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ARBEITERSTIMME/227: Arbeiterpolitik als innergewerkschaftliche Opposition zwischen 1945 und 1952


Arbeiterstimme, Herbst 2010, Nr. 169
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Arbeiterpolitik als innergewerkschaftliche Opposition zwischen 1945 und 1952
Beitrag im Rahmen des Salzgitter-Forums zum 60. Jahrestag des Streiks gegen die Demontage der Hütte am 6. März 2010.


Von Jörg Wollenberg


Für Rolf Becker; dem in der Tradition der "Arbeiterpolitik" Denkenden und Handelnden, zum 75. Geburtstag


Vergebliche Heimkehr in der "Stunde Null": Emigranten und Kommunisten in Westdeutschland nicht erwünscht

Auf der Konferenz von Jalta vom 11. Februar 1945 hatte die Anti-Hitler-Koalition noch einvernehmlich ihren "unbeugsamen Willen" bekundet, "den deutschen Militarismus und Nationalsozialismus zu zerstören und dafür Sorge zu tragen, daß Deutschland nie wieder imstande ist, den Weltfrieden zu stören." "Wir sind fest entschlossen, sämtliche deutschen militärischen Einrichtungen zu entfernen oder zu zerstören; ... alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen; ... die Nationalsozialistische Partei, die nationalsozialistischen Gesetze, Organisationen und Einrichtungen zu beseitigen, alle nationalsozialistischen und militärischen Einflüsse aus den öffentlichen Dienststellen sowie dem kulturellen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes auszuschalten und in Übereinstimmung miteinander solche Maßnahmen in Deutschland zu ergreifen, die für den zukünftigen Frieden und die Sicherheit der Welt notwendig sind."

Um diese Aufgaben überhaupt erfüllen zu können, brachten die Angloamerikaner drei Listen mit nach Deutschland: eine weiße, eine schwarze und eine graue. Darin hatten sie 1440 Deutsche erfasst, von denen 441 "weiße" für führende Positionen in Frage kamen und 389 "graue" nur für unwichtigere Positionen zur Verfügung stehen sollten. Der Rest "schwarze" sollte überhaupt keine Beschäftigung wieder übernehmen dürfen.[1] Vorbereitet wurden diese Listen von deutschen Emigranten im Auftrag des US-Geheimdienstes und der Militärregierungen. Und dennoch erschwerten die Westmächte nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus die Rückkehr der Emigranten, die im Exil als linke Antifaschisten die Deutschlandpolitik der Alliierten mit vorbereitetet hatten, ihre unzulängliche Anwendung jedoch nach 1945 kritisierten (z.B. die Sozialisten Franz Leopold Neumann und Fritz Karsen). Andere widersetzten sich von vornherein der Politik der alliierten Kontrollbehörde, so u.a. die oppositionellen Kommunisten August Thalheimer und Heinrich Brandler.[2] Die wenigen Emigranten, denen die Rückkehr in die alte Heimat gestattet wurde, stießen schnell auf so viel Widerstand, dass sie von einer "vergeblichen Heimkehr" sprachen (Hermann Kesten) oder wegen der Denunziation durch die selbsternannten Vertreter der "inneren Emigration" auf die Rückkehr verzichteten (Thomas Mann). Und wenn sie mit einem Sonderauftrag frühzeitig zurückkamen, wie z.B. im April 1945 der marxistische Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski im Rang eines US-amerikanischen Generals, um im Auftrag der Westalliierten ebenso die Möglichkeiten eines Wiederaufbaus wie der Demontage zu überprüfen, dann mussten sie schell feststellen, dass die "Besatzungsmächte überall mit Befehlen herrschten: Wir hatten vier Militärdiktaturen, die, wie so viele andere, von zivilen Kräften, natürlich auch in diesem Fall ausländischen, dirigiert wurden."[3] Viele linke Repräsentanten des Exils zögerten deshalb ihre Rückkehr heraus und setzten mit ihren in Deutschland verbliebenen Genossen um Otto Brenner und Karl Grönsfelder vergeblich auf eine frühzeitige und einvernehmliche Einheit der zerstrittenen Arbeiterparteien in Deutschland. So auch die 1931 aus der SPD ausgeschlossenen SAP-Mitglieder um Willy Brandt, Fritz Sternberg, Max Siemsen und Walter Fabian, denen sich oppositionelle Kommunisten um Jacob Walcher, Paul Frölich und August Enderle im Exil anschlossen.[4]

Kurzum: die Rückkehr jüdischer, sozialistischer oder kommunistischer Emigranten wurde in Westdeutschland erschwert, verzögert, ihre Einbürgerung hintertrieben. Dass auch einige westdeutsche Gewerkschaftsführer sich nach 1945 an diesem verdrängten Kapitel beteiligten, soll hier wenigstens angedeutet werden.[5] Auf jeden Fall sorgten prominente und wenig kämpferische Funktionäre der Weimarer Republik dafür, dass die in den einstigen Hochburgen der Arbeiterbewegung unmittelbar nach der Befreiung gegründeten antifaschistischen Aktionen, getragen von den in Deutschland überlebenden Männern des Arbeiterwiderstandes, mit Hilfe der Alliierten aufgelöst und z. B. in Braunschweig durch die Zwangsmitgliedschaft der Arbeiter und Angestellten im FDGB ersetzt wurden - in der Regel unter Umgehung der kommunistischen und linkssozialistischen Antifa-Mitglieder der ersten Stunde.[6] Watenstedt-Salzgitter gehörte zu den wenigen Orten, in denen es der von Kommunisten und Sozialisten geprägten Antifa-Gruppe um Erich Söchtig, Alfred Schoch, Fritz Hartmann und Willi Wegener gelang, nicht nur die Betriebsarbeit und die Neugründung der Gewerkschaften zu prägen. Sie bestimmte von Anfang an trotz starken Widerstands aus dem konservativen Lager wie aus den Vorstandsetagen der eigenen Organisation auch die Gewerkschaftspolitik und den Widerstand in der Region mit Auswirkungen auf die Bundesebene.[7] Eines der überregional herausragenden Ereignisse fand im Juni 1948 in Recklinghausen mit Beteiligung der Linken aus Salzgitter statt.


"Die kapitalistische Ordnung ist in Wirklichkeit am Ende ihres Lateins"

Das verkündete der damals 42-jährige Vorsitzende des Hauptbetriebsrates der "Reichswerke", 2. Vorsitzender der IG Metall-Ortsverwaltung und des FDGB Salzgitter, Erich Söchtig, am 17. Juni 1948 auf dem außerordentlichen Bundeskongress des DGB für die britische Zone. Und er fuhr fort: "Sie (die kapitalistische Ordnung) kann nicht mehr. Ihre Widersprüche sind ungeheuer groß, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Alle Länder stehen unter dem Druck des Dollars. Was wir als deutsche Gewerkschafter zu tun haben, ist, daß wir zu unserem Teil die Interessen der Arbeiter bei dem Kampfe zu wahren haben und uns frei machen müssen von dem Einfluß der Kräfte, die uns in unserer Arbeit als Gewerkschaftsorganisation hindern. Es gilt, eine unerbittliche Kritik anzulegen. Will man uns hindern, dann müssen wir uns scharf dagegen wehren. Wenn wir den Gewerkschaftskampf auf dieser Plattform führen, dann wird das Vertrauen unsrer Kollegen zu unserer Organisation nicht nur gefestigt, sondern wir werden auch die Kräfte entwickeln, die in der Lage sind, den nächsten Schritt zu tun: Eine wirkliche Sozialisierung durchzuführen und die Kräfte niederzuringen, die dieser Aufgabe entgegenstehen."[8]

Schon damals, im Entscheidungsjahr 1948, stellte sich die Frage: Wie reagieren die Gewerkschaften auf die Finanz- und Wirtschaftskrise und wie verhalten sie sich zu den angebotenen staatlichen Lösungsvorschlägen. In diesem Fall ging es um die Währungsreform und die Zustimmung zu dem Marschall-Plan und damit um die endgültige Integration der europäischen Länder in einen West- und Ostblock. Nicht nur aus der Sicht von Erich Söchtig würde mit der auf dem außerordentlichen Bundeskongress mehrheitlich durchgesetzten Entscheidung für den kapitalistischen Westen die durch den Sieg über den Faschismus freigesetzte Dominanz der Linken enden. Die von den Gewerkschaften noch einvernehmlich geforderte grundlegende Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft werde so aufgegeben oder auf die lange Bank geschoben. Die Aufkündigung des antifaschistisch-demokratischen Konsenses durch die "Gründungsväter" des DGB erschütterte besonders die Gewerkschaftslinke in Niedersachsen um Otto Brenner, August Enderle und Erich Söchtig. Weitere zunächst einflussreiche Anhänger eines deutschen Weges zum Sozialismus wie der Verfasser des "Manifestes der demokratischen Sozialisten des ehemaligen KZ Buchenwald", Hermann Brill, oder Anton Ackermann und Wolfgang Abendroth wurden in den vier Besatzungszonen zusehends isoliert. Es ist sicher kein Zufall, dass wenige Wochen nach dem Kongress in Recklinghausen die letzte der neun Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften am 18. August 1948 ergebnislos vertagt wurde.

Lebte Erich Söchtig noch, so würde er uns heute auffordern, das Versäumnis und die Fehler von damals angesichts der aktuellen Krise des internationalen Finanzkapitals nicht zu wiederholen und auf eine von den Parteien unabhängige linke Gewerkschaftspolitik zu setzen. Folgen wir deshalb noch einmal seinen Argumenten gegen den DGB-Bundesvorstand unter Leitung des legendären Vorsitzenden Hans Böckler. Dessen anpassungsbereite, stets sozialpartnerschaftliche Politik war von den Linken, insbesondere von den oppositionellen Kommunisten und Sozialisten schon in der Weimarer Republik kritisiert worden. Sie sollten nach 1945 den Kern der "Gruppe Arbeiterpolitik" (GAP) bilden. Hans Böckler hatte vor 1945 als Sekretär der Zentralarbeitsgemeinschaft von 1918 ebenso wie als Tolerierungspolitiker des ADGB und Reichstagsabgeordneter der SPD seine Rolle als Sozialpartner erfolgreich wahrgenommen. Böckler selbst glaubte noch am 17. Mai 1933 mit den von Juden und KZ-Häftlingen "gesäuberten" Mitgliedern der Reichstagsfraktion, dem außenpolitischen Programm Hitlers zustimmen zu müssen.[9] Das Verhalten des Rumpfvorstands der SPD und der Vorstände der Gewerkschaften sei "kläglich bis zum Erbarmen gewesen". So schon der keineswegs linksverdächtige einstige Reichskanzler Philipp Scheidemann (SPD) in seinen "Schriften aus dem Exil".[10] Dass diese Repräsentanten nach 1945 dennoch wieder zu Amt und Würden kamen, erklärt den späteren Enttäuschungsüberhang jener Vertreter des Widerstands, die sich bald nach 1945 erneut an den Rand der neugegründeten Organisationen gedrängt sahen, wenn sie nicht bereit waren sich anzupassen. Insofern steht der Kongress in Recklinghausen mit der Zustimmung zum Marshall-Plan und die bald darauf folgenden Hinnahme der Remilitarisierung für die endgültige Anpassung an den kapitalistischen Kurs der Westalliierten und für den Abschied von den Neuordnungsvorstellungen der Gewerkschaften nach 1945. Grund genug, hier noch einmal an die Reden von Böckler und Söchtig zu erinnern.

Erich Söchtig am 17. Juni 1948 im "Parlament der Arbeit":

"Wenn Kollege Böckler gebeten hat, man solle anstelle des Marshall-Plans eine bessere Lösung zeigen, so glaube ich, die Millionen- und Milliardenwerte, die man demontiert und ins Ausland bringt, sind dazu angetan, bessere wirtschaftliche Daseinsbedingungen zu ermöglichen. Statt dessen erleben wir, daß man wertvolle Industrieteile demontiert, ins Ausland schickt und dort wahrscheinlich als Schrott verwendet. Ich kenne Beispiele, wo Hochöfen demontiert werden, die praktisch nicht mehr verwendet werden können, sondern eines Tages als Schrott verarbeitet werden müssen. Wir können uns als Gewerkschaftsorganisation um diese Frage nicht herumdrücken, sondern haben eindeutig und klar dagegen Stellung zu nehmen.

