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TIERGESCHICHTEN/021: Der gute Bruder ... (SB)



Vor langer Zeit geschah etwas Merkwürdiges. Ein Kuckucksei wurde in ein fremdes Nest gelegt. Nun, sagt ihr, das ist doch nichts Besonderes, das ist doch bei Kuckucks so üblich. Ganz recht, aber hört selbst wie ein kleiner Kuckuck sein blaues Wunder erlebte.

Die Forschungsreise in den Regenwald war lange geplant und Frau Professor hatte ihre Sachen bereits sorgfältig gepackt. Diesmal allerdings hatte sie etwas im Gepäck, das nicht wirklich zu ihren Untersuchungen von Baumarten passte. Tage zuvor hatte ihr Enkel Tovje ihr ein verletztes Kuckucksweibchen gebracht, mit der Bitte, es doch wieder gesund zu pflegen. Wie konnte sie da nein sagen? Doch so ganz genesen war der Vogel noch nicht, was also tun? Frau Professor entschied sich, das Tier mitzunehmen.

Als sie mit ihrem Forscherteam das Flugzeug verließ, begaben sie sich in das Zeltlager, das für sie bereits vorbereitet worden war. Frau Professor packte ihre Sachen und Untersuchungsgeräte aus und stellte den Käfig mit dem Kuckucksweibchen, das sie Helene getauft hatte, in die Nähe des Zelteingangs, damit es sich an die Laute des Urwalds gewöhnen konnte. Heute kann niemand mehr genau sagen, wie es dazu kommen konnte, dass Helene den Käfig verlassen und davonfliegen konnte, aber alle Wissenschaftler waren in Sorge um den Vogel, denn er passte so gar nicht in den Dschungel und war großen Gefahren ausgesetzt.

Doch Helene schien das einerlei zu sein, denn das Wichtigste für sie war es, nun bald ein geeignetes Nest zu finden, in das sie ihr Ei legen konnte. Ihr Erkundungsflug ließ sie ein recht großes Nest erblicken, in dem sich ein einziges Ei befand. Platz genug, das ihre dort hineinzulegen. So geschah es und Helene blieb noch eine Weile in einiger Entfernung auf einem Ast sitzen, bis der große Elternvogel sich auf die Eier hockte. Dann flog sie davon. Es ist nicht überliefert, ob sie zu Frau Professor zurückflog oder nicht, doch hier begann ein ganz neues Abenteuer für den Bewohner des Kuckuckseis.

So vergingen einige Wochen und der kleine Kuckuck erblickte, nachdem er unter mühevollem Picken endlich seine Eischale aufgebrochen hatte, das Licht der Welt - und seinen Nestgefährten.

"Bist du mein Bruder?", wollte er wissen und freute sich, nicht allein zu sein. "Ja, ich denke schon", brummte der viel Größere, dessen Federkleid noch ebenso feucht an ihm klebte, wie an dem Kuckuckskind. Als die Mutter, eine Harpyie, ein Greifvogel von riesiger und mächtiger Gestalt, in ihr Nest zurückkehrte, war sie erstaunt:

"Na, was ist denn das? Da sind doch tatsächlich zwei gleichzeitig aus dem Ei geschlüpft, hmm, dann muss ich wohl beide füttern!" Ihr müsst wissen, dass Harpyien normalerweise nur ein einziges Junges großziehen.

Die beiden Vogelkinder freundeten sich an und selbst als es im Nest immer enger wurde, passten sie aufeinander auf, so dass keines verlorenging. Kuno, der Harpyiensohn, war bald doppelt so groß wie Willy, der Kuckuckssohn und die Mutter hatte viel zu tun, um die beiden satt zu bekommen. Besorgt blickte sie auf ihren kleinen Willy, der einfach nicht wachsen wollte, während Kuno schon eine stattliche Figur abgab. Auch beim Flugunterricht und beim Jagen zeigte der Kleine keinerlei Kunstfertigkeit. Kuno bemühte sich, ihm das Jagen beizubringen.

"Kuno, ich glaube, meine Füße sind zu klein, da sind gar keine so mächtigen Krallen dran, wie bei dir", seufzte Willy.

