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KALENDERGESCHICHTEN/079: 07-2017 - Der kleine Dschinn - eine Enttäuschung ... (SB)



Ein Mädchen stellt Bücher ins Regal, dabei stösst sie versehentlich gegen ein Eisbär-Stofftier und ihren Lieblingsbecher, der hinunterstürzt - Buntstiftzeichnung © 2017 by Schattenblick

Der kleine Dschinn war seinem Glück noch nie so nah gewesen und hätte es fast geschafft, gemeinsam mit seiner neuen Freundin Tina ins Dschinn-Reich zurückzukehren. Doch am Morgen, als sie aufbrechen wollen, war sie verschwunden. Traurig setzte der kleine Dschinn seinen Weg fort, auf der Suche nach jemanden, der ihn lieb hat.

Nachdem er schon eine ganze Weile ein Schweinefüßchen vor das andere gesetzt und ein gutes Stück Weg zurückgelegt hatte, war ihm ganz nach einer Pause zumute. Er hielt Ausschau nach einem geeigneten Platz und fand ihn unter einer großen Eiche. Lange dauerte es nicht bis ihm die Augen zufielen. Wie immer begleitete ihn beim Wechseln ins Traumland die Sehnsucht nach dem gemütlichen, schummerigen Dämmerlicht, das ihm so heimelig vertraut war. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Geweckt wurde er durch Stimmen, die sich seinem Platz unter der Eiche näherten - aber nein, er lag gar nicht mehr unter der Eiche. Fort, sie war fort und er, wo befand er sich? Der kleine Dschinn traute sich nicht, sich zu rühren. Zu nahe schienen die Stimmen, die ihn hätten entdecken können. Still verharrte er in einer dunklen Ecke.

"Mama, hast du meinen Becher auch ganz bestimmt eingepackt? Das war mein allerliebster Lieblingsbecher." - "Sabine, wenn wir ihn nicht finden, kaufe ich dir einen neuen, versprochen!", versuchte die Mutter ihr Kind zu trösten. "Nein, Mama, das gibt nur diesen einen Becher für mich, ich will keinen neuen, ich will meinen, bitte, Mama, lass uns noch weiter suchen!", bettelte Sabine. "Wir haben schon das ganze Haus auf den Kopf gestellt und alle Umzugskisten durchsucht. Wenn wir ihn hier nicht finden, musst du dich leider damit abfinden, dass er beim Umzug verloren gegangen ist. So etwas kann schon mal passieren!" - "Oh, nein, bitte nicht, das darf einfach nicht sein."

Die Mutter leuchtete gewissenhaft jeden Winkel des Kellerraumes ab und Sabine folgte aufmerksam dem Lichtkegel. Sie weinte und bald konnte sie durch den Tränenschleier nichts mehr deutlich erkennen. "Sabine, da, sieh, da hinten im Regal steht der Karton, in den ich deine alten Spielsachen verstaut habe. Bestimmt ist dein Becher da drinnen." Beide stürzten sich auf den Pappkarton und tatsächlich fanden sie den Becher, dunkelblau mit vielen weißen Punkten und einem Sprung an einer Seite, der von oben bis zum Boden des Bechers reichte. "Warum nur hängst du so an ihm, er ist doch kaputt, du kannst nicht mehr aus ihm trinken?" - "Och, Mama, das ist doch mein Geheimnisbecher!", weiter sagte sie nichts. Die Mutter nahm sie in die Arme und wiegte sie hin und her. "Na, dann ist es ja gut, dass wir ihn doch noch gefunden haben."

Der kleine Dschinn hatte alles mit angehört. Dieses Mädchen hatte seinen Becher so lieb, dass es ihn nie hergeben würde. "Das ist gut, sehr gut, ich werde mich flugs verwandeln und genauso aussehen wie ihr Becher, den anderen wünsche ich in den Karton zurück." Gesagt, getan und als die Mutter ihre Tochter aus der Umarmung freigab, stand der kleine Dschinn als Lieblingsbecher im Regal. Das Mädchen griff ihn und trug ihn ganz vorsichtig die Kellertreppe hinauf in ihr Zimmer. Aufgeräumt sah es dort nicht aus. Der Fußboden war übersät mit Klamotten, Kuscheltieren, Schuhen und noch allerlei Krimskrams. Nur ihr Bett bot einen gemütlichen Ort. Eine bunte Decke lag glatt oben auf und eins, zwei, drei, vier Kissen schmückten das Ganze. Sabine schloss die Tür hinter sich und blieb inmitten des Chaos stehen, drehte sich dann suchend um sich selbst und steuerte auf das noch leere Regal an der Wand zu.

"Da, das ist ein guter Platz für dich. Von dort oben kannst du alles sehen und ich dich auch vom meinem Bett aus. Ja, das ist der richtige Ort", befand Sabine, stellte ihn ab und warf sich rücklings aufs Bett. "Jetzt wird alles gut", dachte der kleine Dschinn, "ich werde eine günstige Gelegenheit abwarten und das Mädchen dann fragen, ob sie mich so lieb hat, dass sie mir ins Dschinnreich folgen würde."

