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TIERGESCHICHTEN/010: Die Sonne, die Hummel und die Wirklichkeit ... (SB)



Hummelchen räkelte sich, es war erstaunlich warm in ihrer kleinen dunklen Erdhöhle und sie fragte sich, wie lange sie wohl geschlafen hatte und ob tatsächlich draußen bereits der Frühling Einzug gehalten hatte. "Einen Tag will ich noch warten, sicher ist sicher, wenn es dann immer noch so warm ist, krabbel ich raus und such mir was zur Stärkung. Ja, Hunger hab' ich, das kann ich wohl sagen, ja, so wird`s gemacht", beschloss Hummelchen und kuschelte sich nochmals in ihr kleines Nest.

Am nächsten Morgen buddelte sie sich an die Oberfläche. Das war ganz schön anstrengend, der lange Winter zehrte an ihren Kräften. Aber wo war sie hier nur hingeraten? "Was ist das denn? So ein merkwürdiger Ort, lauter kleine Stöckchen rings um mich her. Damals sah es ganz anders aus. Um mein Erdloch herum lagen Blätter und kleine Steinchen." Plötzlich wurde Hummelchen, eigentlich stets sehr mutig, ängstlich.

"Was geschieht hier?", bibberte sie. Der Boden unter ihr wurde von heftigen Schwingungen auf und nieder bewegt. Riesige Schuhe näherten sich, flieh Hummelchen, flieh! Doch schon war es geschehen. Ein Stoß traf das kleine Insekt so heftig, dass es ein gewaltiges Stückchen durch die Luft geschleudert wurde. Nach einer sehr unsanften Landung lag Hummelchen ganz benommen am Wegesrand. Als sie wieder bei Sinnen war, schaute sie sich nach einem Versteck um, in dem sie sich von dem Schreck erholen konnte. Aber da wurde es seltsam finster über ihr, etwas Riesiges bewegte sich von oben herab auf sie zu.

Eine Menschenhand, das erkannte sie. An Menschen konnte sie sich noch erinnern, denn im letzten Spätsommer, kurz bevor sie sich zum Winterschlaf bereit gemacht hatte, begegnete sie einigen von ihnen. Aber was wollte diese Hand? Näher und näher senkte sie sich und plötzlich wurde Hummelchen auf einen Finger geschubst und hochgehoben. Fliegen konnte sie in ihrem geschwächten Zustand noch nicht. "Oh je, was wird geschehen? Wohin trägt mich dieses Menschenkind? Oder wird es mich gar töten?", dachte Hummelchen völlig hoffnungslos. Mit groben schaukelnden Bewegungen wurde sie fortgetragen und in einen gelben Krokus gesetzt, mitten auf köstlichen Pollen und auch am leckeren Nektar konnte sie sich laben. Die Menschenhand verschwand, sie war wieder ganz allein und wie es schien, erst einmal in Sicherheit.

Hummelchen aß und trank bis sie satt war und nun wagte sie auch einen ersten Flugversuch, der zunächst wacklig, dann aber erstaunlich gut gelang. Munter und guten Mutes flog sie auf der Suche nach einer geeigneten Unterkunft davon. "Ja, ein unbewohntes Mauseloch in der Erde wäre mir schon ganz genehm", dachte Hummelchen und setzte ihren Erkundungsflug fort. Sie befand sich im Garten eines Bauernhofes voller bunter Blüten. Märzenbecher, blaue, weiße und gelbe Krokusse, erste Primeln und Osterglocken. "Na, verhungern werde ich hier nicht", freute sie sich und steuerte nochmals eine Krokusblüte an.

Nach einer Weile emsigen Fliegens entdeckte sie in einer alten Holztür ein schönes, dunkles Loch, gerade gut geeignet als Einflugloch. "Ob sich dahinter eine passende Höhle für mich befindet?" Hummelchen überlegte nicht lange und nahm Kurs auf dieses vielversprechende, finstere Rund, nahm kurz Platz auf dem schmalen Rand, lugte hinein, konnte aber nicht erkennen, was sich dahinter befand. "Na, da gibt`s nichts, einfach mutig hineinfliegen!", summte sie sich zu.

Was war das für eine Überraschung! Unser kleines Insekt flog hierhin und dorthin, doch diese vermeintliche Höhle schien endlos riesig zu sein. Ganz plötzlich wurde eine Tür geöffnet und ein grelles Licht verscheuchte die Finsternis. Hummelchen erschrak, sie befand sich in einem Kuhstall. "Schleunigst weg von hier", dachte sie und schoss im Eilflug auf das Helle hinter der geöffneten Tür zu. Aber hier sah es nun überhaupt nicht nach einer passenden Höhle für das kleine, pelzige Insekt aus. Alles um sie herum war sauber und das helle Holz der Möbel roch nach Baum.

"Auch von hier sollte ich schleunigst verschwinden", mahnte sie sich zur Eile. Doch so einfach war das nicht. Laut summend und brummend vor Sorge, kreiste sie durch den Raum und hielt Ausschau nach einem geöffneten Fenster. Leider waren zwar alle blitzsauber und beinahe wäre Hummelchen gegen eine Scheibe geflogen, doch offen stand keines. Summend und brummend suchte sie in allen Ecken, landete auf einem Bücherregal, auf einer Lampe, einem Kissen, flog hinauf und hinunter und begegnete einem jungen Hund, der durch ihr lautes Summen auf sie aufmerksam geworden war. Neugierig schaute er ihr hinterher und dann versuchte er, sie zu erwischen, sprang hoch und rannte durch die Stube, rannte eine Stehlampe um und riss die Tischdecke samt Kaffeetassen vom Tisch. Doch Hummelchen war stets schneller und es machte ihr sogar Spaß, diesem kleinen, tollpatschigen Vierbeiner immer wieder zu entkommen.


Ein in die Höhe springender Hund sieht sich nach der kippenden Lampe um, die Hummel weit über ihm - Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick

Eine wilde Hummeljagd
Buntstiftzeichnung: © 2021 by Schattenblick


Allerdings war der entstandene Lärm nicht ungehört geblieben. Die Zimmertür wurde aufgerissen und herein stürmte eine rundliche Frau, die ihrem Ärger deutlich Luft machte. Sie schimpfte mit dem kleinen Hund und packte ihn im Nacken. Er quiekte und bellte, doch es half alles nichts, er wurde vor die Tür befördert. Ein Glück für Hummelchen, denn das war die Gelegenheit aus dem Zimmer zu flüchten. So schnell sie konnte, flog sie hinaus, vorbei an der Frau, die inzwischen den Hund abgesetzt hatte. Nun schien sie gar nicht mehr so böse zu sein, denn sie erklärte dem Kleinen, dass er nicht hinter Brummern herjagen dürfe. Erstens würde er sie sowieso nicht fangen können und außerdem geschah dabei meistens ein Unglück, wie zum Beispiel das mit den zerbrochenen Kaffeetassen. Der Hund leckte die Hand der Frau und Hummelchen war beruhigt, dass es nicht so schlimm für den kleinen Kerl ausgegangen war. Voller Freude über ihre zurückgewonnene Freiheit, flog sie davon. Sie stärkte sich mit Nektar und fand tatsächlich auch bald ein unbewohntes Mauseloch in einem kleinen Wall nahe der Hauswand. Nun begann sie damit, ihr Hummelnest einzurichten und bald schon würde sie darin nicht mehr allein sein. Viele Hummeln würden durch den Garten fliegen und die Blüten aufsuchen.


zum 18. Mai 2021


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