Bei Annahme des Marshall-Plans, so ist hier gesagt worden, müßten wir die Frage der Sozialisierung zurückstellen. Ich bin der Auffassung, daß wir als Gewerkschaftsorganisation diese Frage nicht zurückstellen können, auch dann nicht, wenn die andern erklären, uns in einer sozialistischen Wirtschaft keinen Dollar geben zu wollen. Man kann schon verstehen, daß das amerikanische Finanzkapital bestrebt ist, seine Monopoltendenz durchzusetzen und zu verstärken. Deshalb gibt es für die Gewerkschaftsbewegung nach meiner Auffassung keine andere Wahl, als diesen Marshall-Plan abzulehnen, denn er nimmt uns unsere Selbständigkeit und betrachtet und behandelt uns als Objekt. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir uns eindeutig und klar von diesen Dingen distanzieren. Die Väter unserer Gewerkschaftsorganisation werden wohl kaum in ähnlicher gewesen sein, höchstens in den Gründungsjahren. Sie haben es aber verstanden, durch ihre Kampfstellung gegenüber dem Unternehmertum eine starke Gewerkschaftsbewegung zu entwickeln, und sie haben trotz Unterdrückung unserer Theorien, trotz Zuchthäuser und trotz eines Sozialistengesetzes ihren Willen durchgesetzt und sind gestärkt aus diesem Kampfe hervorgegangen. Auch heute gehen wir nur dann gestärkt aus diesem Ringen und als Sieger hervor, wenn wir konsequent den Kampf aufnehmen. Gehen wir Kompromisse ein, dann werden wir darunter zu leiden haben und geben unsere selbständige Gewerkschaftsbewegung auf, bleiben somit Objekt in den Händen dieser Kräfte. Das gilt nicht nur für uns, sondern für ganz Deutschland. Die allgemeinen Verhältnisse bringen uns in diese Zwangslage. Aber unsere Aufgabe muß es sein, diese Umklammerung niederzuringen und wieder als wirklich freie Gewerkschaften - die nur von den Interessen der Arbeiterklasse geleitet und diktiert werden -, diesen Kampf durchzuführen.

Wir werden uns schon in den nächsten Tagen oder Wochen vor eine Reihe gewerkschaftlicher Aufgaben gestellt sehen. Was wir in den letzten Wochen über die Durchführung von gewissen Plänen gehört haben, ist derart, daß wir uns fragen müssen, ob unsere Gewerkschaftsorganisation noch die Macht in sich trägt, mit diesen Schwierigkeiten fertig zu werden."

Der damalige Vorsitzende des DGB der britischen Zone und spätere erste Vorsitzende des DGB auf Bundesebene, Hans Böckler, antwortete:

"Der Kollege Söchtig führte auch die Demontagen an, und zwar nimmt er in einer Weise dazu Stellung, daß ich mich frage: Weiß der Kollege nicht, daß wir einen Krieg verloren haben, daß wir ein besetztes Land sind, daß alles, was bei uns geschieht, auf Anordnung und Weisung der Besatzungsmächte geschieht? Kollege Söchtig kann auch nicht voll unterrichtet sein über alle Einzelheiten, die seitens der Gewerkschaften gegen diese Demontagen unternommen worden sind. Aber ich muß doch darauf hinweisen, daß wir in Deutschland zur Zeit keine Partei haben, die sich entschlossen etwa auf den Standpunkt stellt, Demontagen müßten unter allen Umständen abgelehnt werden, es sei denn vielleicht die neue Partei, die sich bei den hessischen Wahlen in Wiesbaden aufgetan hat, deren Mitglieder sich in der Hauptsache aus früheren Nazis rekrutieren. Alle anderen Parteien erkennen doch die Notwendigkeit von Reparationsleistungen an, und mehr als einmal habe ich mich darüber gewundert, daß ausgerechnet die größte Partei, der der Kollege Söchtig offenbar angehört, sich höchst beflissen oder beflissener als andere gerade in der Frage der Zusage der Verpflichtung zu Reparationsleistungen geäußert hat. Das wollen wir im Auge behalten.

Es sind Kräfte am Werk, die unsere Absicht als Gewerkschafter durchkreuzen wollen. Diese Kräfte sind aber auch ohne Marshall-Plan vorhanden! Sie waren in gleicher Stärke von Anbeginn vorhanden, sie sind mittlerweile noch stärker geworden, aber nicht durch den Marshall-Plan, der erst anläuft, sondern durch die Unterdrückung ideologischer Art, vozugsweise aus dem Osten. Aber das sind Dinge, die, wie wir wissen, uns keinen Schritt vorwärts bringen. Wir kennen sie nicht nur, sondern wir treffen auf der ganzen Linie Vorbereitungen, um allem, was uns an Bösem zugedacht ist, rechtzeitig begegnen zu können."


Arbeiteraufstand in der Westzone

Schon damals, 1948, stand Erich Söchtig an der Spitze eines Arbeitskampfes, über dessen Bedeutung bis heute unterschiedliche Einschätzungen vorherrschen. Die linksliberale Zeitung "Freitag" erklärte den Demontagestreik vom März 1950 noch jüngst in der Ausgabe vom 26. Februar 2010 zum ersten "Arbeiteraufstand in der Westzone": "In Salzgitter fand der '17. Juni' schon 1950 statt. Der Märzaufstand 1950 endete nicht in blutiger Gewalt und erreichte auch nicht den Umfang des späteren Volksaufstandes vom 17. Juni 1953. Allerdings weisen die Ereignisse auf eine lange verstellte Wahrheit hin: Die westlichen Alliierten - nicht anders als die Sowjets in der Sowjetischen Besatzungszone - handelten weder in Freundschaft zum deutschen Volk, noch wurden sie von ihm als Freunde empfunden. Am deutlichsten zeigt sich dies an der Demontagepolitik der Alliierten, die Konrad Adenauer in seinen Erinnerungen als 'ein Relikt aus ... Furcht und Hass gegen Deutschland' bezeichnet. Zwar vermutet der Wirtschaftshistoriker Wilhelm Treue, dass die den Märzaufstand 1950 auslösenden radikalen britischen Maßnahmen in Salzgitter-Watenstedt als fanatischer Versuch angesehen werden müssen, Hitlers Lieblingskind, als das die Reichswerke galten, restlos zu beseitigen. Doch das die Demontage bestimmende tiefere Kalkül zielt nicht allein auf die Ausmerzung des NS-Regimes ab."[11]

Eine richtige Einschätzung? Oder folgt der "Freitag"-Redakteur Karsten Heinrich hier lediglich einer ungedruckten Vortragsdisposition der "Gruppe Arbeiterpolitik" (Arpo) aus dem Jahre 1954. Dort heißt es auf Seite 4: Die Demontagen "haben bewirkt, daß bis zum März 1950 in den Westzonen und bis zum 17. Juni 1953 in der Ostzone 'das Volk' der Politik der Besatzungsmächte 'blind gehorchte'. Im März empörten sich zum ersten Mal die Arbeiter in Salzgitter gegen die Demontagetruppen der Engländer und am 17. Juni 1953 setzten sich zum ersten Mal die Arbeiter der Ostzone gegen die Bürokratie der S.U.-Besatzung zur Wehr".

Wesentlich zurückhaltender äußern sich kompetente Historiker und Sozialwissenschaftler. Grundlegend bis heute Klaus Peter Wittemann in seiner Dissertation über "Kommunistische Politik in Westdeutschland nach 1945. Der Ansatz der Gruppe Arbeiterpolitik", 1977. Weiter Franz Hartmann, "Gewerkschaften in Niedersachsen nach dem 2. Weltkrieg", 1976, und vor allem Gundula Müller, "Strukturwandel der Arbeitnehmerrechte. Die wirtschaftliche Mitbestimmung in der Eisen- und Stahlindustrie 1945-1975", Essen 1991. Diese Arbeiten aus den siebziger Jahren aus der Göttinger Schule von Helga Grebing sind neben der von Wolfgang Abendroth und Frank Deppe betreuten Arbeit von Arnold Bettien über "Arbeitskampf im kalten Krieg", 1983, nach wie vor zu empfehlen. Dazu kommen zahlreiche Zeitzeugenberichte, z. B. von Paul Elflein, "Immer noch Kommunist?", hrsg. von Rolf Becker und Claus Bremer, 1978. Und last not least die Darstellung des Wissenschaftlers und Zeitzeugen Theodor Bergmann, "Gegen den Strom. Die Geschichte der KPD (Opposition)", Hamburg 2001, S. 342-366, ergänzt um die Kurzbiographien auf den Seiten 399 (Wolfgang Abendroth) bis 566 (Ernst Zulauf).

Wie kommt es zu einer solchen herausragenden Einschätzung dieser Auseinandersetzung über die "Sturmtage von Salzgitter"? So der Aufhänger im Organ der Gruppe Arbeiterpolitik in der zweiten Märzhälfte 1950 (3. Jg., Nr. 6). Der Verfasser ist kein geringerer als Paul Elflein. Er gehörte neben Waldemar Bolze, Karl Grönsfelder und Theodor Bergmann zu den wichtigsten, durch die KPO-Politik schon in Weimar auch theoretisch geprägten Köpfen der Gruppe Arbeiterpolitik in Salzgitter: "Von allen Instanzen im Stich gelassen, greifen die Reichswerkearbeiter am 2. März 1950 zur Selbsthilfe." Es handelt sich um die "erste politische Auseinandersetzung, die von westdeutschen Arbeitern geführt wurde. Über Salzgitter darf nie wieder der Vorhang des Schweigens fallen. Solidarität mit Salzgitter!", so Paul Elflein 1950.

Und dennoch konstatieren wir eine sehr zurückhaltende Wahrnehmung, wenn nicht gar die Ausklammerung dieser Ereignisse in den zeitgenössischen Verlautbarungen und Stellungnahmen der Gewerkschaften. In den Darstellungen der damaligen Zeit dominieren dagegen die Berichte über den Hessischen Metallarbeiterstreik vom 27.8. bis zum 22.9. 1951, mit dem die IG Metall die Führungsrolle im DBG übernahm. Auch den Lohnarbeiterstreiks von 1950/51 der Nordhorner Textilarbeiter und der Bau- und Landarbeiter in der BRD wurde mehr Aufmerksamkeit gewidmet, von dem Streik im Ruhrbergbau im Sommer 1951 ganz abgesehen, der mit dem staatlichen Eingriff in die Tarifautonomie endete und die IG Bergbau und Energie zum politischen Ordnungsfaktor machte: Aus Furcht vor der Radikalisierung der Mitgliedschaft und einem Wiedererstarken der nach 1945 zunächst dominierenden innergewerkschaftlichen, kommunistisch geprägten Opposition durch betriebliche Kampforganisationen setzte der Vorstand auf den ständigen Interessenausgleich mit den Kohlekonzernen und der Bundesregierung.[12] Hinweise finden wir in der Gewerkschaftspresse von 1950/51 auch auf die zahlreichen spontanen Arbeitsniederlegungen mit der nachfolgenden Aussperrung von Arbeitern in den Werften Norddeutschlands. Der IG Metall-Vorstand sah sich damals mit der Frage konfrontiert, ob er im Einzelfall die Aussperrung tolerieren oder die spontanen Streikaktionen unter maßgeblicher Beteiligung von kommunistisch orientierten Arbeitern und Gewerkschaftern unterstützen sollte. Er entschied sich in der Regel gegen die spontanen Aktionen. Die starke Verankerung des Betriebsrates in den Reichswerken und in den lokalen Organisationen wie auch die spektakulären Kampfformen des Demontagestreiks verhinderten ein solches Vorgehen des Vorstands aus Frankfurt in Salzgitter, zumal der Betriebsrat sich auf die Tolerierung durch den Bezirksleiter Brenner verlassen konnte. Und es ist sicher kein Zufall, dass Otto Brenner nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der IG Metall bewusst seinen ersten bundesweit beachteten öffentlichen Auftritt am 27. Juni 1953 in Salzgitter suchte - aus Anlass des ersten Anstichs des dritten Siemens-Martin-Ofens im Hüttenwerk.[13] Es war dennoch nicht zu übersehen, dass den Streiks gegen die Demontage - im Gegensatz zur bürgerlichen Presse - von den Gewerkschaftsorganen wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Zweifelsohne spielte dabei der Befehl der britischen Besatzungsmacht eine gewichtige Rolle. Sie forderte den Vorstand der IG Metall auf, den Demontageanordnungen Folge zu leisten und drohte ansonsten mit dem Verbot der Organisation. So waren der Unterstützung der streikenden Arbeiter von Seiten des Vorstandes enge Grenzen gesetzt. Auch blieb man sich unklar darüber, ob es sich bei den Demontagestreiks um politische Streiks oder um Streiks für die Sicherung von Arbeitsplätzen handelte.[14] War es also nur Zufall, dass auf der ersten Landesbezirkskonferenz des DGB-Niedersachsens am 12. Juli 1950 im nahegelegenen Braunschweig jeder Hinweis auf den Streik in Salzgitter fehlt? Gestritten wurde dagegen über die Brotpreiserhöhung

