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ARBEITERSTIMME/346: Kolumbien zwischen Skepsis und Hoffnung


Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Kolumbien zwischen Skepsis und Hoffnung


Eigentlich sollte es in trockenen Tüchern sein. Nach vier Jahren komplizierter Verhandlungen, die nicht nur einmal knapp vor dem Abbruch standen und dann doch wieder Fahrt aufnahmen, trafen sich der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos und der Oberkommandierende der Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc), Rodrigo Londoño alias Timoleón Jiménez, in der Küstenstadt Cartagena de Indias im Norden des Landes, um den Friedensvertrag feierlich zu unterzeichnen. Aus diesem Anlass waren am 26. September auch Vertreter*innen verschiedener gesellschaftlicher Organisationen und internationale Gäste anwesend. Allein über 1000 Pressevertreter*innen übermittelten das Ereignis in die ganze Welt.

Vorausgegangen war Ende August die Unterzeichnung eines 297 Seiten umfassenden Friedensabkommens in Havanna. Erst anschließend war die Regierung in Bogota bereit, einem bilateralen Waffenstillstand zuzustimmen. Bis dahin war für Regierung und Militär die physische Eliminierung von Guerillagruppen trotz der Fortschritte bei den Verhandlungen in Havanna Routine. Nach der Unterzeichnung des Abkommens konnte der Verhandlungsführer der Regierung, Humberto de la Calle, bekannt geben: "Der Krieg ist vorbei".

52 Jahre hatten die beiden größten Guerillaorganisationen FARC und ELN (Nationales Befreiungsheer) die Interessen der unteren Klassen bewaffnet gegen das Militär und paramilitärische Banden verteidigt. Nach offiziellen Angaben sind 6,8 Millionen Menschen Opfer des internen Konflikts geworden, an dem auch andere Guerilla-Organisationen beteiligt waren. 86 Prozent der Betroffenen wurden aus ihren Gemeinden vertrieben, 14 Prozent wurden Opfer von Morden, Entführungen, gewaltsamem Verschwindenlassen, Folter und Vergewaltigung. Mindestens 220.000 Menschen wurden getötet. Eine schreckliche Bilanz, die erwarten ließ, dass eine Mehrheit der Bevölkerung dem Abkommen mit Sympathie begegnen würde. Von dieser Einschätzung ging das Regierungslager aus. Deshalb bestand Präsident Santos von Anfang an darauf, das Abkommen durch ein Referendum abzusichern. Am 2. Oktober fand die Abstimmung statt und nichts mehr war in trockenen Tüchern. Bei geringer Wahlbeteiligung (37,4 Prozent der Wahlberechtigten) und einem knappen Vorsprung von 50.000 Stimmen konnte das Lager der vom früheren Präsidenten Alvaro Uribe angeführten Gegner des Abkommens den Friedensbefürwortern eine unerwartete Niederlage zufügen. Wie ist diese Niederlage zu erklären? Bei genauerer Betrachtung gibt es eine Reihe von Gründen. So hatte ein heftiger Sturm am Tag der Abstimmung dafür gesorgt, dass in der Küstenregion in manchen Gemeinden keine ordnungsgemäße Abstimmung durchgeführt werden konnte. In Gebieten mit paramilitärischer Präsenz dürfte Druck zugunsten eines "Nein" ausgeübt worden sein. Relevante Teile der katholischen Hierarchie und ultrakonservative evangelikale Sekten unter nordamerikanischem Einfluss mokieren sich über einen Passus im Abkommen, der eine gleichberechtigte Stellung der Frau in der Gesellschaft betont. Ebenso befürchten sie die Unterwanderung der "traditionellen Familie" durch die - wie sie es nennen - Gender-Ideologie. Es gab vor dem Referendum in den sozialen Netzwerken eine Stimmungsmache, die antikommunistische, homophobe und demokratiefeindliche Ressentiments beförderte. Nicht ausbleiben konnte aus dem Uribelager der Hinweis, durch das Abkommen würde Kolumbien in ein zweites Venezuela mit "castro-chavistischen Verhältnissen" verwandelt. Manche blieben auch der Abstimmung fern, weil sie eine berechtigte Abneigung gegen den Präsidenten Santos haben. War er doch unter Uribe als Verteidigungsminister u.a. für die sog. falsos positives verantwortlich. Damals wurden Jugendliche eingefangen, in Uniformen von Guerilleros gesteckt und erschossen. Santos steht auch für eine neoliberale Politik, die die soziale Ungleichheit im Lande verschärft. Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte auch gespielt haben, dass vor allem die bevölkerungsreichen Kerngebiete mit den größten Städten seit Jahren nicht mehr unmittelbar vom Krieg betroffen sind.

