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KALENDERGESCHICHTEN/104: 08-2019   Der kleine Elefant - Verteilung der Kleinen und der hungrige Tiger ... (SB)


Die Harpyie hält die Transportkiste in ihren Krallen - Buntstiftzeichnung: © 2019 by Schattenblick

Roland und Nico hatten sich verbotenerweise auf die Suche nach der geheimnisvollen Pflanze begeben. Sie wollten ihren Saft trinken, um ganz schnell zu wachsen, bis sie so groß wie die alten Elefanten sind. Unterdessen trafen auch die anderen kleinen Tiere ein, die während der Nacht nahe des Flugplatzes untergebracht wurden. Tags darauf wollten die Gräfin und Johann die Kleinen zu ihren großen Artgenossen bringen, damit die sie in ihre Obhut nehmen sollten. Doch am nächsten Morgen waren alle fort - das kleine Krokodil, der Mini-Löwe, die niedlichen Schlangen und winzigen Äffchen, das Nilpferd so groß wie ein Hund, die drei Tiger von der Größe einer Hauskatze, mehrere kleine Elefanten, die Roland ähnelten, Giraffen, die mit ihrem langen Hals nicht höher waren als ein Reiher und noch einige mehr. Keine Spur war von ihnen zu sehen.

Der Schreck war groß für die Gräfin und Johann, sie konnten sich nicht erklären, was hier geschehen war. Die kleinen Tiere waren wie vom Erdboden verschwunden. Normalerweise hätten sich doch Spuren in Gras und Sand von ihnen finden lassen müssen. Aber da war nichts, überhaupt nichts, nicht ein Fußabdruck, der als Hinweis hätte dienen können.

"Die können sich doch nicht in Luft auflösen und fliegen ja wohl auch nicht, also ich verstehe das einfach nicht!", schimpfte die Gräfin. Sie war ratlos und verzweifelt: "Wie sollen wir sie denn nur wiederfinden?"

Darauf wusste Johann auch keine Antwort. Traurig und reichlich verwirrt suchten sie ihr Quartier im Dorf auf.

"Wir könnten überall herumfragen, ob irgendjemand etwas beobachtet hat", überlegte Johann, als sie ihre Hütte erreicht hatten. "Ich werde mich gleich einmal umhören." Zunächst suchte er das Dorfoberhaupt auf. Dort erhielt er den Rat, einen kleinen Jungen zu befragen, von dem bekannt war, dass er früh morgens schon unterwegs sei, um die Vögel zu beobachten. Johann suchte sofort nach dem Vogelfreund und fand ihn bald schlafend unter einem Baum. Vorsichtig weckte er ihn und etwas ungeduldig fragte er den noch müden Jungen, ob er am Morgen etwas Ungewöhnliches gesehen habe.

"Aber sicher, natürlich, das war total merkwürdig. Ein riesiger Vogel, eine echte Harpyie, die sieht man selten, also so etwas habe ich noch nie gesehen, ich meine eine Harpyie schon, aber so eine noch nie."

"Ja, und was war so besonders an diesem Vogel?"

"Nicht der Vogel selbst, sondern das was er in seinem Schnabel trug", dann überlegte der Junge einen Moment und Johann drängte ihn weiter zu erzählen.

"Es sah aus wie eine Kiste und irgendjemand war auch darin, aber ich konnte es nicht erkennen. Aber das richtig Merkwürdige war, dass die Harpyie nach einer Weile mit der leeren Kiste zurück geflogen kam und nun konnte ich genau sehen, was dort vor sich ging. Der Vogel packte einige von den wirklich sehr kleinen Tieren und ließ sie in die Kiste fallen, flog dann wieder fort und kam nach einiger Zeit erneut mit der leeren Kiste zurück. Nun ergriff er vorsichtig die nächsten Tiere, ließ sie ebenfalls in der Kiste verschwinden und flog davon. Das alles wiederholte sich ein paarmal, bis die Harpyie schließlich alle weggebracht hatte."

"Und, hast du noch irgendetwas erfahren können?"

"Nein, das ist alles. Natürlich bin ich neugierig geworden und beim letzten Flug wollte ich dem Vogel folgen, doch er war zu schnell. Das einzige, was ich gehört habe, war ein lautes Löwengebrüll ganz in der Nähe. Da habe ich doch lieber ganz schnell das Weite gesucht und bin nach Hause gerannt."

Johann erschrak. "Löwengebrüll, oh je, ich mag gar nicht daran denken, hoffentlich sind sie nicht gefressen worden", dachte er bei sich. Dann bedankte er sich und verließ den Jungen, um mit diesem seltsamen Bericht zur Gräfin zu eilen. Nachdem er ihr alles wortgetreu erzählt hatte, sank sie mutlos in sich zusammen und schließlich begann sie zu weinen. Sie verlor ihre sonst so perfekte Haltung und schluchzte, dass es Johann das Herz erweichte und er die Gräfin tröstend in die Arme nahm. Nach einer Weile hatte sie sich wieder gefasst und überlegte: "Johann, was mag das nur bedeuten? Wie können wir unsere kleinen Schützlinge nur finden?"