Der im November 1952 vorgelegte Bericht des DGB-Landesbezirksvorstands unter Leitung von Hermann Beermann spricht von "harten Auseinandersetzungen in den Jahren 1950/51" und charakterisiert den DGB als "ein Hort in der Demokratie" im Kampf gegen die "in Niedersachsen und Bremen stark in Erscheinung tretenden rechtsradikalen Strömungen, Tendenzen, Übergriffe und Organisationen". "... Sie haben die Arbeitnehmerschaft in frechster Weise provoziert und dem linken Totalitarismus in die Hände gespielt".[16] Wie und dass Linke in Salzgitter mit dem Demontagestreik erfolgreich den Gewerkschaftsfeinden von rechts entgegentraten, findet keine Erwähnung. Zitiert werden lediglich "eine ganze Reihe bedeutender und teilweise recht erfolgreicher Arbeitskämpfe, der Bauarbeiterstreik im September 1950, die Lohnbewegung der Hafenarbeiter in Bremen und Bremerhaven in der gleichen Zeit. Der eindrucksvolle Streik der 10.000 Bremer Metallarbeiter im März 1951, der Landarbeiterstreik im März 1951, erfolgreiche Kämpfe der ÖTV im Emdener Hafen. Sie demonstrierten, wie notwendig die gewerkschaftliche Solidarität ist".[17](*)

der Britischen Besatzungszone glaubt auf jeden Hinweis verzichten zu können. Zu Salzgitter finden wir lediglich folgende Notiz: "Eine große Zahl von Betriebsräten in den Großbetrieben Niedersachsens - in Großstädten, im Salzgittergebiet, in Bremen und in anderen Wirtschaftszentren - errangen nach dem Zusammenbruch spontan und entschlossen entscheidende Mitbestimmungsrechte, die ... nur teilweise ihre gesetzliche Fundierung fanden."[18] Der 1953 vorgelegte "Bericht über Tätigkeit und Erfahrungen des DGB in Niedersachsen von 1950/1951" schreibt dagegen den gewerkschaftlichen Organisationen auf Landes- und Bundesebene das Hauptverdienst bei der Rettung der Reichswerke ebenso zu wie die gleichzeitige Durchsetzung des Mitbestimmungsrechtes in der Montanindustrie. Die Beschäftigten im Salzgitter-Gebiet werden dafür gelobt: "Entgegen der dauernden Verlockung der totalitären Agitatoren jenseits der Zonengrenze haben die Arbeitnehmer der Reichswerke zwischen Sprengtrichtern und Schrotthaufen Vernunft und Disziplin gezeigt, produktive Anlagen errichtet, Arbeitsplätze neu geschaffen und somit der Bundesrepublik Werte von vielen 100 Millionen DM gerettet und die Grundlagen für den neuen Aufbau gesichert"[19]. Kein Hinweis auf die Betriebsräte der Reichswerke als Organisatoren des Widerstands und des Streiks. Dafür ein ausführlicher Bericht mit Großfoto über Hans Böcklers Rede am 11. März 1950 vor den Arbeitern der Reichswerke. Auch die damaligen Auftritte der Bundesminister Anton Storch (28.11.1949) und des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher (21.1.1950) erfahren eine Würdigung (S. 9ff). Aber die schwierigen und intensiven Rettungsbemühungen des im Bundesvorstand nach wie vor isolierten IGM-Bezirksleiters Otto Brenner bleiben ebenso unerwähnt wie die herausragende Bedeutung der Gruppe Arbeiterpolitik. Grund genug, um der Rolle der Oppositionellen in der IG Metall noch einmal nachzugehen und zu fragen, warum so viele der zunächst einflussreichen Repräsentanten der innergewerkschaftlichen Opposition spätestens 1950 an den Rand oder gar aus der Organisation gedrängt wurden.


"Wir fordern die sozialistische Gesellschaftsordnung"
(Alfred Kubel, ehemaliger Ministerpräsident Niedersachsens, am 2.8.1945 als Erstunterzeichner des Braunschweiger Aufrufs zum "Aufbau einer Sozialistischen Einheitspartei")

Was die Mehrheit der Linken in allen vier Besatzungszonen nach der Befreiung vom Faschismus zusammenführte, war:

1. Überall entstanden antifaschistische Komitees, nicht nur in Salzgitter unter Erich Söchtig, der als Erstunterzeichner am 1. September 1945 zur "Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" aufrief. Sie kritisierten das Versagen von SPD und KPD angesichts des Faschismus und plädierten deshalb für eine sozialistische Einheitsorganisation, keineswegs immer initiiert von Kommunisten. Das Volksfront-Komitee unter Leitung des unabhängigen Sozialisten Hermann Brill hatte am 13. April 1945 in Buchenwald ein "Manifest der Demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald" verabschiedet - als "Bündnis aller antifaschistischen Kräfte Deutschlands" für ein "freies, friedliches, sozialistisches Deutschland" und die "Internationale der Sozialisten der ganzen Welt", unterschrieben von zahlreichen deutschen und ausländischen Sozialisten und Kommunisten. Darunter die Braunschweiger Buchenwaldhäftlinge Hermann Ahrens und Rudi Glaß. Das Manifest folgte der illegalen "Buchenwalder-Plattform" vom 1. Mai 1944 mit dem bekannten politischen Schwur, im KZ angenommen von den kommunistischen und sozialistischen Repräsentanten der Parteien aus Deutschland, Österreich, Tschechoslowakei, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Jugoslawien, Polen und der UdSSR.[20]

2. Einvernehmlich kritisierten die linken Anhänger der Einheitspolitik die Funktionäre, die 1933 versagt hatten, sich aber nach 1945 ohne Selbstkritik für den Wiederaufbau zur Verfügung stellten. Als der aus Hannover stammende Tischler Karl Hölzer aus der Haft im April 1945 in seine Heimatstadt zurückkehrte, ein oppositioneller Kommunist, der im Oktober 1931 mit seinem langjährigen Jugendfreund Otto Brenner zur linken Abspaltung der SPD, zur SAP, gegangen war, galt einer seiner ersten Besuche dem Gewerkschaftshaus. 50 Jahre danach dazu der streitbare Holzarbeiterfunktionär im Rahmen einer Veranstaltung der Gewerkschaft Holz und Kunststoff, heute integraler Bestandteil der IG Metall: "Mittlerweile fing nun in Hannover das Gewerkschaftsleben an. Und da möchte ich sagen: also ich war vor 1933, das habt Ihr ja wohl inzwischen aus meinen Worten gehört, ich war nun gerade nicht, sagen wir mal, der linientreueste Gewerkschafter. Wenn irgendwelche Gewerkschaftsversammlungen waren, Hölzer ist aufgetreten und hat, auch wenn ich nun gerade nicht so revolutionär sprach, daß die rote Suppe mir aus dem Munde spritzte, also so nicht, aber man hat doch immerhin angedeutet, so geht es nicht! Na ja, und dann fingen die ersten Gewerkschafter wieder an. Ich bin hingegangen in Hannover in das neue Gewerkschaftshaus, wo heute die Bank für Gemeinwirtschaft drin sitzt. Ja, ich komme da rauf, wer sitzt da? Ich sage, na, sag ich, seid ihr alten Windmacher wieder da. Ja, da saßen sie alle wieder da, die 1933 überlebt hatten. Nee, habe ich zu meiner Therese gesagt, hier geh ich nicht rein, habe ich keine Lust zu. Aber es ging weiter und am 1. Januar 1946 bin ich denn in die Gewerkschaftsgruppe Holz eingetreten"[21].

Wer waren die "alten Windmacher"? Zu ihnen gehörten in Hannover und in der britischen Besatzungszone viele "Gewerkschafter der ersten Stunde", die schon in der Weimarer Republik Leitungsaufgaben übernommen hatten. Dazu zählten die alten Funktionäre des Metallarbeiter-Verbandes um Hans Böckler (Köln), Walter Freitag (Hagen), Wilhelm Petersen (Hamburg), Albin Karl und Ernst Winter (Hannover). Hinzu kam der aus dem schwedischen Exil zurückgekehrte Vorsitzende des Holzarbeiter-Verbandes, Fritz Tarnow, als von den Alliierten eingesetzter Vertreter der sich in der amerikanischen Besatzungszone ebenfalls konstituierenden Gewerkschaften. Aus der Sicht der Jüngeren um Karl Hölzer, Otto Brenner, Erich Söchtig, Willy Bleicher, Fritz Strothmann, Fritz Salm oder Heinrich Menius, Alfred Dannenberg und Adolf Heidorn - alle "eiserne Metaller" der Jahrgänge 1906/07 - hatten die alten "Bonzen" als Teil der reformistischen Vorstandsgruppe 1933 versagt. Der "Führerkreis der vereinigten Gewerkschaften" um Theodor Leipart, Graßmann, Franz Spliedt und Wilhelm Leuschner (ADGB) hatte - gegen den Willen des Vorsitzenden des AfA-Bundes, Siegfried Aufhäuser, aber ohne Widerspruch aus der Vorstandsetage des Metallarbeiter-Verbandes und mit Unterstützung des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften (Jacob Kaiser, Adam Stegerwald) und dem Verband der Deutschen Gewerkvereine (Ernst Lemmer) - nicht nur mit der NSDAP-Führung um das Überleben der Organisation verhandelt, als schon zahlreiche Mitglieder im KZ saßen. Er rief auch mit der "Deutschen Arbeiterfront" (DAF) und der NSBO zur gemeinsamen Demonstration mit den Naziorganisationen am 1. Mai 1933 auf, dem von den Nazis umgewandelten und wieder arbeitsfrei gemachten "Tag der Nationalen Arbeit".[22] "Daß es Gewerkschaftsführer gegeben hat," so Scheidemann in seinen Aufzeichnungen aus dem Exil, "die das von ihnen im Interesse ihrer Gewerkschaften rechtzeitig nach dem Aufstand gesicherte Millionenvermögen zurückgeholt haben, um es für die 'Verwaltung' der Nazisten bereitzuhalten, ist eine Handlung, die in ihrer Jämmerlichkeit nur noch übertroffen werden konnte, durch die später vorgebrachten Entschuldigungsgründe."[23] Was hätte wohl Scheidemann (1865-1939) gesagt, wenn er erfahren hätte, dass der oben gemeinte Fritz Tarnow - aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt - als Sekretär für die amerikanische Zone seinen Kollegen 1945 empfahl, die nationalsozialistische Deutsche Arbeiterfront (DAF) als Modell für die neue Einheitsgewerkschaft zu übernehmen und dass er dabei auf Unterstützung von Hans Böckler stieß?

Die "Alten Säcke" ließen von Anfang keine Gelegenheit aus, in Niedersachsen insbesondere Erich Söchtig und den "Dißmannianer" Otto Brenner zu diffamieren und mit Funktionsverbot und Ausschluss zu bedrohen.[24] Beide konnten auch nach der Ende 1946 im VW-Werk in Wolfsburg vollzogenen Gründung der "Wirtschaftsgruppe Metall" nur mit Mühe in den wichtigen Zonenvorstand gewählt werden. Sie unterlagen bei dem Versuch, die Wahl der Bezirksleiter durchzusetzen und die Ernennung durch den Vorstand zu verhindern. Und selbst nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Demontage der Reichswerke wurde der Metall-Vorstand vor der "gerissenen und letzten Endes die Gewerkschaft zersetzenden Tätigkeit" von Erich Söchtig gewarnt. Diese Warnung stammte von keinem geringeren als vom ehemaligen kommunistischen Mitstreiter von Söchtig aus den Weimarer Jahren: Sigmund (Siggi) Neumann, der nach 1945 als zentraler Sekretär der SPD die Betriebsgruppen unter Kurt Schumacher aufbaute und 1959 mit Rudi Hanke, einst Musterschüler von Brandler und damals Mitarbeiter im IG Metall-Vorstand, Drahtzieher bei der Übernahme der Mehrheit der Gruppe Arbeiterpolitik unter Söchtig in die Arme der SPD war. "Der Zigeuner Söchtig müßte rausfliegen!", verkündete der Vorsitzende der IG Metall, Wilhelm Petersen, in Gegenwart von Salzgitter-Kollegen noch im April 1950 im Rahmen einer Veranstaltung in der Gewerkschaftsschule Rummenohl, "auch wenn dabei ein paar tausend Mitgliedsbücher hinterhergingen."[25] Dennoch scheiterte der Vorstand immer wieder mit seinen Versuchen, Söchtig 1950/51 aus der Organisation wegen "gewerkschaftsschädigenden Verhaltens" auszuschließen, am Widerstand der Belegschaft und der Vertreterversammlung. Es gelang lediglich, Söchtig zu einem einjährigen Funktionsverbot von Ende 1950 bis Ende 1951 zu verurteilen, ohne damit die oppositionelle Haltung der örtlichen Organisation zu beseitigen. Die nächste Vertreterversammlung stimmte einstimmig dem Antrag zu, Söchtig erneut zum 2. Vorsitzenden zu wählen, damit er nach seiner Rehabilitierung wieder Mitglied der Ortsverwaltung werden könne. Der Vorstand in Frankfurt wurde immer wieder aufgefordert, die Funktionsenthebung von Söchtig aufzuheben[26].

Erfolgreicher erwiesen sich die beiden Vorstandsmitglieder Hans Brümmer und Walter Freitag in dem Bemühen, weitere zunächst noch einflussreiche Kommunisten und Linkssozialisten aus den Vorstandsetagen der Organisation zu drängen - mit Hilfe der These 37: Der KPD-Parteitag in München hatte im März 1951 die rechten Gewerkschaftsführer zum verlängerten Arm des US-Imperialismus erklärt. Der Beirat der IG Metall antwortete im August 1951 auf Anregung von Neumann und Kuno Brandel mit einer Reverspolitik, der es Mitgliedern der KPD untersagte, Angestellte oder Funktionäre der IG Metall zu bleiben oder zu werden, wenn sie nicht eine Loyalitätserklärung für die IG Metall unterzeichneten. Wer diesen Revers unterschrieb, behielt wohl seine Funktionen, wurde jedoch aus der KPD ausgeschlossen. So verringerte sich der Einfluss der KPD in den Gewerkschaften. Und dennoch konnte die Rückkehr in die Vorstandsetagen z. B. von Willy Bleicher, Fritz Salm und Fritz Strothmann wie auch die Karriere ihres Nachfolgers Otto Brenner nicht verhindert werden.

