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GUTE-NACHT/2949: Frau Löwenzahn erkennt zu spät die Gefahr (SB)


Gute Nacht Geschichten


Ganz ohne ihre puscheligen Kinder steht Mutter Löwenzahn hochgewachsen auf der Wiese. Frau Butterblume ist ebenfalls in die Höhe geschossen. Wie die Löwenzahnkinder hat der Wind auch ihre Butterblumenkinder mit auf seine Reise in die weite Welt genommen.

Mutter Löwenzahn sorgt sich um ihre beiden Kleinsten und fragt Frau Butterblume: "Was war das nur für ein schreckliches dunkles Wesen gestern abend? Ja, wie ein riesiges stacheliges Ungeheuer sah es aus. Es schlich am späten Abend einfach an mich heran. Ich sprach gerade meinen Kleinsten Mut zu. Schließlich konnten sie nicht immer bei mir bleiben. Ach...", Mutter Löwenzahn stöhnt.

"Und wo sind jetzt ihre beiden Kleinen?", fragt Frau Butterblume, die von dem gestrigen Ereignis noch gar nichts weiß. "Das ist ja das Schreckliche", antwortet Mutter Löwenzahn, "das dunkle Ungeheuer stieß gegen meinen Stiel und blieb dann unter mir stehen. Meine Kleinen waren neugierig und sind mir nichts, dir nichts auf das Ungeheuer hinuntergeplumpst." - "So ist das mit der Neugierde. Wagt sich einer zu weit vor, ist er schnell zu weit gegangen", sind Frau Butterblumes Worte. "Ach was Frau Butterblume, bestimmt hat dieses dunkle Wesen meine Kinder irgendwie in seinen Bann gelockt, sowas hat unsereiner doch schon oft gehört."

"Wie sah es denn gleich aus, das Ungeheuer", will Frau Butterblume wissen. Mutter Löwenzahn berichtet und zählt alle Merkmale auf: "Eine dunkle Gestalt, ein unheimliches Schnorren, grelle leuchtende Augen und das Unheimlichste, die vielen tausend Dolche auf seinem Rücken."

Frau Butterblume beginnt zu lachen. "Was ist denn daran so lustig?", will Mutter Löwenzahn wissen. Die Antwort erhält sie sogleich: "Ja, im Dunklen sieht immer alles viel unheimlicher aus, als es im hellen Sonnenschein ist." Doch mit dieser Aussage ist Mutter Löwenzahn nicht zufrieden: "Und warum haben Sie gelacht?" - "Wissen Sie denn wirklich nicht, wer das Ungeheuer war?", fragt Frau Butterblume. "Nein", das weiß Mutter Löwenzahn nicht. Frau Butterblume platzt fast vor Lachen: "Das war doch Egon, Egon der Igel." "Egon?", wiederholt Mutter Löwenzahn den Namen, "ich habe noch nie von einem Egon gehört." Mutter Löwenzahn ist beleidigt, aber sie denkt an ihre Kinder. Vielleicht weiß Frau Butterblume noch mehr über Egon, den Igel. Also fragt sie weiter ...

Während die beiden kinderlosen Löwenzahnmütter über Egon, den Igel, diskutieren, ob er nun ein Ungeheuer ist oder ein freundlicher Tiernachbar, rollt ein wahres Ungetüm heran. Dieses Monster ist ein richtiges Ungeheuer und nicht nur in der Nacht. Es ist hungrig und frißt alles, was es nur bekommen kann, in sich hinein. Es beißt die Grashalme und sämtliche Wiesenblumen ab. Auch vor den Brennesseln und den spitzen Disteln macht es nicht halt. Es frißt und frißt und frißt. Es ist laut und laut und laut ...

Mutter Löwenzahn und Frau Butterblume bemerken endlich die Gefahr, die auf sie zurollt. Viele ihrer Freunde und Nachbarn gibt es schon nicht mehr. Doch Mutter Löwenzahn und Frau Butterblume können nichts gegen das Ungeheuer tun. Sie sehen, wie all ihre Nachbarn verschlungen werden und wissen, daß auch sie jetzt bald an der Reihe sind, aufgefressen zu werden. Frau Butterblume entschuldigt sich bei Mutter Löwenzahn, daß sie über sie gelacht hat. Mutter Löwenzahn ist nicht mehr böse. Da stehen sie in ihrer Angst, und das Ungeheuer kommt näher und mäht alles nieder. Erst Frau Butterblume und dann auch Mutter Löwenzahn. Am Ende liegt die Wiese ganz kurzgeschoren und wie nackt da. Der Abendwind findet keine Gräser und keine Wiesenblumen mehr, die er hin- und herwiegen kann ...

An diesem Abend gibt es keinen Löwenzahn und auch keine anderen Wiesenblumen mehr, die sich "Gute Nacht" sagen. Doch wer weiß, vielleicht wünschen sich ja die Wurzeln aller abgemähten Pflanzen an ihrer Stelle eine "Gute Nacht" und versprechen sich, bald wieder aufzustehen.

Erstveröffentlichung im Jahr 2000

4. Juni 2009

Gute Nacht