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KALENDERGESCHICHTEN/086: 02-2018   Verkehrte Welt - Futter für das Entenkind ... (SB)


Henry Maus sitzt in der Tasse, die mit Entengrütze vollgelaufen ist, Kater Chiko angelt mit seinem Schwanz danach - Buntstiftzeichnung: © 2017 by Schattenblick


Das Entenküken Gina, das ganz allein das Licht der Welt erblickte, folgte dem gutmütigen Mäuserich Henry in sein Mauseloch in dem Glauben, er sei ebenfalls eine Maus, sähe nur etwas anders aus. Es freute sich darauf, sich wärmen und seinen Hunger stillen zu können.

Aufgeregt tapste Gina hinter dem flinken Henry hinterher und bat ihn, doch etwas langsamer zu laufen. Endlich erreichten sie ihr Ziel. Henrys Mauseloch entpuppte sich als wahrer Palast. Gina staunte nicht schlecht, als sie all die Merkwürdigkeiten erblickte. Sie waren durch einen kleinen Eingang in einen schummrig hellen Raum gelangt, in dem sich viele seltsame Gefäße befanden. Sie standen wüst durcheinander, aber eines erweckte Ginas besondere Aufmerksamkeit: eine Schale mit weichem Moos und Heu. Ohne lange zu überlegen oder gar zu fragen, hüpfte sie dort hinein und kuschelte sich gemütlich in das warme weiche Nest. Stolz ragte ihr Köpfchen über den Rand, aber schon im nächsten Augenblick sank sie nieder und schlief tief und fest ein.

"Oh, das ging aber schnell, sie muss wirklich ziemlich erschöpft gewesen sein. Aber was gebe ich ihr nur zu essen? Verflixt und zugenäht, ich hab' den Enten doch so oft zugesehen und ihrem Geschnatter gelauscht, aber was, aber was ..."

Gerade in dem Moment klopfte es zaghaft an der einen Holzwand und jemand rief: "Henry, bist du das da drinnen, da waren so merkwürdige Geräusche, ist bei dir alles in Ordnung?"

"Oh, ja, klar, Chiko, komm nur und sieh selbst!", forderte Henry seinen besorgten Nachbarn auf. Wenig später knarrte die eine Wand von Henrys Palast und wurde einen Spalt breit geöffnet. Ein großer grauer Katzenkopf lugte hindurch und sein Blick fiel direkt auf den kleinen gelben, flauschigen Neuankömmling, der dort in Henrys Lieblingstasse schlief.

Chiko war ein sehr alter Kater, der schon lange keine Mäuse mehr fangen wollte und es eigentlich auch nie getan hatte, weil stets ausreichend Katzenfutter für ihn bereit stand. Nun hatte er sich in dem wackeligen, schiefen Stubenschrank häuslich niedergelassen - Tür an Tür mit Henry Maus. In dem Haus, in dem Chiko einst wohnte, wollte er seit dem Tod seiner geliebten alten Dame nicht mehr bleiben und so kam es zu dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft.

"Chiko, weißt du noch, was Enten essen?" - "Hmmm, ja, nee", brummte er und schien dennoch weiter zu überlegen, "warte mal, ich glaube die großen Enten haben sich mit den Kleinen oft zum Teich auf den Weg gemacht. Wenn ich sie dort schwimmen sah, schien es mir fast so, als würden sie von diesem ekligen, grünen Zeugs, das einen großen Teil des Wassers bedeckte, gefressen haben."

"Volltreffer, Chiko, jetzt fällt 's mir wieder ein, genau, Entenschnatter, wir müssen Entenschnatter besorgen!" rief Henry begeistert aus. "Und etwas trinken sollte der kleine Kerl auch, oder?", sorgte sich Chiko. "Das ist eine Sie, das ist Gina, aber genau, Wasser sollten wir auch beschaffen", pflichtete er dem Kater bei. "Hast du auch schon eine Idee, wie wir das anstellen wollen?", wollte Chiko wissen.

Henry sah sich in seinem Teil des Schrankes um. Angeschlagene kleine und große Tassen lagen schräg gekippt ineinander, Tellerchen mit Sprung und Kerbe, Schüsseln mit abgebrochenen Henkeln stapelten sich in einer Ecke und eine besonders riesige Schüssel nahm den Platz in der Mitte ein. Chiko beobachtete Henry und folgte seinen suchenden Blicken.

"Halt", rief er, als er eine feine, kleine Tasse aus dünnem Porzellan entdeckte, "die könnten wir doch zum Wasserholen benutzen", begeisterte sich der Kater. "Tolle Idee, aber ich kann sie nicht tragen, keine Ahnung, wie ich das hinkriegen soll", murrte Henry.