3. In der Regel ließen sich diese kritischen Gewerkschafter, die als "eiserne Metaller" der Jahrgänge 1906/07 die jüngere Gründergeneration bildeten, noch von den Erfahrungen der Revolutionären Obleute des Deutschen Metallarbeiterverbandes leiten, eine basisorientierte Betriebspolitik zur Grundlage der neuen Gewerkschaftsorganisation zu machen: Ein Versuch, der unter Leitung von Richard Müller und dem späteren führenden Kopf des DMV von 1919 bis 1926, Robert Dißmann, nach ersten Erfolgen in einem Kompromiss endete, der das Ergebnis der Anpassung an das mit Blutopfern bekämpfte Betriebsrätegesetz von 1920 war. Es ging in den Tagen der Novemberrevolution von 1918 neben dem Kampf um die sozialistische Republik darum, eine neue Einheitsorganisation mit Hilfe von Betriebsorganisationen aufzubauen, das Industrieprinzip durchzusetzen und den alten Vorstand um Schlicke und Reichel auf dem ersten Verbandstag nach dem Krieg, der 14. ordentlichen Generalversammlung des DMV vom Oktober 1919 in Stuttgart, geschlossen (und erfolgreich) abzuwählen. Die jüngere Generation der Oppositionellen um Brenner, Hölzer und Söchtig wurden außerdem geprägt durch die von der älteren KPO/SAP-Generation um August Enderle und Jacob Walcher vorgelegte Analyse über "Fehlentwicklungen der gewerkschaftlichen Organisationen", dem als Kritik an der spalterischen RGO-Politik der KPD verfassten "Roten Gewerkschaftsbuch" von 1932[27]. Sie gingen nach 1945 in der Regel davon aus, Gewerkschaften zunächst auf der Betriebsebene zu gründen, bevor sie den nächsten Schritt auf der Orts- und Bezirksebene vollzogen. "Um das Entstehen eines neuen Bonzentums zu vermeiden", so Otto Brenner am 17. September 1945 in Hannover, "muß jeder Funktionär aus dem Betrieb heraus und durch das Vertrauen seiner Kollegen berufen werden". Dennoch gingen mit ihrer Hilfe Aufbau und Reorganisation nach 1945 von oben aus, denn "meistens waren Instanzen, d.h. Köpfe vorhanden, so daß die Mitgliedschaften erst später nachvollzogen werden konnten". So Otto Brenner mit dem Blick auf Salzgitter, Hannover, Wilhelmshaven und Bremen in seinem Wolfsburger Rechenschaftsbericht vom 29. Dezember 1946.

Allerdings ist einschränkend zu beachten, dass Salzgitter wegen seiner späten und besonderen Entstehungsgeschichte im Faschismus in viel geringerem Maße auf die alten, wenn auch geschlagenen und illegalisierten Strukturen aus den Hochburgen der Arbeiterbewegung zurückgreifen konnte. Dennoch befanden sich unter den aktiven Kollegen nach 1945 zahlreiche Neu-Salzgitteraner, die sich den Verfolgungen im Faschismus dadurch entziehen konnten, dass sie in den Hermann-Göring-Werken nach 1938 untertauchten (z.B. Otto Müller, Wegener und Söchtig. - vgl. Wittemann, 1977, S.110ff)).

Brenners Wolfsburger Rückblick dürfte sich wohl auch auf die Gefahren bezogen haben, die aus den Pläneschmieden der "alten Säcke" drohten. So trat der alte Vorsitzende des Holzarbeiterverbandes, Fritz Tarnow, schon im Stockholmer Exil - gegen den dortigen erbitterten Widerstand von August Enderle, Willy Brandt, Fritz Rück und den Brüdern Pep und Theodor Bergmann - für die Übernahme der Deutschen Arbeitsfront (DAF) der Nazis als Einheitsorganisation der Gewerkschaften ein. Es war jener Tarnow, der auf dem SPD-Parteitag in Leipzig am 1. Juni 1931 das unsterbliche Wort von der Aufgabe der Gewerkschafter und Sozialisten prägte, nämlich "Arzt am Krankenbett des Kapitalismus" zu sein. Als ob es Sozialisten ziemte, den Kapitalismus gesund, und nicht vielmehr umgekehrt, ihm den Garaus zu machen. (Das sei den gewerkschaftlichen Sozialsanitätern am Krankenbett des heutigen Kapitalismus ins Stammbuch geschrieben).

4. Hinzu kam die Schwierigkeit, einvernehmliche Antworten auf politische Weichenstellungen im Nachkriegsdeutschland zu finden. Diese waren auf einen zentralen Widerspruch zurück zu führen. Otto Brenner dazu auf einer außerordentlichen Betriebsratssitzung in Salzgitter vom 27. Dezember 1949 zum zentralen Thema der Gruppe Arbeiterpolitik nach 1945: "Wir sind letzten Endes ein besetztes Land und stehen unter Befehlen der Militärregierung". Gerade diese Besetzung und Aufteilung Deutschlands durch die Siegermächte infolge des Potsdamer Abkommens veranlasste die aus Kommunisten und Linksozialisten nach 1945 entstandene Gruppe Arbeiterpolitik (GAP) um Erich Söchtig zu einer konsequenten, nicht auf Parteien, sondern ausschließlich auf den Betrieb und die Gewerkschaften orientierten Interessenpolitik. Eine Politik, die sich zunächst und vor allem mit den Folgen der "Raub- und Plünderungspolitik der Besatzungsmächte" auseinander zu setzen hatte.


KPD als "verlängerter Arm der Sowjetunion". SPD als "Agent der Besatzungsmächte"
(Arbeiterpolitik, Nr.1, 1948, S.2)

Beraten von den nach 1945 in der Regel nicht oder spät zurückberufenen Repräsentanten des sozialistischen Exils, den Mitgliedern der Frankfurter Schule oder kritischen Sozialdemokraten wie Franz Leopold Neumann und Ernst Fraenkel, die in den USA eindrucksvolle Faschismusanalysen vorgelegt hatten, kamen die anglo-amerikanischen Siegermächte nach Deutschland mit den vier großen D's.: Demilitarisierung, Denazifizierung, Dezentralisierung und Demokratisierung. Mit den Sowjets einigten sie sich nach Jalta noch einmal im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 darauf, die Grundlagen des deutschen Militarismus zu zerschlagen und die Rüstungsindustrie zu vernichten, um so einem weiteren Waffengang Deutschlands für alle Zukunft die wirtschaftlichen Grundlagen zu entziehen. Die hierzu vereinbarte Demontage sollte nicht nur der materiellen Wiedergutmachung dienen, sondern auch dem potentiellen Aggressor Deutschland die industrielle Basis zerschlagen. Der Plan ging auf den langjährigen US-Finanzminister Henry Morgenthau jr. zurück, den "jüdischen Racheengel", der nach Goebbels aus Deutschland angeblich einen "Kartoffelacker" machen wollte. Für die vom Monopolbetrieb der ehemaligen Hermann-Göring-Werke abhängigen Bewohner von Watenstedt-Salzgitter bedeutete dieser Plan - mehr als für andere Rüstungsschmieden in Deutschland - die Existenzbedrohung, Massenarbeitslosigkeit, Hunger für 100.000 Menschen und die Gefahr eines Wiederaufstiegs der Neofaschisten. Das ließ sich schnell an den Wahlergebnissen nach 1945 ablesen. 23,6% der Stimmen gewann die DRP (Deutsche Reichspartei) bei den ersten Bundestagswahlen von 1949 in Watenstedt-Salzgitter, von den Erfolgen der SRP, der Sozialistischen Reichspartei, bei den Landtagswahlen von 1951 ganz zu schweigen. Eine Partei, die sich offen als Nachfolgeorganisation der NSDAP bezeichnete und dennoch 1951 14% der Stimmen in Niedersachsen erobern konnte.

Aber die Kritik an den Potsdamer Beschlüssen kam auch von links: August Thalheimer, mit Heinrich Brandler einer der Gründerheiligen der KPD und der theoretische Kopf der KPD-Opposition (KPO), hatte diese Politik in seiner Arbeit über das Potsdamer Abkommen aus dem kubanischen Exil heraus von Anfang an kritisiert und prognostiziert, dass alle Versuche der Entindustrialisierung Deutschlands die Arbeiter entweder zur sozialistischen Revolution oder zur Rückkehr zum kapitalistischen System führen würden. Diese herausragende Bedeutung der Demontagefrage fand in den politischen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken, besonders in Kreisen der KPD, ihren Niederschlag. Denn die KPD stützte das Potsdamer Abkommen und begrüßte die Demontagen auch in der Ostzone. Das führte ab September 1946 zu heftigen Auseinandersetzungen in Salzgitter, die letztlich 1948 in der Abspaltung der Gruppe Arbeiterpolitik um Erich Söchtig von der KPD kulminierten. Insgesamt rund 120 Mitlieder verlor die KPD bis 1952, die meisten an die GAP.

Mit zunächst 40, später mit bis zu 120 Mitgliedern übernahm fortan diese Gruppe die Führung im Abwehrkampf gegen die Demontage. Sie plädierte mit Anton Ackermann, dem oppositionellen Gegner Ulbrichts in der SED, für einen "eigenen deutschen Weg zum Sozialismus" und denunzierte die SPD und KPD "als machtlose Agenten und Werkzeug der Besatzungsmächte". Sie kündigte Auseinandersetzungen mit der Politik der "besatzungshörigen Gewerkschaftsbonzen" an und kämpfte gegen die "Eingliederung in das amerikanische Westeuropa"[28]. Die Gruppe erklärte die KPD zum "verlängerten Arm der Sowjetunion" und die SPD zum "Agenten der Besatzungsmächte", so die Formulierung in der ersten Nummer ihrer von Rudi Hanke und Theodor Bergmann redigierten Zeitschrift "Arbeiterpolitik" von Ende November 1948[29]. Die erfolgreiche Abgrenzung zur SPD und KPD war stets begleitet von einer Distanz zum IG Metall-Vorstand bei gleichzeitiger starker Verankerung in der Hütte und in den Vorständen der örtlichen IG Metall und des DGB[30].


Exkurs zum historischen Hintergrund der "Gruppe Arbeiterpolitik" und zur Entstehung und Auflösung der Gruppe in Salzgitter

Nach 1945 knüpfte die Gruppe Arbeiterpolitik an ehemalige KPO-Analysen an, die in einigen ihrer alten Hochburgen (Stuttgart, Frankfurt/Offenbach, Solingen, Berlin, Hamburg, Nürnberg und Bremen) erneut auf Resonanz stießen. Durch die Kontaktaufnahme mit ihren Vordenkern im skandinavischen und kubanischen Exil gewannen sie schnell ein originelles deutschnationales Profil. Von den alten Hochburgen abweichend, entstand der erstaunlich starke Einfluss in Salzgitter durch eher zufällige persönliche Konstellationen, verbunden mit der Neuordnung der Hermann Göring-Reichswerke - als Ausgangspunkt der Entstehungsgeschichte der Stadt Salzgitter mit starkem Einfluss auf die Nachkriegsentwicklung der örtlichen Arbeiterbewegung.[31]. Wie nach der Novemberrevolution von 1918 sah sich die Gruppe der KPD (Opposition) nach dem Sieg über den Faschismus gut darauf vorbreitet, auf die zentralen Fragen von Einheit und Spaltung der Arbeiterbewegung eine eindeutige Antwort zu geben. Sie konnte anknüpfen an grundsätzliche Überlegungen, die nach 1917 zu einer unabhängigen Gruppe der Linken geführt hatte - in Bremen unter Beteiligung zunächst aller Strömungen links von der MSPD. Mit der Gründung der Bremer "Arbeiterpolitik" als "Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus" präsentierte diese Gruppe ein Organ, das getragen und finanziert wurde von den sie stützenden linken Werftarbeitern in Bremen. Diese Betriebsorientierung als Ausgangspunkt jeder Politik blieb auch nach 1945 eine Grundposition, und war besonders stark entwickelt in Salzgitter. "Aufgabe aller Revolutionäre ist, die Gewerkschaften nicht zu zerstören, sondern zu erobern", hatte ihr herausragender Gewerkschaftstheoretiker, der Bauarbeiter Heinrich Brandler (1881-1967), schon 1920 in seiner Rede auf dem 1. Kongress der Betriebsräte der Gewerkschaften Deutschlands gefordert.[32] Und erinnern wir an den aktuellen und nicht nur in Salzgitter nach wie vor kontrovers diskutierten ersten Artikel der Zeitschrift "Arbeiterpolitik": Am 24. Juni 1916 läutete die vom Bremer Sprecher der Linken, Johann Knief, redigierte und von seinen politischen Freunden, den revolutionären Sozialisten Anton Pannekoek, Karl Radek, Heinrich Brandler, Heinrich Eildermann und Paul Frölich, redaktionell unter Pseudonymen unterstützte "Arbeiterpolitik" den ersten Jahrgang mit einem Grundsatzartikel über eine neue "Epoche der Arbeiterpolitik" folgendermaßen ein: "Die deutsche Sozialdemokratie ist nicht mehr. Am 4. August 1914 trat sie von ihrer historischen Rolle als Vorhut des proletarischen Befreiungskampfes zurück. Aber es war keine Katastrophe, mit der dieser Rücktritt erfolgte, sondern es war das natürliche Ende einer politischen Bewegung, deren Untergang längst vorbereitet war. Als historische Klassenkampfpartei hatte sie ihre historische Laufbahn begonnen ... Ihr Werk endete mit der Solidaritätserklärung zwischen den offiziellen Führern der Partei und den Trägern der staatlichen Macht; es endete mit dem Sieg des Burgfriedens über den Klassenkampf, der Bureaukratie über die Demokratie, des Sozialpatriotismus und Sozialimperialismus über den Sozialismus, des Nationalismus über den Internationalismus."[33]