Das Wirtschaftsmodell - ein Tabuthema bei den Verhandlungen

Natürlich wollten die Verhandlungsführer*innen der Farc nicht nur über die Beendigung des Krieges verhandeln. Für sie ging es um gesellschaftliche Veränderungen, um eine sozial gerechtere Gesellschaft. Santos jedoch war in erster Linie an der Entwaffnung der Guerilla interessiert. Der Krieg im Land sollte beendet werden ohne das neoliberale Wirtschaftsmodell der Regierung anzutasten. Teile der nationalen Bourgeoisie und internationale Konzerne versprachen sich von der Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzungen den ungehinderten Zugang zu Gebieten, die bisher unter Kontrolle der Farc stehen. Juan Carlos Echeverry, Präsident des halbstaatlichen Ölkonzerns Ecopetrol erklärte: "Der Frieden wird es uns ermöglichen, mehr Öl aus den Konfliktgebieten herauszuholen." Die Farc waren zum Beispiel in den südlichen Departamentos Caqueta und Putumayo seit jeher stark präsent. Und gerade in diesen beiden Regionen soll die Ölförderung in Zukunft ihren Schwerpunkt haben.

Die Farc hatten 2012 die Verhandlungen nicht aus einer Position der Stärke heraus begonnen. Sie waren militärisch geschwächt. In den Jahren vorher war es den staatlichen Repressionskräften gelungen, in die Führungsstruktur der Farc einzudringen und wichtige Kader auszuschalten. Nichts deutete darauf hin, dass es der Guerilla gelingen könnte, in absehbarer Zeit in die Offensive zu kommen. Langjährige Kämpfer*innen ergaben sich immer häufiger der Armee. Trotz dieser insgesamt negativen Aussicht hätten sich die Fronten der Farc weiterhin in ihren traditionellen Gebieten halten können. Aber mit welcher Perspektive? In den Städten sind sie politisch isoliert. Wie auch bei anderen lateinamerikanischen bewaffneten linken Gruppen waren Verrohungserscheinungen nicht zu verhindern. Gründe genug, den Verhandlungsweg einzuschlagen, um aus der Sackgasse herauszukommen.

