht hatte, nahm der Nachtregen mit sich fort. Er spülte sie zu Boden. Diese haben sich schon in der Nähe von Mutter Löwenzahn in der Erde einen Schlupfwinkel gesucht. Dort werden sie ihre Wurzeln ausschlagen. Nur die zwei Jüngsten halten sich noch immer an Mutter Löwenzahn fest.

Die Strahlen der Mittagssonne haben längst die Nässe der Nacht aus den Haaren und den Kleidern der Löwenzahnkinder getrocknet. Jetzt wären sie eigentlich bereit für ihren Flug. "Wir wollen aber nicht fortfliegen", sagen beide einstimmig. "Ihr verpaßt eine schöne Reise", versucht Mutter Löwenzahn ihnen Mut zuzusprechen, obwohl sie beide selbst gern bei sich behalten würde. Sie weiß noch, wie es ihr selbst damals erging, als sie ihre Schwester an der Hand faßte und mit ihr losflog.

"Nehmt euch einfach an den Händen, und wenn ein starker Wind kommt, fliegt ihr zusammen los. Das wird eine schöne Reise." Das kleinste Löwenzahnkind glaubt das nicht. Aber Mutter Löwenzahn tröstet es: "Du kennst doch die Geschichte meiner Reise. Die wolltest du doch immer und immer wieder hören. Vielleicht triffst du dort oben auch meine Freundin Wolkenflausch. Du weißt schon, die dicke weiche Wolke." Ja, die wollte das Löwenzahnkind schon immer einmal kennenlernen. Wolkenflausch ist ihm durch Mutters Erzählungen wie eine gute alte Bekannte.

Mutter sieht hinauf in den Himmel. Es ist wie ein Wunder. "Ist das da nicht Wolkenflausch?", fragt sich plötzlich Mutter Löwenzahn erstaunt. Schon ruft sie laut hinauf: "Wolkenflausch! Wolkenflausch! Kennst du mich noch?" Aber Wolkenflausch scheint sie nicht zu hören. "Wie kann ich meine Kleinen nur zu ihr bringen?", fragt sich Mutter Löwenzahn. Da, jetzt treibt die dicke Wolkenflausch auch noch in eine andere Richtung. "Das wird wohl nicht meine Wolkenflausch gewesen sein", stöhnt Mutter Löwenzahn, "meine gute alte Freundin hätte mich bestimmt erkannt."

Aber Mutter Löwenzahn hat wohl vergessen, daß Wolkenflausch sie ganz anders in Erinnerung hat - klein, zart, mit schwarzem Schuh und weißem Kleid, langen Haaren, die in den Wind stehen. Tja, in ihren Gedanken sieht sich Mutter Löwenzahn immer noch so. Schließlich ist es nicht verwunderlich, sieht sie doch den ganzen Tag ihre Löwenzahnkinder, die genauso aussehen, wie sie selbst früher war. Die Kleinen sind für sie wie ein Spiegel.

Während Mutter Löwenzahn sich ihren Träumen hingibt, naht eine unheimliche dunkle vierbeinige Gestalt. Sie schnüffelt herum. Die beiden Löwenzahnkinder haben sie entdeckt. "Was ist das?", fragen sie sich neugierig. Es wird schon dämmrig. Die Gestalt kommt immer näher, sie bleibt stehen. Jetzt schreitet sie weiter voran, doch schon wieder bleibt sie stehen, gerade unter Mutter Löwenzahn. Die beiden Löwenzahnkinder blicken zu Boden. Ja, sie drehen sich weiter nach unten, um besser sehen zu können. Doch was jetzt geschieht, damit haben die Kleinen nicht gerechnet. Die dunkle Gestalt stößt an den Stiel von Mutter Löwenzahn. Diese erwacht aus ihrem halb Tag- und halb Abendtraum und sieht noch in letzter Sekunde, wie ihre beiden Kleinen zu Boden sinken. Nein, sie sinken gar nicht zu Boden. Sie landen auf der dunklen Gestalt, die unter Mutter Löwenzahn steht.

Merkwürdig sieht die Gestalt aus. Sie scheint wie Mutter Löwenzahn ihre Kinder auf ihrem Rücken herumzutragen. Jedenfalls recken sich da ganz viele kleine dunkle spitze Kinder in den Himmel. Genau zwischen diesen vielen dunklen Spitzen sind die beiden Löwenzahnkinder gelandet. Jetzt bewegt sich die dunkle Gestalt erneut. Sie schreitet voran, in die nahende Nacht hinfort. Die Löwenzahnkinder rufen noch: "Mutter, Mutter!" Es klingt weinerlich. "Bleibt zusammen! Haltet euch an den Händen fest und sucht euch in der Welt einen schönen Platz, an dem ihr eure Wurzeln ausstreckt. Vergeßt nicht, was ich euch alles beigebracht habe!" Doch wie könnten sie das vergessen. Die beiden Löwenzahnkinder schaukeln auf der Gestalt mit den vielen dunklen Spitzen hin und her. Diese Spitzen sind wohl doch nicht die Kinder der Gestalt. Jedenfalls sprechen sie nicht mit den Löwenzähnchen.

Mutter Löwenzahn blickt noch lange in die Richtung, in die nun auch ihre letzten beiden Kleinen verschwunden sind. Wie seltsam, immer hatte sie ihnen von der großen Reise erzählt und versucht sie darauf vorzubereiten. Doch nun ist für die Kleinsten alles ganz anders gekommen. Was werden sie alles erleben? Wird Mutter Löwenzahn das jemals erfahren? An diesem Abend ist keiner mehr da, dem Mutter Löwenzahn eine gute Nacht wünschen kann.

Erstveröffentlichung im Jahr 2000

3. Juni 2009

Gute Nacht