Halten wir fest - und beachten dabei, dass das Ergebnis unter anderen Verhältnissen und Voraussetzungen durchaus vergleichbar mit den Ereignissen in Salzgitter nach 1945 sein dürfte, ganz davon abgesehen, dass mit Heinrich Brandler und Waldemar Bolze zwei zentrale Figuren neben anderen an beiden Etappen beteiligt blieben: Die damaligen Auseinandersetzungen mit den freien Gewerkschaften und dem Geschäftsführer des Bremer Arbeitersekretariats Friedrich Ebert, der 1906 nach zahlreichen Abstimmungsniederlagen gegen die Bremer Linken um Wilhelm Pieck, Heinrich Schulz und Alfred Henke zum Parteivorstand nach Berlin ging, gewannen in Bremen durch den Rückgriff auf die Theorien von Luxemburg und Pannekoek eine neue Qualität, die in der Frage um die Einheit von Theorie und Praxis am Beispiel des politischen Streiks und der Gewerkschaften zu jahrelangen Auseinandersetzungen der Linken in der noch nicht gespaltenen Sozialdemokratie mit den Funktionären in den Gewerkschaften führte. Und weil es den Bremer Linken nicht mehr allein um die Verbesserung der Lebenslage der Arbeiter ging, sondern auch um die Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, gewann die Jugend- und Bildungsfrage eine herausragende Bedeutung - mit der Gründung einer autonomen Bildungseinrichtung durch die 1905 vollzogene Trennung vom bürgerlichen "Goethe-Bund" und die Einstellung einer fest und gut besoldeten Lehrkraft (Pannekoek), um so die Erziehung zum kritischen und selbständigen Denken zu fördern; auch hier durchaus vergleichbar mit der die Gruppe Arbeiterpolitik prägenden Bildungsarbeit von Waldemar Bolze in Salzgitter ab 1948. Bis Ende 1918 gab es kaum eine andere Stadt in Deutschland, in der die Organisationen des revolutionären Marxismus eine vergleichbar starke Basis besaßen wie die Linksradikalen in Bremen. Das war, wie nach 1945 in den Reichswerken, das Ergebnis des Aufbaues eines Vertrauensmännersystems in den Betrieben, vor allem in den Werften, und der Präsens ihrer Funktionäre innerhalb der offiziellen Parteiorganisation der noch geeinten Sozialdemokratie bis 1917. Von der Spartakusgruppe um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht unterschied sich die rund 500 Mitglieder umfassende Gruppe der Bremer Linken[34] dadurch, dass sie das Recht auf "Vaterlandsverteidigung" in einem Krieg ablehnten, der aus ihrer Sicht ein aus den spezifisch imperialistischen Widersprüchen erwachsener Konflikt war.

Durch die Zusammenarbeit mit Lenin und Radek hatten die Bremer Linken früh Kontakt zu den Anhängern der Februar-Revolution von 1917 und damit zur bolschewistischen Richtung der russischen Sozialdemokratie. Sie kritisierten aus prinzipiellen Gründen das Organisationsmodell der Bolschewiki. Trotz dieser Kritik identifizierten sie sich mit als erste politische Gruppierung mit der erfolgreichen bolschewistischen Oktoberrevolution und nannten sich selbst noch vor der Gründung der KPD "Internationale Kommunisten" (IKD). Sie lehnten jedoch mit Brandler und Thalheimer die Bolschewisierung der KPD von Anfang an ebenso ab wie nach 1945 die Stalinisierung der KPD im Westen und der SED im Osten Deutschlands.

Spätestens ab 1923 gehörten sie als Mitgründer der KPD zu den noch tolerierten, ab 1928 dann ausgeschlossenen Mitgliedern der KPD. Nach Verfolgung und KZ-Haft zählten viele von ihnen zu denjenigen, die nach 1945 die Arbeiterinitiativen als Antifaschistische Ausschüsse gründen halfen; in Bremen z.B. die "Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus" (KGF), die wie die Antifa in Salzgitter für einen Neuanfang im Rahmen einer Einheitsorganisation der Arbeiterbewegung eintrat - erneut vergebens.[35] Wie in Salzgitter ging die Mehrheit dieser Gruppe nach dem Scheitern der Einheitspolitik zunächst zur KPD. Bis 1950 wurden die meisten von ihnen als "Trotzkisten", "Titoisten", "Brandlerianer" oder "Luxemburgisten" aus der KPD ausgeschlossen. Andere verließen aus ebenso pragmatischen wie prinzipiellen Gründen im Gefolge der These 37 die KPD, um Gewerkschaftsmitglieder bleiben zu können. Die Mehrheit hatte sich schon 1948 mit den Linken aus Salzgitter um Erich Söchtig für die Gründung der "Gruppe Arbeiterpolitik" (GAP) entschieden. Eine Tagung in Riensberg, dem alten Landheim der KPO Braunschweig, legte Ostern 1947 die Grundlagen zur Neugründung. Sie fand in Anwesenheit des illegal aus Frankreich angereisten Waldemar Bolze statt. Bolze sollte als Mitglied der ehemaligen Reichsleitung der KPO ab 1948 neben Theodor Bergmann die zentrale Organisation und die Bildungsarbeit der GAP leiten und konnte wiederum nach seinem Tode durch den aus Nürnberg stammenden Karl Grönsfelder qualifiziert ersetzt werden.[36].

Was die Gruppe in Salzgitter von Anfang an zusammenführte, war der Kampf gegen die Demontage der Reichswerke und damit die Sorge um den Erhalt der Arbeitsplätze. Dabei gelang es, trotz der prinzipiellen Gegnerschaft aus den Reihen der SPD und KPD, vor allem im Betriebsrat die Unterstützung auch der Mitglieder der KPD und SPD zu gewinnen und die Funktionäre der IG Metall in der Hütte zu dominieren, mit der Hauptwerkstatt der Reichswerke unter Erich Sewald und der Gießerei mit Waldemar Bolze als zentrale Anlaufstellen der GAP. Von Anfang an sorgte der Betriebsratsvorsitzende Erich Söchtig durch unermüdliche Kleinarbeit für die Vernetzung der Gruppe und die Absicherung der von ihr dominierten Herrschaftsstrukturen in der Hütte und in der IG Metall-Ortsverwaltung. Besonders nach dem Anti-Demontage-Streik vom März 1950 war die GAP nicht nur die einflussreichste und geschlossene politische Gruppierung in der Hütte und in der IG Metall Salzgitter. Sie gewann auch innerhalb der Gesamtorganisation der GAP immer mehr an Gewicht. Öffentliche Vortragsveranstaltungen mit Heinrich Brandler (Ende November 1950) oder Waldemar Bolze (Anfang 1951) ergänzten die Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, angereichert durch Kultur- und Leseabende, Mai-Feiern, eine "Lenin-Liebknecht-Luxemburg"-Veranstaltung usw.[37] Bis zur Gründung der SPD-Betriebsgruppe im Jahre 1958 blieb der Einfluss der GAP unangetastet. Der von Erich Söchtig 1959 vollzogene Übertritt zur SPD leitete die Auflösung der Gruppe Arbeiterpolitik ein, deren Bedeutung immer mehr zurückging.

Sah Erich Söchtig nach 1950 die Einheitlichkeit gewerkschaftlichen Handelns durch die offizielle KPD-Politik wegen des Ausschlusses exponierter linkssozialistischer Vertreter gefährdet und zusätzlich bedroht durch den Verlust des gewerkschaftlichen Schutzes wegen der Reverspolitik des IG Metall-Vorstandes, so empfahl er 1959 den GAP-Mitgliedern die Auflösung der Gruppe und den Eintritt in die SPD. Der Kalte Krieg habe dazu geführt, dass eine selbständige kommunistische Gruppierung in der deutschen Arbeiterbewegung nicht mehr erreichbar sei. Der Kommunismus habe sich durch die sowjetische Besatzungspolitik und ihre "verheerende" Fortsetzung durch Walter Ulbricht in der DDR diskreditiert. Die Auflösung wurde nur im engsten Führungskreis diskutiert und vollzog sich über die Köpfe der Mitglieder hinweg. Paul Elfleins Widerspruch blieb erfolglos. Vergeblich hatte er zuvor den zunehmend autoritären Führungsstil von Söchtig kritisiert. Der blieb trotz alledem bis 1963 Vorsitzender des Betriebsrates, wurde aber 1964 abgelöst von Erich Sewald und auch zeitgleich abgewählt als 2. Bevollmächtigter der IG Metall. Dennoch blieb Söchtig ab 1964 als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender integraler Bestandteil einer nach wie vor autonomen Betriebs- und Gewerkschaftspolitik in der Hütte.


"Zehnerkreis" als Fortsetzung der innergewerkschaftlichen Opposition nach 1952

Es ist hier nicht der Platz, die weitere Entwicklung einer autonomen Arbeiterpolitik zu verfolgen und zu prüfen, ob die Gruppe Arbeiterpolitik vor dem Hintergrund der Erfahrungen in Salzgitter noch einmal, und diesmal ab Ende der 60er Jahre auf der Klöckner-Hütte in Bremen, unter anderen Ausgangsbedingungen einen vergleichbaren Einfluss ausüben konnte.[38] Worauf wir jedoch hinweisen möchten, ist der Versuch von immer wieder diffamierten Gewerkschaftsfunktionären um Otto Brenner, sich mit Hilfe eines innergewerkschaftlichen Steuerungsnetzwerkes gegen Angriffe aus den Reihen der Gewerkschaften zu wehren: Der "Zehnerkreis als innergewerkschaftliche Fraktionierung" von 1951 bis 1960.[39]

Anlass zur Gründung war der scheinbar unaufhaltsame Sieg restaurativer Kräfte in der BRD, die "Wiedererrichtung der alten Konzerne, die Hitler an die Macht brachten" und das "freche Auftreten ehemaliger Nazis und Kriegsverbrecher". So Otto Brenner in seiner Grundsatzrede auf dem DGB-Bundeskongress 1956. Diese Entwicklung sei nach Brenner auch dadurch Realität geworden, dass der geschäftsführende Bundesvorstand des DGB von Fette bis Freitag versagt habe. Die Enttäuschungen beruhten auf den bitteren Niederlagen und Misserfolgen im Kampf um die Neuordnung Deutschlands, aber auch auf der von den Vorständen der Gewerkschaften zugelassenen Diffamierung kritischer linker Gewerkschaftsfunktionäre, denen man Machtlüsternheit unterschob. So heißt es u.a. in dem "Bonner Bericht vom 26. Dezember 1953, Nr. 13": "Nach der Überwindung der christlichen Spaltungsgefahr steht der gemäßigten DGB-Führung jetzt noch die Auseinandersetzung mit der radikalen Gruppe im DGB, der ISK (Internationale Sozialistische Kampfgruppe) bevor. Dieser Gruppe gehören zahlreiche zurückgekehrte Emigranten an. Sie haben guten Kontakt mit dem radikalen DGB-Vorstandsmitglied Georg Reuter". Einmal ganz davon abgesehen, dass der "Bericht" die zur "Kampfgruppe" stilisierten Anhänger des politisch keineswegs radikalen "Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes" (ISK) um Willi Eichler und Minna Specht maßlos überschätzt[40], so versammelte Otto Brenner, der als SAP-Mitglied nie zu dieser von ihm persönlich geschätzten Organisation gehörte, in der Tat einige dieser besonders in Niedersachsen (Beermann, Kubel, Dannenberg) und Nordrhein-Westfalen (Werner Hansen (Heidorn), Peter Michels) gut verankerten Gewerkschaftsfunktionäre des ISK in Hannover um sich, ergänzt um alte KPO- und SAP-Genossen (Edu Wald, Alfred Henze, Kuno Brandel, Siggi Neumann, Karl Hölzer). Dazu kamen Ludwig Linsert vom DGB München und Karl Hauenschild, damals Jugendsekretär beim Hauptvorstand der IG Chemie in Hannover. Dieser Kreis aus nicht gelernten Sozialdemokraten sollte nach Brenner - in dem bewährten Söchtig-Kurs - der Unzulänglichkeit und Passivität der Gewerkschaftsführung begegnen, und zwar durch "konspirative Arbeit" und durch "harte Fraktionsarbeit". Ein politisches Engagement in den Parteien galt es zu vermeiden. Dafür setzte der Kreis auf eine reine Gewerkschaftsorientierung, auf eine Erneuerung der Gewerkschaften. Der "feste Block" kritischer Gewerkschafter zielte darauf ab, die Bezirke "durchzukneten", "auf den Verbandstagen eine Abrechnung vorzunehmen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht und die ganze verkalkte Garnitur (der alten Säcke) auszuwechseln."[41] Die Gründung eines "Marxistischen Arbeitskreises" sorgte für die theoretische Festigung der Mitglieder. Als Referenten kamen Theoretiker aus dem In- und Ausland zu Wort, u.a. Wolfgang Abendroth, Walter Fabian, Karl Korsch, Fenner Brockway, Peter von Oertzen, Eugen Kogon, Walter Dirks. Die Wirksamkeit des Zehnerkreises ist u.a. an personalpolitischen Erfolgen nachweisbar. Werner Hansen wurde in den DGB-Bundesvorstand gewählt, Peter Michels zu seinem Nachfolger als DGB-Landesvorsitzender in NRW. Otto Brenner wurde zunächst zum gleichberechtigten Vorsitzenden der IG Metall (1953), 1956 zum alleinigen Vorsitzenden gewählt. Das Nachrücken der Vorstandsmitglieder Fritz Strothmann, Heinz Dürrbeck und Kuno Brandel ging auf Initiativen des "Zehnerkreises" ebenso zurück wie die Wahl von Walter Fabian zum Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte. Inhaltlich war der Kreis u.a. an der Vorbereitung des DGB-Aktionsprogramms beteiligt