Weitere Zugeständnisse der Farc

Die Woche nach dem Referendum war geprägt von Hektik. Die Gegner des Abkommens wurden vom Ergebnis ebenso überrascht wie die Befürworter. Santos hatte keinen Plan B und kontaktierte sofort Uribe, seinen Amtsvorgänger. Uribe brachte eine Verschärfung der Strafverfahren gegen die Farc-Kommandanten ins Gespräch und wollte die Militärs vor Strafverfahren geschützt sehen. Empörung im Lager der Befürworter löste das Geständnis des Wahlkampfleiters der NO-Kampagne aus, als er eine durch verschiedene Firmen verdeckte Finanzierung zugab und einräumte, das Abkommen bewusst falsch dargestellt zu haben. Im ganzen Land gingen Menschen für den Frieden auf die Straße. Die Woche endete mit der Bekanntgabe der Verleihung des Friedensnobelpreises an Juan Manuel Santos. Während diverse Spekulationen über das weitere Procedere in der Öffentlichkeit die Runde machten, trafen sich in Havanna die Delegationen von Regierung und Farc zur Nacharbeit. Die Regierungsdelegation unter Humberto de la Calle war bestrebt, möglichst viele Änderungsvorschläge in das bestehende Abkommen einzuarbeiten - für die Farc-Delegation eine unerfreuliche Angelegenheit - handelte es sich doch zumeist um substantielle Verschlechterungen. Mitte November war es dann so weit. Eine neue Fassung des Friedensabkommens war unter Dach und Fach. Am 24. November setzten Präsident Santos und Farc-Oberkommandierender Jimenez noch einmal ihre Unterschrift unter das - jetzt überarbeitete - Friedensabkommen. Die Farc mussten erhebliche Kröten schlucken. Die Folgen werden sich in der Phase der Umsetzung zeigen. Betroffen sind schwerpunktmäßig die Regelungen einer Sondergerichtsbarkeit, die die im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt begangenen Verbrechen ahnden soll. Ausgeschlossen wird die bisher vorgesehene Beteiligung ausländischer Richter. Die FARC wollten eine Internationalisierung der Gerichtsbarkeit. Alle Vermögenswerte und Güter der Farc können zur Entschädigung der Opfer herangezogen werden. Uribes Großgrundbesitzerfreunde erhalten Garantien, die sie vor Enteignung schützen. Die Interessen des Kapitals werden (noch) stärker berücksichtigt, indem z.B. bei der Umsetzung der Vereinbarungen Großprojekte nicht tangiert werden dürfen. Besonders gefährlich ist ein Passus, der es einer künftigen Regierung ermöglichen soll, die eingegangenen Verpflichtungen rückgängig zu machen. Das Friedensabkommen wird nämlich nicht mehr, wie ursprünglich vorgesehen, in der Verfassung verankert. Die Guerilla hofft (!) nun auf eine möglichst schnelle Umsetzung der Vereinbarungen und ist nach Abgabe der Waffen auf den Schutz durch die internationale Beobachtungsmission der Vereinten Nationen angewiesen. Skepsis ist angebracht. Zu viele kriminelle Banden und ultrarechte Paramilitärs sind im Lande unterwegs. Seit dem Beginn der Friedensverhandlungen wurden allein 120 Mitglieder der linken Bewegung Marcha Patriotica ermordet, allein in diesem Jahr 70. Zwei Angehörige der Farc wurden am 15. November auf dem Weg zur Sammelstelle von einer Einheit des Militärs angegriffen und erschossen. Außerdem geht der Krieg zwischen dem Militär und der zweitgrößten Guerillaorganisation ELN vorerst weiter trotz der begonnenen Verhandlungen. Als die Armee nach Abschluss der Verhandlungen mit den Farc einen Kommandanten des ELN erschoss, gratulierte Präsident Santos der Militärführung. Diese Aktionen und eine Welle der bisher ungeahndeten Gewalttaten gegen soziale Aktivist*innen lassen für die nähere Zukunft keine optimistische Prognose für den weiteren Friedensprozess zu. Verschärfend kommt noch hinzu: Wie es scheint, geht der progressive Zyklus in Lateinamerika zu Ende. (dazu ausführlich in Arsti Nr.193 S.9-16) Der Einschätzung von Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera vom Mai dieses Jahres ist zuzustimmen: "Allerdings, und dieser Debatte muss man sich frontal stellen, ist dieser Prozess der Ausstrahlung und der territorialen Ausdehnung der fortschrittlichen und revolutionären Regierungen zum Stillstand gekommen. In einigen äußerst wichtigen und entscheidenden Ländern des Kontinents ist es zu einer Rückkehr von rechten Sektoren gekommen, und es besteht die Gefahr, dass die Rechte die Kontrolle in weiteren Ländern wieder übernimmt." Welche Auswirkungen die Wahl des Republikaners Donald Trump auf die Lateinamerikapolitik der US-Administration haben wird, ist vorerst noch nicht zu erkennen. Die kubanische Regierung schätzt die aktuelle Lage realistisch ein und ließ im November mit dem strategischen Militärmanöver "Bastión 2016" die Verteidigungsfähigkeit des Landes überprüfen.

Stand: 26.11.16
H. E.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Besuch bei Fidel vor 25 Jahren: Alfonso Cano (Farc, 2011 gefallen), Francisco Galan (ELN), Ivan Marquez (Farc, seit 2012 Verhandlungsführer), Antonio Garcia (ELN)

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016, Seite 34 bis 35
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Februar 2017

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