Chiko schmunzelte und genoss es einen Moment lang, dass er so alt und so weise war. Er setzte sich aufrecht hin, legte den Kopf schief und holte tief Luft: "Also, ich bin zu folgendem Schluss gelangt. Ich ziehe die Tasse bis zum Teich, dann werfen wir sie hinein und wenn sie voll gelaufen ist, holen wir sie wieder heraus und bringen sie auf gleichem Wege wieder nach Hause."

"Fein, prima, wir sollten uns beeilen, damit wir zurück sind, bevor die kleine Gina aufwacht." - "Aber ja, das ist sehr wichtig, sonst fürchtet sich das kleine Entchen", sorgte sich der Kater.

"Äh, da wär' noch was, das ich dir sagen wollte, Gina glaubt, dass sie eine Maus ist und ich wollte sie in dem Glauben lassen, damit sie zur Familie gehört, ich mein', damit es sich für sie so anfühlt, als sei ich ihre Familie. Verstehst du? Also, sag' ihr nichts, bitte." - "Von mir erfährt sie nichts, versprochen!", versicherte Chiko.

Henry schob die Tasse bis zur Schranktüröffnung, Chiko hob sie vorsichtig herraus und setzte sie auf dem Boden ab. Das mit dem Ziehen der Tasse erwies sich als gar nicht einfach. Erst versuchte der Kater sie mit einer Pfote zu greifen, doch dann entschied er sich, die Tasse am Henkel im Maul zu tragen und auf diese Weise konnten sie blitzgeschwind den Teich erreichen. Pustend und hustend ließ Henry Maus sich am Ufer fallen, als der Kater schon dabei war, die Tasse in den See zu befördern. Doch die blieb einfach auf dem grünen Entenschnatter-Teppich, der sich auf dem Wasser ausgebreitet hatte, liegen und dümpelte vor sich hin.

"Sie muss untergehen, damit Wasser und Futter hineinströmen können", überlegte Chiko laut. "Toller Vorschlag, aber wie stellen wir das an? Sie ist schon zu weit vom Ufer weg, so ein Mist aber auch!", schimpfte Henry.

Doch der Kater schien bereits eine Lösung für das Problem zu haben. Er drehte sich um und balancierte seinen dicken, buschigen Schwanz bis zum Tassenrand. "So, Henry, nun rasch auf mich geklettert und über meinen Schwanz in die Tasse gekrabbelt!"

Henry Maus vertraute dem Kater, dachte nicht weiter nach und tat, was von ihm verlangt wurde, plumpste alsbald in die Tasse, die böse wackelte und sich stark zur Seite neigte. Wenige Augenblicke später floss träge das grüne Nass hinein bis nur noch Henrys Kopf herauslugte.

"Nimm deine Pfoten und paddle so heftig wie zu kannst, halte dich an meinem Schwanz fest, dann ziehe ich dich mitsamt Tasse ans Ufer!"

Kaum dort angelangt, sprang Henry heraus und schüttelte sich kräftig, während der Kater die Tasse vorsichtig aus dem Teich hob. Die volle Tasse konnte Chiko unmöglich im Maul tragen, sie mussten sich etwas einfallen lassen.

"Ha, Chiko, diesmal hab' ich 'ne super Idee. Ich binde die Tasse an deinen Katzenschwanz, du läufst vorsichtig los und ich pass' auf, dass nichts verschüttet und verloren geht", jauchzte der Mäuserich.

Der Kater hatte keinen Einwand und so erreichten sie erstaunlich zügig ihr Zuhause. Gerade als sie die volle Tasse im Schrank abgestellt hatten, räkelte sich das kleine Entchen und blickte verschlafen aus ihrem Schlafnest.

"Oh, das sieht lecker aus, ist das für mich?" Ente Gina dachte überhaupt nicht daran eine Antwort abzuwarten, sondern hüpfte los, steuerte direkt auf das nasse Grünzeug zu und ließ es sich schmecken.

"Willst du nicht mit mir essen, es ist genug da", mampfte Gina, dabei sah sie das erste Mal zu Henry hinüber und blickte hinter ihn in das große, graue Gesicht vom Kater. Völlig unerschrocken watschelte sie auf ihn zu und staunte: "Hui, bist du aber eine riesige Maus, viel, viel größer als Henry und ich. Aber du bist grau und hast vier Füße, also eine Maus!", überzeugt und zufrieden tapste sie zurück zur Futtertasse. "Hmmm, aber ob das für deinen Hunger ausreicht?"

"Ich habe schon gegessen, mach dir keine Sorgen." Es war dem Kater unangenehm die Riesenmaus zu spielen, deshalb wollte er sich schleunigst zurückziehen und so flunkerte er, "ich verabschiede mich jetzt, denn ich habe noch eine Menge zu tun." - "Prima, darf ich mitkommen, vielleicht kann ich auch viel zu tun haben oder dir helfen. Henry, kommst du auch mit?"

Fortsetzung folgt ...


zum 1. Februar 2018


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