Immer wieder davongekommen

Fassen wir die Ergebnisse zusammen und bemühen wir uns vor dem Hintergrund der Erfolgsgeschichte einer konsequenten Interessenpolitik in den ehemaligen Reichswerken um eine Einordnung dieser Ereignisse in die politische Gesamtentwicklung Deutschlands. Und fragen wir abschließend nach den Lehren für heute - 60 Jahre nach dem erfolgreichen Märzstreik von 1950.

Die durch den Sieg über den Faschismus freigesetzte Dominanz der Linken wurde in Westdeutschland innerhalb von zwei bis drei Jahren zerschlissen, auch wenn sich das linke Bündnis in Salzgitter mit Hilfe der Gruppe Arbeiterpolitik noch einige Jahre länger halten konnte. Es handelt sich um ein "Diskontinuitätsphänomen der Zeitgeschichte" (Lutz Niethammer) mit Folgen für die Gewerkschaften. Das Ende der linken Dominanz war das Ergebnis der Entscheidung für den Marshall-Plan, der mit Zustimmung der Gewerkschaftsführung die Integration der europäischen Länder in einen Ost- und Westblock sanktionierte, die sich feindlich gegenüberstanden. Diese Entscheidung führte zum Zerfall der ursprünglichen einheitsgewerkschaftlichen Ansätze und damit zur Aufkündigung des antifaschistisch-demokratischen Konsenses durch die "Gründungsväter" des DGB. Der theoretische und praktische Antikommunismus wurde fortan mit dem Beginn des Kalten Krieges "zu einem der stärksten Bindegliedern der Einheitsorganisation" (Klaus von Beyme, 1977, S. 23). Und weil sich die politische Gesamtsituation grundsätzlich geändert hatte, konnte Bundeskanzler Adenauer Anfang September 1950 dem britischen Hohen Kommissar vorschlagen, "die Frage der Demontage in Watenstedt-Salzgitter einer Revision zu unterziehen. Weder für die Bundesregierung noch für die deutsche Bevölkerung ist es verständlich, dass bei der gegenwärtigen Weltsituation weiter Demontagen von Fabrikgebäuden durchgeführt werden. Darüber hinaus wird die innere Bereitschaft zur Mitwirkung an der Verteidigung Westeuropas einer ernstlichen Belastung ausgesetzt, wenn zur gleichen Zeit, in der diese Fragen zur Erörterung stehen, noch Demontagen durchgeführt werden".[42] Dieser Argumentation konnte sich die Besatzungsmacht nicht entziehen. Salzgitters Stahl wurde wieder gebraucht - zur Vorbereitung auf den nächsten Krieg.

Mit der "Entscheidung für den Westen" (Niethammer) waren die sozialistischen Neuordnungsvorstellungen endgültig zurückgedrängt worden. Das verschärfte noch einmal die Polarisierung innerhalb der Gewerkschaften. In den Auseinandersetzungen um den Marshall-Plan und um die Folgen der Währungsreform kulminierte dieser Konflikt. Und mit dem Kampf für Mitbestimmung und gegen die Remilitarisierungspolitik der Bundesregierung begannen die mit Niederlagen endenden Defensivgefechte. Noch 1947 hatten Unternehmer wie Reusch und Wolff die Montan-Mitbestimmung angeboten, um "Schlimmeres", die Sozialisierung, zu verhindern. Nach 1950 erklärten sie, die Mitbestimmung sei das "Ergebnis einer brutalen Erpressung" durch die Gewerkschaften. Der gesetzlich abgesicherten Montanmitbestimmung vom April 1951 ging die geheime Zustimmung von Böckler und seinem Nachfolger Fette zu dem von den Gewerkschaftsmitgliedern in Massenkundgebungen noch entschieden bekämpften Wehrbeitrag voraus. So viel zum lange gepflegten Mythos vom Sieg der Gewerkschaften im Kampf um die gesetzliche Absicherung der Mitbestimmung in der Montanindustrie.[43] Die in den DGB-Stellungnahmen zur Remilitarisierung sichtbare schwankende Haltung der Gewerkschaftsführung führte 1953 - verbunden mit dem nicht entschieden genug geführten Kampf gegen das Betriebsverfassungsgesetz - zur Abwahl des Bundesvorsitzenden Fette, der als Vorsitzender der IG Druck und Papier erst im Juni 1952 zum Nachfolger von Böckler gewählt worden war. Fette wurde durch Walter Freitag von der IG Metall ersetzt, während Otto Brenner endlich in den Vorstand der IG Metall nachrücken konnte.

Die Phase der Hoffnung auf einen Neubeginn war endgültig abgeschlossen, die Phase der Restauration begann, wie Willi Bleicher formulierte. In der Einschätzung dieser Entwicklung zu einer "verhinderten Neuordnung" herrschen bis heute unterschiedliche Auffassungen vor. Dabei wird allzu oft die reale Situation von damals ausgeklammert. Deutschland hatte sich von dem Hitler-Faschismus nicht selbst befreit. Die Befreiung kam von außen, sie war ein von großen Teilen der deutschen Bevölkerung keineswegs erbetenes Geschenk der Siegermächte des 2. Weltkriegs. Und mit der Befreiung verband sich die Besetzung, durchgeführt von weltpolitisch gegensätzlichen Kräften. Damit waren Ausgangsbedingungen verbunden, die sich auf die Erwartung der demokratisch-antifaschistischen Kräfte in ganz Deutschland unterschiedlich auswirkten und die lokal- und regionalgeschichtlichen Kräfteverhältnisse in der Einheitsgewerkschaft auf widersprüchliche Weise bestimmten: in Salzgitter auf ganz andere Art als in Hannover, Braunschweig oder Hamburg.

Wegen der eher verdrängten Niederlagen gab der 60. Jahrestag des Marshall-Planes und der Währungsreform aus Gewerkschaftssicht keinen Grund zu feiern; dafür umso mehr für die bürgerliche Öffentlichkeit. Die Konzernmedien feierten am 20. Juni 2008 den 60. Jahrestag des westdeutschen "Wirtschaftswunders": die Währungsreform mit der Einführung der D-Mark. Dabei verschwiegen sie vornehm, dass die Währungsreform ein weiterer Schritt zur deutschen Teilung war, beschlossen von den drei westalliierten Militärgouverneuren. Schon im Februar 1948 hatten sich die westlichen Besatzungsmächte mit ihren Londoner Beschlüssen auf eine Neuordnung des westdeutschen Besatzungsgebietes festgelegt. Ziel war, einen starken Zentralstaat zu verhindern. Die westlichen Ministerpräsidenten wurden mit den "Frankfurter Dokumenten" vom 1. Juli 1948 beauftragt, eine Verfassung zu entwerfen und sahen sich auf Druck der Westalliierten gezwungen, die Vorarbeiten für den Parlamentarischen Rat zu beginnen und ab September 1948 auf der Insel Herrenchiemsee in mehrmonatigen Beratungen das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland" zu entwerfen. Am 8. Mai 1949 verabschiedete der Parlamentarische Rat in Bonn dieses Grundgesetz und besiegelte damit die Teilung Deutschlands.

Einer der vielen in der Versenkung verschwundenen Vorentwürfe begann folgendermaßen: "Die nationalsozialistische Zwingherrschaft hat das deutsche Volk seiner Freiheit beraubt; Krieg und Gewalt haben die Menschheit in Not und Elend gestürzt. Das staatliche Gefüge der in Weimar geschaffenen Republik wurde zerstört. Dem deutschen Volk aber ist das unverzichtbare Recht auf freie Gestaltung seines nationalen Lebens geblieben." Die mit diesen Sätzen beginnende Präambel, die im Oktober 1948 in erster Lesung angenommen wurde, verschwand schnell in den Schubladen und wurde auch nach der Wende von 1989 nicht wiederentdeckt.

Die Ausrottung des Nazismus erschien nach 1945 zunächst als die Hauptaufgabe. Selbstbesinnung und Aufklärung prägten in der Vierzonenzeit die Köpfe und Herzen vieler Menschen in allen Teilen Deutschlands. Aber bald darauf, noch vor der Konstituierung zweier Staaten auf deutschem Boden, erhielten vornehmlich in den Westzonen die Gruppen Zulauf, welche die Verwicklung der Eliten in das NS-Terrorsystem leugneten und die eigene Vergangenheit entsorgten.

Wie wirkungsvoll führende Vertreter von Politik und Geistesleben nunmehr nach 1989 das Ende der Nachkriegsordnung zur Entsorgung der deutschen Vergangenheit nutzen, ist unter anderem daran abzulesen, dass in der Präambel des "Einigungsvertrages" jeder konkrete Hinweis auf die gesamtdeutsche Verantwortung für die Opfer des Nationalsozialismus fehlt, der noch den Entwurf von 1948 geprägt hatte. Fast ungehört verhallte 1990 die Klage des damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Heinz Galinski, für die politische Kultur in Deutschland sei es bezeichnend, dass das deutsche Schulderbe unerwähnt geblieben sei. Schlimmer noch: Die Debatte über den Umgang mit der stalinistischen Vergangenheit in der ehemaligen DDR relativierte oder verdrängte die nationalsozialistischen Verbrechen. Und Teile der Linken sahen in der "Entstasifizierung" die Möglichkeit, das zu verhindern, was nach 1945 in der alten BRD über die gescheiterte Entnazifizierung zur Weißwäscherei geführt und aus Westdeutschland eine "Mitläuferfabrik" (Lutz Niethammer) gemacht hatte. So ist es bezeichnend, dass der vom Kulturstaatsminister Neumann im Juli 2007 vorgelegte Entwurf der Fortschreibung des 1999 erstmals verabschiedeten Gedenkstättenkonzeptes von einem Verständnis der Diktaturen des 20. Jahrhundert ausgeht, das den DDR-Staatssozialismus mit dem Terror des NS-Systems gleichsetzt. Zwar sah er sich, nach scharfer Kritik von Sachverständigen, gezwungen, die im ersten Entwurf "über das historische Unrecht hinaus monströs überdehnte DDR-Schuld" zurückzunehmen und zu versichern: ist unverzichtbar, den Unterschieden zwischen NS-Herrschaft und SED-Diktatur Rechnung zu tragen." Dennoch bleibt der geplante neue "Geschichtsverbund zur Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in Deutschland" das herausragende Merkmal des neuen Gedenkstättenkonzeptes. Angesichts solcher Entsorgungsübungen muß es nicht verwundern, dass wir auf den gesamtdeutschen Bühnen die Wiederentdeckung eines fast vergessenen Erfolgstückes der Nachkriegszeit erleben: "Wir sind noch einmal davongekommen". So lautet der deutsche Titel eines der meistgespielten Theaterstücke, mit der der US-Amerikaner Thornton Wilder schon 1942 das beim Namen nannte, was viele Deutsche nach 1945 empfanden. Der Weg schien vorgezeichnet, der es allzu vielen Tätern und Mitläufern erlaubte, konfliktlos von der Volksgemeinschaft in eine Opfergemeinschaft zu wechseln und sich in der bundesrepublikanischen "Wiederaufbaugemeinschaft" spurlos zu verflüchtigen.

