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GUTE-NACHT/3275: Der kleine Nachtwächter ist in der Dunkelheit nicht allein (SB)


Gute Nacht Geschichten

In der Dunkelheit, wenn der kleine Nachtwächter durch die Stadt zieht und wacht, dabei die Laterne in der einen und die Taschenlampe in der anderen Hand trägt, lauscht er auf die Geräusche der Nacht. Die Motoren, die am Tag lärmen, sind verstummt, die Kinderstimmen, die ansonsten lachen, schreien oder singen, unternehmen dies jetzt im Traumland. Auch die Vögel sind schlafen gegangen und erwachen erst wieder mit dem ersten Licht des Morgens oder sie haben die Gegend hier verlassen, weil es ihnen zu kalt geworden ist und sie kein Futter mehr finden können. So sind sie in wärmere Gefilde geflogen.

Die Nacht allerdings ist nicht stumm. Was der kleine Nachtwächter auf seinem Rundgang hört, ist ebenso vielfältig wie tagsüber. Meist sind die Geräusche in der Nacht nur viel leiser. Das läßt uns manchmal glauben, da wären Geister unterwegs. Doch die Ursache der Geräusche ist genauso echt wie die Geräuschemacher bei Tag.

Der kleine Nachtwächter lauscht auf die Stimme eines Käuzchens und die Sprache der Bäume. Ihr Ächzen im Wind ist nur in der Nacht so deutlich zu vernehmen. Schritte hallen auf dem Kopfsteinpflaster, und der kleine Nachtwächter stellt fest, daß es seine eigenen sind. Wenn die Kirchturmuhr zur vollen Stunde schlägt, reißt es ihn aus seinen Gedanken. Manchmal summen auch die Straßenlaternen. Wenn es gar zu stumm in der Stadt ist, singt der kleine Nachtwächter Lieder vor sich hin von den beiden Liebenden, die nicht zusammenkommen konnten, von dem schlafenden Dornröschen oder vom Fuchs, den der Hunger zu sehr plagte und er sich darum beim Bauern eine Gans gestohlen hat und noch viele andere Lieder.

In dieser Stunde aber singt der kleine Nachtwächter nicht. Etwas schallt so laut zu ihm herüber, daß er fast nichts anderes mehr wahrnimmt. Wer oder was durchdringt da aber so laut die Stille? Es sind die Bauern mit ihren Fahrzeugen. Sie haben in den letzten Tagen den Kohl von den Feldern geerntet und jetzt wird es Zeit, diese umzupflügen und für den Winter vorzubereiten. Sie nutzen jede Stunde vor dem Herbstregen, der da kommen wird und die Erde der Felder aufweicht. Bevor das geschieht, müssen die Bauern fertig sein.

Der kleine Nachtwächter reibt sich die Hände. Es ist kalt. So kalt, daß bereits einige Scheiben der stehenden Fahrzeuge zugefroren sind. "Na, da werden die Gräser der Wiesen und die Blätter der Büsche am frühen Morgen auf meinem Heimweg ja wieder ein Reifkleid tragen", stellt er sich vor, "wenn dann noch die Sonne dazu aufsteht und scheint, dann wird der Reif auf den Blättern glitzern und glänzen wie der Glitzersand auf den Adventskalendern der Kinder. Darauf freue ich mich schon jetzt."

© 2010 by MA-Verlag - Nachtwächter

18. Oktober 2010