Wenig später klopfte es an der Tür und Sabines Mutter kam mit einem "Darf ich?" ins Zimmer. "Oh, wie sieht es denn hier aus? Ich dachte, du wolltest deine Sachen in die Schränke und Schubladen räumen?" - "Nee, hab' keine Lust. Ich werde morgen damit anfangen. Wirklich, ganz bestimmt", versprach sie ihrer Mutter, als sie deren enttäuschtes Gesicht bemerkte. "Nun gut. Ach, ja, wir haben Besuch. Deine Tante ist gekommen."

"Hmmm", machte Sabine nur wenig begeistert. "Mit Geschenken zum Einzug in unser neues Haus. Und stell' dir vor, es ist deine Tante Nadine. Sie ist extra von München hierher gekommen." - "Oh, Tante Nadine, ich komme, ich komme. Sabine rollte sich aus ihrem Bett, rappelte sich auf ihre Füße und stürmte an ihrer Mutter vorbei die Treppe hinunter. Freudig umarmte sie ihre Tante und wurde mit dem üblichen Satz begrüßt: "Nein, bist du aber groß geworden!" Sabine tat einfach so, als hätte sie das nicht gehört. Sie war davon überzeugt, dass es irgendetwas gab, dass Tanten dazu zwang, so etwas zu sagen, dass sie also gar nicht wirklich etwas dafür können.

Sie machten es sich mit Kaffee, Kakao und Kuchen in der Stube gemütlich. Dabei überreichte Tante Nadine ihr ein bunt verpacktes Geschenk. Sofort ergriff sie es, löste etwas ungeschickt die Schleife und zerriss ungeduldig das schöne Schmuckpapier. Zum Vorschein kam ein Kuscheltier, ein total niedlicher Eisbär. Sabine liebte Eisbären. Sie nahm ihn hoch und besah ihn von allen Seiten, drückte ihn an sich und herzte ihn innig. "Oh, danke, danke, das ist, das ist, oh je, ich freu' mich so. Danke, Tante Nadine."

Ihre Mutter und die Tante hatten sich lange nicht gesehen und sich noch so viel zu erzählen. Sie würde wohl nicht wirklich vermisst werden, wenn sie die beiden Erwachsenen allein ließ. Nach dem Kaffee schnappte Sabine sich den Eisbären und verschwand in ihrem Zimmer. "Du brauchst noch einen Namen, kleiner Eisbär!" Sie überlegte eine Weile und verriet ihm dann, dass er von nun ab "Kleiner Bär" heißen würde. Nun war ihr danach, ihr Zimmer doch ganz schnell aufzuräumen. "Kleiner Bär, du musst solange warten, bis ich fertig bin. Aber du kannst zuschauen. Ich setzte dich neben meinen alten Becher." "Huch", dachte der kleine Dschinn enttäuscht, "auf einmal bin ich 'der alte Becher'. Merkwürdig, ich dachte, sie hat nur mich so lieb?" Sabine kramte und räumte und fegte durchs Zimmer wie ein Wirbelwind. Schuhe, Jacken, Hosen, T-Shirts und Socken - alles fand in Windeseile einen guten Platz in Schrank und Schublade. Nun, manches Teil wurde hineingestopft und gequetscht, aber es passte irgendwann. Als sie die Bücher ins Regal stellen wollte, meinte sie zu Becher und Kleiner Bär, "ihr müsst leider noch ein Stück rücken, sonst passen sie nicht alle hinein." Sie stieß mit dem dicken Märchenbuch gegen "Kleiner Bär", der gegen den Becher fiel und der flog in hohem Bogen hinab und zerbrach in tausend Stücke.

Was für ein Glück, dass der kleine Dschinn sich noch im Fallen in ein Märchenbuch verwandelt hatte. Sabine fiel es nicht auf, dass dort zwei Bücher standen, denn sie hatte sich so sehr erschrocken, kniete auf dem Boden und weinte. Traurig sammelte sie die Scherben von dem Geheimnisbecher auf Zeitungspapier und knüllte es zusammen. Sie nahm Kleiner Bär in den Arm und sagte ihm ins Ohr: "Schade, so einen Becher gibt es nicht noch einmal, ich weiß gar nicht was ich machen soll," schniefte sie und wieder rollten ihr Tränen übers Gesicht. Das Ohr von Kleiner Bär wurde ein wenig nass, aber es schien ihm nicht besonders zu stören. Als Sabine sich etwas beruhigt hatte, lief sie mit den in Zeitungspapier gewickelten Scherben in der Hand und Kleiner Bär im Arm zu ihrer Mutter und berichtete ihr von dem Unglück. Ihre Mutter versuchte sie zu trösten, doch Sabine musste wieder weinen. "So einen Becher bekomme ich nie wieder", schluchzte sie, "er war was ganz Besonderes."

Der kleine Dschinn wünschte den Becher aus dem Karton im Keller ins Regal in Sabines Zimmer hinauf. Was würde das für eine Überraschung werden, wenn sie heute Abend zu Bett geht und ihn dort entdeckt! Nein, sie würde bestimmt nicht mit ihm ins Dschinn-Reich wollen, da war er sich ganz sicher. Sie hatte ihre Mama so lieb, auch ihren Eisbären und den Becher.

Er hatte genug vom Becher-Dasein und Märchenbuch wollte er auch nicht bleiben - nur noch heute Nacht. In der Zeit würde er sich überlegen, was er als nächstes unternehmen will, um sein Glück doch noch zu finden.

Weitere Abenteuer des kleinen Dschinns folgen ...


3. Juli 2017


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