Und was ist von den Neuordnungsvorstellungen der Gewerkschaften von 1945 geblieben? Bieten sie angesichts der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise nicht Anknüpfungspunkte, die heute noch aktuell sind, z. B.: "Schluss mit der Herrschaft der Banken und Konzerne und ihre Überführung in Gemeineigentum!", "Beendigung der Herrschaft der Reichen und Vermögenden mit ihren Möglichkeiten, sich Regierungen kaufen zu können!" oder "Entmilitarisierung Deutschlands und Europas und Beendigung jeglicher Rüstungsproduktion!", Forderungen nach öffentlichen Investitionen in gesellschaftlich sinnvolle Bereiche bei gleichzeitiger Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich usw. usw.

Voraussetzung zur Wiederaufnahme einer solchen Gewerkschaftspolitik ist die Erkenntnis, auf die Hans Preiss im Rahmen des Salzgitter-Forums von 1998 als bewährte Erfahrung aus Salzgitter zurückgriff, indem er festhielt: "Jeder Warnstreik, jeder Lohnstreik, jede Aktion gegen arbeitnehmerfeindliche Politik, gegen einschränkende Gesetzesbestimmungen wirken Bewusstsein bildend. Jede Aktion ist dazu angetan, im Bündnis mit den Erfahrungen der Geschichte, das Bewußtsein zu verändern und zu stärken". Auch wenn in Frankfurt schon länger darüber nachgedacht wird, die historisch-politische Bildung einzuschränken, so gehört die notwendige Konfliktaufarbeitung heute im Rahmen der politischen Bildungsarbeit zur Tagesaufgabe. Und weil sie in ihren Antworten in der bewährten Tradition der Gruppe Arbeiterpolitik in Salzgitter stets mit Fragen der Praxis im Betrieb verknüpft bleibt und sich nicht davon löst, darf davon ausgegangen werden, dass die Verwaltungsstelle Salzgitter ihren heutigen historischen Rückblick nicht als Nostalgie betreibt, sondern als Kompass für eine kämpferische Zukunft. Auf jeden Fall werden die geplanten Projekte der Verwaltungsstelle Salzgitter zur Aufarbeitung der Demontagepolitik die Grundlagen für ein überregionales vernetztes Gedächtnis fördern und zum konkreten Handeln für ein besseres Überleben beitragen. Und vergessen wir nicht hinzuzufügen - mit Otto Brenners Rede von 1966 zum 75 Jubiläum der IG Metall -: "Im Strom der geschichtlichen Ereignisse kann sich nur derjenige behaupten, der einen festen Ausgangspunkt hat und gleichzeitig imstande ist, Richtung und Kräfte dieses Stromes richtig zu beurteilen".


Abschließender Exkurs: "Ihr müsst die Einheit lieben wie unseren Augapfel"

- Zum Enttäuschungsübergang und seiner Bearbeitung durch die Generation der "eisernen Metaller" -

Angesichts der Folgen der verhinderten Neuordnung nach 1945 muss es erstaunen, wie in der Geschichtsschreibung der Gewerkschaften diese Ereignisse nach wie vor unkritisch bewertet werden, wie Niederlagen in Kompromisse oder gar in Siege umgedeutet werden. Das trifft auch auf die Absicherung der Montanmitbestimmung und den Kompromiss auf dem Gründungskongress des DGB in München zu. Denn der Weg zur Einheitsgewerkschaft von Böcklers und Tarnows fragwürdigem Konzept zur "Wiedereinrichtung einer Gewerkschaft" vom Frühjahr 1945 über die "Allgemeine Gewerkschaft" mit den Einzelgewerkschaften als Abteilungen der Gesamtorganisation[44] bis zum Münchner Gründungskongress vom Oktober 1949 mit dem relativ schwachen DGB und starken Industriegewerkschaften blieb bis zuletzt ein äußerst umstrittener, auch wenn die Geschichtsschreibung diesen Weg als glatte Erfolgsgeschichte verkündet. Dabei verwundert, dass auch die Kritiker dieser Entwicklung nachträglich dazu beigetragen haben. Wir wollen das abschließend am Beispiel von Willy Bleicher konkretisieren:

Der 1948 als Sekretär in den IG Metall-Vorstand gewählte Buchenwald-Häftling Willy Bleicher ermahnte die Delegierten des 3. Bundestags des Gewerkschaftsbundes Württemberg-Baden im September 1949 eindringlich, die Angestellten der DAG nicht aus dem DGB auszuschließen, weil "wir die Einheit lieben wie unseren Augapfel." In der später verfassten Film-Biographie behauptet Bleicher, dass diese Aussage vom charismatischen Arbeiterführer Hans Böckler stamme, als Mahnung auf dem Münchener DGB-Gründungskongress am 12. Oktober 1949 gesprochen. Das ist keinesfalls der Fall. Diese Verpflichtung eines mühsam erkämpften Kompromisses stammt von Bleicher selbst. Vergeblich redete er in München noch einmal gegen die Mehrheit der Delegierten an, die zunehmend unruhiger wurden. Auch gegen den Vorsitzenden Böckler, der Bleicher ermahnte, zur Sache zu sprechen und der auf den Ablauf der Redezeit hinwies. Worum ging es? Willy Bleicher, der in Weimar von der KPO-Politik geprägte damalige Kommunist, forderte, den Paragraph 1 der neuen Satzung "Name des zu gründenden Gewerkschaftsbundes für die Bundesrepublik Deutschland" zu ändern und diese Frage offen zu lassen, indem man formuliert: "Dieser neu geschaffenen Gewerkschaftsbund der BRD ist ein Teil des noch zu schaffenden und von uns sehnlichst herbei gewünschten gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes." Und weiter: Die "Entmachtung" aller derjenigen, "die uns immer wieder in Not und Elend geführt haben, müsse auch bei uns einer der gewerkschaftlichen Grundsätze bleiben", so Bleicher mit Blick auf die SBZ/DDR. Eine der wesentlichen und vornehmsten Aufgaben sei deshalb "die Erhaltung der Einheit der Gewerkschaften bei uns im Westen und darüber hinaus die Schaffung der gewerkschaftlichen und damit auch der politischen Einheit für unser Vaterland. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern im internationalen Maßstab." (Gemeint ist der sich abzeichnende Konflikt zwischen dem Weltgewerkschaftsbund und dem Internationalen Bund Freier Gewerkschaften, IBFG). [45] Bleicher hatte keine Chance, dafür auf dem Kongress wenigstens eine Minderheitsposition abzusichern. Der Weg zur Einheitsgewerkschaft endete 1949 mit einem Kompromiss, der nicht mehr viel mit der 1945 überall geforderten und von zahlreichen Antifaschisten erträumten Einheit der Arbeiterbewegung zu tun hatte. Antifa-Ausschüsse hatten in der "Stunde Null, die keine war" zunächst für die "feste und aufrichtige Zusammenarbeit von Kommunisten und Sozialdemokraten" plädiert, um "die unglückliche Spaltung der Arbeiterklasse im Interesse unseres ganzen Volkes endgültig zu überwinden". So der Text einer Vereinbarung der Bezirksleitung Wasserkante der SPD und der Bezirksleitung Nordwest der KPD vom 14. August 1945 in Bremen. Schon am 2. August 1945 hatten die Braunschweiger Sozialdemokraten um den späteren Ministerpräsident Alfred Kubel (ISK) zusammen mit Hermann Wallbaum (KPD) und Walter Brinkmann und Kirchner von der KPO, Hermann Ahlbrecht von der SAP, Otto Fliess für die Antifa und zusammen mit W. Grupe zugleich für die SPD dazu aufgerufen, eine "Sozialistische Einheitspartei" zu gründen: "Unser Ziel ist klar! Wir alle fordern die sozialistische Gesellschaftsordnung..., in der die ganze Machtfülle der sozialistisch regierten Staaten gegen jede Art von Ausbeutung eingesetzt wird... Jede Spaltung der Sozialisten kann dazu führen, dass unsere Kraft geschwächt wird!"

Der Kalte Krieg zerstörte bald alle diese Hoffnungen. Und dennoch blieben die meisten der ausgegrenzten Anhänger der Einheitsorganisation stets der Organisation so verpflichtet, dass sie auch nach ihrem beschwerlichen, gelegentlich unterbrochenen Wiederaufstieg öffentlich Kritik an den "alten Säcken" unterließen, für die Solidarität mit den innergewerkschaftlich bekämpften Gegnern plädierten und die Kompromisse und letzten Reste der Neuordnungsforderungen engagiert verteidigten. Der Kommunist Bleicher konnte nach seiner Entlassung aus den Diensten des Vorstands (1951, These 37) durch die Direktwahl der Delegierten am Vorstand vorbei als Bevollmächtigter in Göppingen eine neue Karriere beginnen. Sie kulminierte nach seinem Eintritt in die SPD in der Wahl zum einflussreichen und streikerprobten Bezirksleiter von Baden Württemberg (und Königsmacher in Frankfurt) von 1959 bis 1972. Bleicher steht hier stellvertretend für die Stärke der auf Solidarität orientierten Vertreter der innergewerkschaftlichen Opposition - von Brenner bis zu Söchtig, Bolze, Elflein, Mahlein oder Fritz Rück. Ihnen gelang es nach 1945 immer wieder, auch aus der Defensive heraus, zur Mehrheitsbeschaffung für notwendige Korrekturen beizutragen. Deshalb verzichteten sie gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit auf offene Kontroversen mit innergewerkschaftlichen Gegnern. Dagegen setzen sie sich nach innen umso intensiver für die Aufarbeitung der Fehler ein - als eine herausragende Aufgabe der politischen Kultur der Linken, die allerdings immer wieder mit tiefen Enttäuschungen und Depressionen verknüpft blieb.


ANMERKUNGEN

[1] Vgl. hierzu u.a. Christoph Klessmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 1982; Henric L. Wuermeling, Die Weiße Liste. Umbruch der politischen Kultur 1945, 1981; Jörg Wollenberg, 8. Mai 1945. Neugeordneter Wiederaufbau oder verhinderte Neuordnung?, Bremen 1985.

[2] Zwischen Befreiung und Besatzung. Analysen des US-Geheimdienstes über Positionen und Strukturen deutscher Politik 1945, hrsg. von U. Borsdorf und L. Niethammer, 1976; Zur Archäologie der Demokratie in Deutschland, Band 1: 1943-1945, hrsg. von A. Söllner, Band 2: 1946-1949, Frankfurt/M. 1982/1986; August Thalheimer, Die Potsdamer Beschlüsse - eine marxistische Untersuchung der Deutschlandpolitik der Großmächte nach dem zweiten Weltkrieg, 1945/1950.

[3] Jürgen Kuczynski, Reisen durch Deutschland 1945, in: Jörg Wollenberg (Hg.), Von der Hoffnung aller Deutscher. Wie die BRD entstand, 1991, S. 64. Dort auch der Beitrag von Hermann Kesten, Die vergebliche Heimkehr, S. 152-171.

[4] Dazu u.a. Jan Peters, Exilland Schweden, 1984; Klaus Misgeld, Die Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten in Stockholm, 1976; Jörg Bremer, Die SAPD. Untergrund und Exil 1933-1945, 1978; Lehrstücke in Solidarität. Briefe und Biographien deutscher Sozialisten 1945-1949, hrsg. von Helga Grebing, 1983.

[5] Jörg Wollenberg, Rückkehr unerwünscht. Zur verhinderten Reintegration von jüdischen Intellektuellen in der westdeutschen Arbeiterbewegung nach 1945, in: Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland, hrsg. von Matthias Brosch u.a., 2007, S. 263-284.

[6] Albrecht Lein, Die antifaschistische Aktion Braunschweig, in: Arbeiterinitiative 1945. Antifaschistische Ausschüsse und Organisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, hrsg. von L. Niethammer, U. Borsdorf und P. Brandt, 1976, S. 334-361.

[7] Vgl. dazu zusammenfassend: Ein halbes Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der IG Metall in Salzgitter, 2003. S. 11-73; Ralf Bergmann, Stahl oder Rüben, hrsg. von der IG Metall-Verwaltungsstelle Salzgitter, 1990.

[8] Protokoll Außerordentlicher Bundeskongreß des DGB für die britische Zone vom 16.-18. Juni 1948, S. 57-61.

[9] Dieser "gerade Weg der SPD in die Kapitulation" (Hermann Brill) wurde auch aus den Reihen der eigenen Genossen kritisiert: Eine Partei die auf ihrer letzten Reichskonferenz vom 26. April 1933 immer noch der "Nation und dem Sozialismus" dienen wollte und deshalb am 17. Mai 1933 gegen den Protest des Exilvorstands in Prag dem außenpolitischen Programm Hitlers zustimmte - u.a. Paul Löbe, Wilhelm Hoegner und auch widerstrebend Kurt Schumacher. Lediglich zwei Frauen verweigerten die Zustimmung. Eine der beiden Reichstagsabgeordneten, Antonie Pfülf (1877-1933), nahm sich nach diesem Verrat der Genossen am 8. Juni 1933 das Leben -, einer solchen Partei könne er als ehemaliger Reichstagsabgeordneter nicht mehr angehören. "Ich werde auch niemals mehr für die SPD arbeiten", schreibt Brill am 30. August 1933, weil seine Partei Ende Mai 1933 nicht einmal zur Selbstauflösung fähig war. "Ich bin und bleibe Sozialist. Sozialdemokrat bin ich für alle Zeiten gewesen", lautete sein am 31. Januar 1934 formuliertes Bekenntnis.