"Das macht doch nichts, die wachsen schon noch. Du hältst eben erst mal nach kleiner Beute Ausschau. Aber sag, hast du Lust vorher noch Flugkunststücke zu üben?", wollte Kuno wissen. "Prima, das machen wir."

Die beiden hockten auf dem Rand des Nestes, das sich ganz weit oben in den allerhöchsten Baumkronen befand. Dann breiteten sie ihre Flügel aus und stürzten sich hinab. Für Kuno, den Harpyiensohn, war es nicht schwer durch das Baum- und Blätterdickicht zu fliegen, doch für den Kuckuck-Willy schon. So kam es wie es kommen musste, er blieb an einer Schlingpflanze hängen, schoss kopfüber auf ein riesiges Blatt und rutschte hinunter auf eine Astgabel, an der er endlich Halt fand. Er schrie: "Kuno, hilf mir, ich weiß nicht, wo ich bin, wie komme ich hier wieder raus?" Keine Antwort. Nur das kreischende Gelärme der vielen Tiere im Regenwald war zu hören. Ihm gegenüber leuchtete mit ihrer roten Farbe eine merkwürdige Blüte, die aussah wie eine Tonne oder eine Kanne mit Deckel. Willy wusste nicht warum, aber er fürchtete sich vor ihr und bemühte sich, ihr nicht zu nahe zu kommen. Wieder rief er nach seinem Bruder: "Kuno, bitte, hol mich hier raus!"


Willy geht zögernd der lockenden gefährlichen Pflanze entgegen - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Kuckuck Willy vor der gefährlichen Blüte
Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


Die Pflanze verströmte einen süßlichen, eigentlich leckeren Duft und es schien Willy beinahe so, als könne er sie hören: "Komm, kleiner Vogel, trink von mir!"

Willy hatte Angst, wusste nicht, was er davon halten sollte. Wieder säuselte die Blüte: "Wenn du von mir trinkst, wirst du groß, stark und mächtig."

Willy überlegte: "Groß, stark und mächtig, so wie mein Bruder Kuno. Das wäre toll, dann könnte ich mich auch selbst befreien und nach Hause fliegen."

Der kleine Kuckuck zögerte noch, sollte er es wagen? Es war zu verlockend, Willy wäre gern so groß wie Kuno. Ja, er entschloss sich, von der Blüte zu trinken. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen und abermals vernahm er ein Flüstern: "Nur keine Scheu, komm näher!"

Im selben Moment stürzte die Harpyienmutter hinab, Zweige brachen, Blätter knickten und dann ergriff sie Willy mit ihren großen Krallen, hielt ihn vorsichtig fest und flog hinauf in Richtung Nest, in dem Kuno schon wartete.

"Das war knapp, mein lieber Sohn, beinahe wärst du gefressen worden," schimpfte die Vogelmutter, war aber eigentlich glücklich, dass sie Willy retten konnte. Sie hatte seine Hilferufe gehört, Kuno nach Hause geschickt und blitzschnell den kleinen Kuckuck befreit. Willy erschrak: "Wie kann das sein, es war doch eine Blüte, sie versprach, mich groß, stark und mächtig zu machen, wenn ich von ihr trinke."

"Hättest du das tatsächlich getan, dann hätte sie dich gefangen, du wärst in sie hineingefallen und von ihr gefressen worden! Du musst wissen, sie ist eine fleischfressende Pflanze und verspeist auch so kleine Leute wie dich. Also Willy, bleib lieber klein, bleib einfach so wie du bist, hörst du!", sprach die Vogelmutter sehr ernst zu ihm. Willy versprach es ihr.

Kuno richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sagte ganz feierlich: "Willy, hab keine Angst, ich passe auf dich auf und zeige dir alle Gefahren, die hier im Urwald auf dich lauern. Ich beschütze dich, ob du nun groß oder klein bist, schließlich bin ich dein Bruder."

Nach diesem Schreck war Willy einfach nur glücklich, darüber dass er noch lebte und darüber, dass er einen Bruder und eine mächtige Mutter hatte, und er fühlte sich sicher und geborgen, eben zu Hause.

Ende


30. Dezember 2022


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