"Aus dem Bericht des Jungen können wir entnehmen, dass es sich bei der Kiste, um Rolands Transportkiste gehandelt hat. Über Harpyien weiß ich nur so viel, dass es sich bei diesen Tieren um Raubvögel handelt, mit enorm großen, kräftigen Krallen und einem starken, spitzen Schnabel." Die Gräfin seufzte tief, blieb aber gefasst. Johann fügte schnell hinzu: "Also, die Harpyie hat ihre Krallen nicht benutzt, um die Kleinen zu töten, sondern hat sie vorsichtig in die Kiste gepackt. Das lässt uns doch hoffen, dass sie sie nicht als Mahlzeit zu sich nehmen wollte."

"Aber was wollte sie dann mit ihnen anfangen?", der Gräfin versagte beinahe die Stimme.

Plötzlich lärmte es draußen auf dem Dorfplatz, die Leute eilten herbei und versammelten sich um eine Kiste, die die Harpyie mit einem krachenden Rums auf den Boden fallen gelassen hatte. Nun kreiste sie hoch oben über den Dächern der Hütten, flog bald aber in eine bestimmte Richtung, kehrte wieder zurück, zog abermals ihre Bahn über den Hütten, um wieder in diese eine Richtung zu fliegen. Das wiederholte sich ein paarmal, bis der Junge, der übrigens Kuro genannt wurde, begriff, was das zu bedeuten hatte. Als er Johann in der Menge entdeckte, rannte er zu ihm: "Wir müssen dem Vogel folgen, er will uns etwas zeigen!"

Johann zögerte keinen Moment und rief im Laufen der Gräfin zu, sie möge hier auf ihn warten. Dann waren Kuro und Johann im Dickicht verschwunden. Immer wieder blickten sie nach oben, um den Vogel nicht aus den Augen zu verlieren. Das war gar nicht so einfach und beide wären nicht nur einmal fast gestolpert. Schließlich erreichten sie eine Lichtung und in dem üppigen Gras sahen sie eine gewaltige Löwenmähne hervorlugen. Sie duckten sich und dann hörten sie ein Geräusch, dass Johann an das Miauen von Katzen erinnerte. Kurz darauf bot sich ihnen ein wirklich seltsames Bild. Auf dem Rücken des Löwen, der sich inzwischen erhoben hatte, krabbelten zwei kleine Löwen! Sie sahen aus wie Miniaturausgaben der großen Raubkatze. Das Beste aber war, dass sie keine Angst zeigten und es schien sogar, dass sich alle Löwen, groß wie klein, recht wohl fühlten.

Johann und Kuro hatten genug gesehen. Sie wollten auf keinen Fall riskieren, dass der Löwe ihre Witterung aufnahm und so machten sie sich auf den Rückweg.

"Die Harpyie hat die Tiere zu ihren großen Artgenossen gebracht", meinte Kuro und fügte hinzu, "jetzt verstehe ich, warum sie die Kleinen in eine Kiste gepackt hat. Sie wollte, dass ihnen nichts passiert."

"Ja, so wird es gewesen sein. Nochmals vielen Dank, Kuro. Ohne dich wären wir nicht auf diese Spur gekommen", dabei klopfte Johann dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter. Im Dorf angekommen, berichteten beide der Gräfin, was sie beobachtet hatten. Sie freute sich so sehr, dass ihr Freudentränen über die Wangen kullerten.

Von all dem wussten Nico und Roland, die beiden kleinen Elefanten, nichts und wahrscheinlich hätte es sie auch gar nicht interessiert, denn sie waren geradezu besessen von der Suche nach der Wunderpflanze. Und so kam es, dass sie bald ein Gebiet durchquerten, in dem ein riesiger einsamer Tiger lebte, der nicht nur einsam, sondern auch sehr hungrig war. Schon seit Tagen knurrte sein Magen und er hätte beinahe alles gefressen, um satt zu werden. Selbst auf kleine Mäuse hatte er schon Jagd gemacht, aber die waren zu flink und entwischten ihm. Er war auch nicht mehr der Jüngste. Als er dann dieses Trampeln vernahm, das eindeutig von kleinen Elefantenbabys stammte, machte er sich zum Sprung bereit. Aber er war nicht dumm, er wartete erst ab, ob die Kleinen nicht von ihrer Herde oder zumindest von der Elefantenmutter begleitet wurden, wie es eigentlich üblich wäre. Doch kein großer Elefant ließ sich blicken. Das war seine Gelegenheit. Einen der beiden kleinen Elefanten würde er bestimmt erwischen ...

Fortsetzung folgt ...


zum 1. August 2019


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