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MALEREI/058: Gegen die Barbarei - Vor 85 Jahren begann Pablo Picasso die Arbeit an "Guernica" (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 17 vom 29. April 2022
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Gegen die Barbarei

Vor 85 Jahren begann Pablo Picasso die Arbeit an "Guernica"

von Jenny Farrell


Vor fünfundachtzig Jahren, am 26. April 1937, löschten deutsche Bomber die kleine baskische Stadt Gernika (Spanisch: Guernica) aus. Am 28. April nahm Picasso die Arbeit an seinem Werk "Guernica" auf.

Er hatte im Januar 1937 den Auftrag erhalten, ein Gemälde in der Größe eines Wandbildes für den spanischen Pavillon auf der "Internationalen Ausstellung der Kunst und Technik im modernen Leben" in Paris zu schaffen. Der spanische Pavillon sollte für die gerechte Sache der Spanischen Republik eintreten und damit internationale Unterstützung erzielen.

In der formalen Komposition des Gemäldes verbindet Picasso das christliche Triptychon (Darstellung des Leidens Christi) mit dem klassischen griechischen Pediment; er verweist somit auf Höhepunkte der europäischen Kultur und setzt sie gegen die Barbarei ein.

Das Gemälde zeigt zwei Tiere und fünf Menschen. Der Stier und das Pferd stehen traditionell für die spanische Volkskultur, die klassische Mythologie, ja für viele bäuerliche oder nomadische Kulturen. Zwischen ihnen tödlich getroffen eine Taube. Des Weiteren sind eine Lichtträgerin und die Pietà dargestellt.

Zwei Lichtquellen, die Fackel und die Glühbirne/Sonne, befinden sich oben in der Bildmitte. Die Lichtträgerin, als Symbol des aufklärerischen Humanismus, beleuchtet hier seine Perversion - die Zerstörung des Lebens. Sie verweist auf die Figur der Freiheit sowohl in der bildenden Kunst als auch in der Literatur, auf die New Yorker Statue, die der römischen Göttin Libertas nachempfunden ist, oder auch auf Delacroix' Gemälde der Freiheit, die die Französische Revolution anführt.

Das Licht der Sonne/Glühbirne wird in der griechischen Mythologie mit Apollo in Verbindung gebracht; in der christlichen Kultur steht Licht traditionell für Gott.

Diese beiden Lichtquellen werfen einen Lichtkegel auf das darunter Liegende - entsetzliches menschliches Leid und Zerstörung. Stellt man sich vor, dass die von der Lichtquelle ausgehenden Linien ein Dreieck mit der Basis des Gemäldes bilden, erhält man das Giebelfeld des klassischen Tempels, das mit der zentralen Tafel des Triptychons zusammenfällt.

Beleuchtet wird eine aus dem Schlaf gerissene Frau, die aus einer brennenden Stadt flieht. Ein anderer Mensch ist in den Flammen gefangen, schreiend, kurz vor dem Verbrennen. Das Pferd in der Mitte windet sich in Todesangst, von einem Speer tödlich im Rücken getroffen. Unter den Füßen liegen zerstückelte menschliche Körperteile: ein Arm, der ein zerbrochenes Schwert umklammert, daneben der schwache Umriss einer Blume. Ein anderer Arm liegt ausgestreckt neben einem abgetrennten Kopf, Grauen und Todesangst ausdrückend. Die ausgestreckte Hand reicht in die untere linke Bildecke und zeigt ein Bemühen, das tote Baby in den Armen seiner verzweifelten Mutter zu schützen.

Betrachtet man das Gemälde als Triptychon, so befinden sich die weinende Mutter und der brennende Mensch in den Flügeln zu beiden Seiten des Mittelbildes, beide mit ähnlichem Ausdruck. Diese Figuren wie auch das Pferd schreien, protestieren und wehren sich im Augenblick ihrer Zerstörung.

Der mächtige Kopf der Lichtträgerin, der die Vernunft, die Zivilisation und eine demokratische Weltöffentlichkeit repräsentiert, schwebt von rechts durch das Bild. Sie ist Zeugin, die die Schrecken von Gernika sowohl sieht als auch offenbart. Sie verkörpert Leben, Energie und Hoffnung.

Über der Mutter schwebt der Stier, eine tiefe Quelle der Hoffnung und des Widerstands. Seine Augen und sein Mund drücken Traurigkeit und Wut aus. Er verkörpert die Kraft der unzerstörbaren, lebensspendenden Natur, die seit jeher mit Fruchtbarkeit verbunden ist. Der Stier steht für die inhärente Kraft des Volkes.

Das Pferd mit seinem verzerrten Kopf befindet sich im Zentrum sowohl des Pediments als auch des Triptychons. Das Pferd destilliert das Leiden des Volkes, wird zur Essenz desselben. Der Pferdekopf steigert symbolisch die Agonie, den elegischen Ton des gesamten Bildes.

Das gequälte Pferd steht zwischen der Lichtträgerin und dem Stier, der Vernunft und der Natur, die zusammen die Regeneration des Lebens garantieren. Die zerbrechliche, aber sichtbare Blume neben dem gefallenen Soldaten symbolisiert ebenfalls die Wiedergeburt. Die vereinte Kraft der Vernunft und der Natur weckt Hoffnung auf neues Leben, auf die Überwindung der Zerstörung. Der körperlose Kopf der Vernunft bewegt sich in Richtung Stier und deutet auf die notwendige Verbindung von Kopf und Herz, von Vernunft und Körper. Diese beiden Figuren sind physisch nicht so gequält wie die Menschen. Der Stier ist verzweifelt und die Lichtträgerin entsetzt; gemeinsam geben sie den Grund für Hoffnung, für Wut, für den Willen zum Widerstand und zur Gegenwehr, für Erneuerung.

Dieses Gemälde ist monochrom; seine Bilder schaffen eine gewisse Abstraktion. Die Andeutung einer zerrissenen Zeitung erzeugt ebenfalls eine distanzierende Wirkung.

Auch die Größe des Gemäldes wirkt auf den Betrachter physisch distanzierend: Es ist 3,49 Meter hoch und 7,76 Meter breit und kann aus der Nähe nicht richtig betrachtet werden. Die Botschaft des Werks zu erfassen erfordert Anstrengung parallel zu dem Versuch, Geschichte zu verstehen. Sie wird nicht fertig präsentiert, sondern muss durch Nachdenken erschlossen werden.

Die dargestellten Figuren stehen stellvertretend für die kollektive Erfahrung des spanischen Volkes und darüber hinaus für die Menschheit in einer kriegszerrütteten Welt. Es ist DIE Mutter, die um ihr Kind trauert, DIE Frau, die aus einer brennenden Stadt flieht, DER Mensch, der von Flammen verzehrt wird, DER gefallene Soldat, DIE Welt in Flammen. Die Komposition suggeriert darüber hinaus, dass es sich sowohl um einen Innen- als auch Außenraum handelt, wodurch das Bild auf einen universellen Raum verweist.

Das Gemälde ist eine umfassende Stellungnahme gegen die Unmenschlichkeit des Krieges, Verurteilung wie auch Appell, für den Frieden zu kämpfen.


Dieser Artikel stützt sich auf einen ausführlichen Essay Thomas Metschers in: Kunst, Kultur, Humanität, Bd. II: Der Friedensgedanke in der europäischen Literatur. Fischerhude: Verlag Atelier im Bauernhaus 1984.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 54. Jahrgang,
Nr. 17 vom 29. April 2022, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 21. Mai 2022

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