[10] Scheidemann, Das historische Versagen der SPD. Schriften aus dem Exil, 2002, S. 37ff. Weiter heißt es: "Die Versuche, einen Modus vivendi mit Hitler zu finden, stehen beispiellos da in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung. Sie hätten schon 1932 nach dem Papenputsch zum Mittel des Generalstreiks greifen müssen. Für den ernsthaften Forscher liegt klar zu Tage, wie eine große und starke Partei durch ellenbogenstarke Männer mit ungeheurem Einfluß - trotz aller Demokratie! - mit großem Ehrgeiz, kleinem politischen Horizont und keinem historischen Sinn, zugrunde gerichtet werden kann." Schonungslos geht Scheidemann mit der eigenen Partei ins Gericht, vor allem was das Versagen von 1918/19 und die Gründe für die katastrophale Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung von 1933 betrifft. Er wirft der eigenen Partei ein doppeltes Versagen vor, das in der Katastrophe von 1933 endete: Die Mehrheitssozialdemokratie verfügte 1918/19 über entscheidende Machtpositionen in der jungen Republik, aber sie war nicht bereit, mit den Strukturen und einflussreichen Gruppen des Kaiserreiches zu brechen. Weil aus Angst vor dem Bolschewismus keine wirkliche Reform der Macht- und Verwaltungsstrukturen zustande kam, gewannen die reaktionären Kräfte schnell wieder an Einfluss. Und 1932/33 mahnte die SPD-Führung gemeinsam mit den ADGB-Gewerkschaften ihre kampfbereite Anhängerschaft so lange zur "Disziplin, bis es zu spät war, die Machtübertragung an Hitler zu verhindern". Diese "absolute Disziplin der SPD, als heiligstes Parteisakrament gefeiert, ist uns heute fast unverständlich", heißt es erläuternd dazu. Scheidemanns Kritik an den "Bonzen der Sopade" um Wels und Stampfer kulminiert in der Bemerkung: "Wels wurde von den deutschen Parteigenossen auf Umwegen... zurückgeholt, um an dringlichen Besprechungen teilzunehmen und als Parteivorsitzender im Reichstag die schwächliche Erklärung der Fraktion abzugeben, die Stampfer verfaßt hatte". (Gemeint ist die bis heute hochgeschätzte Rede gegen das Ermächtigungsgesetz vom März 1933). Ähnliche Vorwürfe formulieren die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Wilhelm Dittmann und Wilhelm Hoegner in ihren Erinnerungen an 1933 im Schweizer Exil.

[11] Vgl. dazu Wilhelm Treue, Die Demontagepolitik der Westmächte nach dem Zweiten Weltkrieg, 1967, S. 82-88.

[12] Dazu u.a. Arnold Bettien, Arbeitskampf im Kalten Krieg, 1983, S. 115ff.

[13] Otto Brenner, Eine Biografie, 2007, S. 115ff. Die Belegschaftsmitglieder erschienen zahlreich, nicht um Kanzler Adenauer zu hören, sondern vor allem, um den Ansprachen von Erich Söchtig und ihres ehemaligen Bezirksleiters mit Beifall zu folgen.

[14] Vgl. Franz Hartmann, Gewerkschaften in Niedersachsen, 1979, S. 163.

[15] Vgl. Protokoll 1. Landesbezirkskonferenz des DGB-Landesbezirks Niedersachsen, Braunschweig 12. Juli 1950

[16] Bericht des Landesbezirks Niedersachsen für 1950/51, S. 5.

[17] Derselbe, S. 8.

[18] Die Gewerkschaftsbewegung in der Britischen Zone, S.691.

[19] Bericht des DGB-Landesbezirk Niedersachsen, vorgelegt für die Landesbezirkskonferenz Niedersachsen, am 31.1 und 1.2. 1953, S. 31.

[20] Hermann Brill, Gegen den Strom, Offenbach 1946, S. 88-102; Wolfgang Abendroth, Aufstieg und Krise der Sozialdemokratie, 1978, S. 137-141

[21] Bald darauf wurde Karl Hölzer als Nachfolger von Anton Storch (CDU), der zum Minister aufstieg, zum Bezirksleiter der Gewerkschaft Holz in Niedersachsen gewählt.

[22] vgl. Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Bd. 4, 1988, S. 865-911. Interessant ist, dass die überlebenden "Künstler der Anpassung" zu denen gehörten, die am 15. Juni 1945 den ersten "Aufruf des vorbereitenden Gewerkschaftsausschusses für Groß-Berlin" unterzeichneten, nicht aber der assimilierte Jude Siegfried Aufhäuser, der vergeblich im Exil auf einen Rückruf wartete...

[23] Philipp Scheidemann; Schriften aus dem Exil, 2002, S. 38

[24] Robert Dißmann (1878-1926). Seit 1917 Sprecher der Opposition und Kritiker der Kriegspolitik der Gewerkschaften. Er wurde als Repräsentant des linken Flügels des DMV 1919 zum Vorsitzenden der Organisation gewählt und trug 1919 zur Abwahl der "alten Säcke" im Vorstand, in den Ortsverwaltungen und Bezirken bei. Möglicherweise ist das ein Grund, warum die offiziellen Darstellungen zur Geschichte der IG Metall sich knapp und zurückhaltend zu ihm äußern. Auf jeden Fall sahen die "alten Säcke" um Walter Freitag in Otto Brenner nach 1945 einen "neuen Dißmann", dessen Versuch der Erneuerung und Demokratisierung der Organisation es zu verhindern galt. Otto Brenner selbst gehörte in der Tat zu den Brückenbauern, die in der Tradition von Robert Dißmann handelten und es war ihm 1966 eine Pflichtaufgabe, im Rahmen des 75. Jubiläums seiner Organisation sich vor den Verdiensten von Dißmann zu verneigen: "In seiner Person verkörperte sich in seltenem Maße jene Mischung von gewerkschaftlichem Realismus und politischer Klarsicht, von organisatorischer Fähigkeit und gesellschaftlichem Verantwortungsbewußtsein, welche nach meinem Dafürhalten das Kennzeichen einer aktiven, den Erfordernissen der Zeit gerechter werdenden Gewerkschaftsbewegung sein muß." So ist es zu bedauern, dass die von der Brenner-Stiftung vorgelegten drei Bände zu Otto Brenner, hrsg. von Jens Becker und Harald Jentsch, auf jeden Bezug zu Dißmann verzichten und auch die Brenner Rede von 1966 in den "Ausgewählten Reden" nicht aufnehmen. Dass die Lebensgefährtin von Dißmann ausgeklammert bleibt, sei zusätzlich angemerkt: Toni Sender (1888-1964) war bis 1933 im DMV-Vorstand zuständig für Betriebs- und Wirtschaftspolitik. Sie gehörte zum linken Parteiflügel der SPD ("Klassenkampfgruppe") und wartete als vom Vorstand 1933 "ausgemusterte" Jüdin nach 1945 vergeblich auf einen Rückruf aus Deutschland. Sie war von 1946 bis 1957 Leiterin des New Yorker Büros des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften.

[25] Arbeiterpolitik, Jg. 3 (Juli 1950), Nr. 13, S. 1; dazu Wittemann, 1977, S. 247.

[26] Wittemann, 1977, S. 248 ff.

[27] A. Enderle, H. Schreiner, E. Weckerle, J. Walcher, Das Rote Gewerkschaftsbuch, Berlin im Juni 1932. 5. Buch der Roten Bücher der "Marxistischen Büchergemeinde"

[28] Arbeiterpolitik, 1948, Nr. 2, S. 8

[29] Warum "Arbeiterpolitik", Nr. 1, November 1948. Nachdruck aller Ausgaben bis Juli 1950 (3. Jg., Nr. 14) von der Gruppe Arbeiterpolitik im Eigendruck vorgelegt 1975.

[30] Vgl. K.P. Wittemann, 1977, S. 246-250.

[31] Dazu K.P. Wittemann, 1977, S. 107-131.

[32] Vgl. hierzu: Die Bremer Linksradikalen. Aus der Geschichte der Bremer Arbeiterbewegung bis 1920, hrsg. von der Gruppe Arbeiterpolitik, 1979; Jörg Wollenberg, Die Arbeiterpolitik der Bremer Linken und das Ringen um die Einheitsorganisation, in: Arbeiterstimme. Zeitschrift für marxistische Theorie und Praxis, Nr. 165, 38. Jg., 2009, S. 15-22; Nr. 166, 38. Jg., 2009/10, S. 30-37.

[33] Arbeiterpolitik. Wochenschrift für wissenschaftlichen Sozialismus, 1. Jg., Nr. 1, 24. Juni 1916, (1975), S. 1

[34] Wir folgen hier den bei Kuckuk, Bremen in der deutschen Revolution 1918/19, 1986, S. 32 angegebenen Zahlen und Einschätzungen, auch wenn die Bremer Polizeidirektion die Stärke lediglich auf "einige 80 Köpfe" bezifferte.

[35] vgl.: Gemeinsam begann es 1945. "Der Aufbau" schrieb das erste Kapitel. Originaltreuer Nachdruck des "Aufbau", Organ der Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus (KDF), Bremen 1945/46, Frankfurt/M 1978, Nr. 11, Jan. 1946, S. 5 mit dem letzten Einheitsschwur vom 16. Dezember 1945: Die KGF "verpflichtet alle ihre Mitglieder, in den bestehenden und noch entstehenden proletarischen, politischen, gewerkschaftlichen, Kultur-, Jugendorganisationen usf. weiter für die Kampfziele der KGF zu wirken. Im Mittelpunkt dieses Kampfes muß heute mehr denn je das Hauptziel der Kampfgemeinschaft, die Bildung einer sozialistischen Einheitspartei stehen", unterschrieben von Spitzenvertretern der SPD, KPD, SAP, KPO.

[36] Wittemann, 1977, S. 135 ff.

[37] Vgl. Wittemann, 1977, S. 246ff

[38] Vgl. dazu u.a. Gerd Balko, Land in dunklen Zeiten. Erinnerungen eines Arbeiters, 2005, S. 257-340.

[39] Wir folgen hier den Ergebnissen von Franz Hartmann, Gewerkschaften in Niedersachsen nach dem 2. Weltkrieg, 1979, S. 172-175. Dazu auch Otto Brenner, Eine Biografie, hrsg. von Jens Becker und Harald Jentsch, 2007, S. 129-137.

[40] dazu: Werner Link, Die Geschichte des Internationalen Jugend-Bundes (IJB) und des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes (ISK), 1964.

[41] So Siggi Neumann an Otto Brenner am 29.9.1951, zitiert nach Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Band 10, S.192-194. Siehe auch Brenner, Eine Biografie, S. 132.

[42] Zitiert nach W: Treue, Die Demontagepolitik der Westmächte, 1967, S.88.

[43] vgl. dazu Horst Thum, Mitbestimmung in der Montanindustrie. Der Mythos vom Sieg der Gewerkschaften, 1982, S. 106 ff.; Arnulf Baring, Außenpolitik in Adenauers Kanzlerdemokratie, 1969, S. 197ff; siehe dazu auch meinen Beitrag auf dem 9. Salzgitter-Forum, 2002

[44] Auf dem Peiner Verbandstag der Metaller der britischen Besatzungszone am 20./21. Februar 1947 fragte der Theoretiker dieses Konzeptes, August Enderle, die Delegierten, angesichts der kurz zuvor vollzogene Ablehnung der Sozialisierung der Grundstoffindustrie im Niedersächsischen Landtag mit 43 gegen 40 Stimmen, wie man sich verhalten wolle, wenn es darum ginge, die gewerkschaftlichern Forderungen notfalls gegen das Parlament durchzusetzen? Und er fuhr fort: "Wenn die Gewerkschaften sich zufrieden geben würden mit den Parlamentbeschlüssen, daß z.B. die Sozialisierung nicht durchgeführt wird, würde wieder eine kapitalistische Entwicklung stattfinden, und eines Tages ständen wir wieder vor einer noch größeren Katastrophe ... Wir müssen uns klar sein, daß wir Kämpfe führen müssen. Auch wenn diese in politische umzuschlagen drohen, dürfen wir nicht zurückschrecken."

[45] vgl. Protokoll des Münchener Gründungskongreß, 1949, S. 106f.

(*) Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Der folgende Abschnitt (von "Der im November 1952 vorgelegte Bericht..." bis "...wie notwendig die gewerkschaftliche Solidarität ist".[17], inklusive der Anmerkungen 16 und 17), der in der Printausgabe fehlt, wurde der Internetversion entnommen und hier eingefügt, wodurch sich in der Folge die verwendete Anmerkungsnummerierung im Verhältnis zur Printausgabe um zwei verschiebt.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 169, Herbst 2010, S. 19-33
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Januar 2011