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ARBEITERSTIMME/377: Wie die EU ihre Außengrenzen "sichert"


Arbeiterstimme Nr. 201 - Herbst 2018
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

"Ordnen, Recht durchsetzen, begrenzen"
Wie die EU ihre Außengrenzen "sichert"


Das Law-and-Order-Zitat in der Titelzeile ist dem Statement entnommen, das der parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, am 6. September in einem Medieninterview anlässlich der Klausurtagung der Landesgruppe bei Berlin zum Asyl- und Migrationsthema abgab. Es passt zu dem, was die Europäische Union seit geraumer Zeit an verschärfter Asyl- und Migrationspraxis an den Tag legt. Weitgehend einig ist man sich dabei in den Zielen von Kontrolle, Abschottung und Abwehr. Anhaltende Probleme und Streitigkeiten gibt es z. B. bei der Frage der Lastenverteilung, wieviel Flüchtlinge und Schutzsuchende jedes EU-Mitglied aufnehmen und unterbringen soll. Hier gehen die Vorstellungen von "Obergrenzen" bis zur Blockade weit auseinander. Man könnte sagen, dass einzelne EU-Staaten einen riesigen Hype veranstalten, je nach politisch-ideologischer Ausrichtung ihrer Regierungen, bei der Betonung der "Gefahr", von Flüchtlingen quasi "überrollt" und "überfremdet" zu werden und die Dinge administrativ nicht mehr im Griff zu haben. Die wahre Sachlage dahinter ist dabei selten der vernünftige Faktenratgeber.

Wer kommt nach Europa?

Dabei ist die Zahl derer, die es schaffen, bis nach Europa zu gelangen, vergleichsweise gering, wenn man bedenkt, dass es nach Berechnungen des UNHCR-Flüchtlingshilfswerks und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aktuell etwa 68,5 Millionen (2016: 65,6) weltweit Flüchtende gibt, von denen jedoch 85 Prozent Binnenflüchtlinge in einzelnen Ländern sind oder in benachbarte Länder flüchten, um in der Nähe ihrer Heimat zu bleiben. Zudem wirkt wenig überzeugend, dass eine im Vergleich wohlhabende EU mit mehreren hundert Millionen Einwohnern es offenbar nicht zu schaffen vermag, einige wenige Millionen Menschen zusätzlich aufzunehmen. Allein die Türkei hat ca. 3,5 Millionen geflüchtete Syrer, Iraker und Afghanen aufgenommen (und lässt sich das von der EU teuer bezahlen), weitaus kleinere Länder wie der Libanon über eine Million und Jordanien ca. 700.000, die meisten davon leben in riesigen Zeltstädten, dazu zum Teil noch unter Wüstenbedingungen. Der Anteil der Flüchtlinge in Deutschland beträgt gerade mal ungefähr 2 Prozent an der Bevölkerung. In Ost-Afrika existieren riesige Flüchtlingslager in Äthiopien, Kenia und Uganda mit Zehntausenden Geflüchteten aus Somalia, Eritrea und dem Südsudan. Es sind Menschen, die vor Kriegen, Gewaltkonflikten, staatlicher und bandenmäßiger Gewaltwillkür in ihren Ländern flüchten. Aber auch Klimafolgen, Landfrage und ungleiche Einkommensverteilung treiben sie an. Viele haben kein Geld für teure Fluchten und brechen oft ohne jede wirtschaftliche Perspektive von ihrer Heimat ins Ungewisse auf, um unterwegs irgendwo zu stranden.

Eine historische "Hypothek"

Kriege und Konflikte in Afrika sind häufig noch Spätfolgen von Kolonialismus und Neokolonialismus, für die bestimmte europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, aber auch Deutschland (siehe Herrero-Massaker) eine nicht geringe historische Verantwortung tragen. Nun sind es nicht mehr die direkt kolonial Unterdrückten und Ausgebeuteten, die Verdammten dieser Erde, wie sie der algerische Arzt und Freiheitskämpfer Frantz Fanon einmal nannte und in seinem Buch beschrieb, sondern deren nachkommende Generationen, die mit meist nur vagen, unklaren Vorstellungen und Erwartungen nach Europa streben. Der Zug der "Verdammten" und ihr Leid scheinen nicht abzureißen. Die EU versucht, bestimmte Länder in Afrikas Norden durch finanzielle Anreize, Ausbildung und Unterstützung von deren Polizei und die Aussicht auf Investitionsvorhaben dafür zu gewinnen, für Europa die Drecksarbeit bei der Kontrolle, Eindämmung und Abwehr der Flüchtlinge zu erledigen. Eine Politik der Einmischung unter dem Zeichen vermeintlicher "Bekämpfung von Fluchtursachen". Dafür sind die Verhältnisse im Bürgerkriegsland Libyen, die meterhohen Doppelzäune in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla an Marokkos Mittelmeerküste und die konsequente Schließung der Balkanroute und nun des zentralen Mittelmeerkorridors sprechende Zeugnisse. Doch Europa, wo man auf freien Welthandel und kapitalistisches Wachstum schwört, kann schwerlich Regierungen in Afrika glaubhaft in die Pflicht nehmen, ihren Menschen eine sichere Heimstatt zu bieten und auskömmliche Existenz zu ermöglichen. Zu sehr gehört gerade das o. g. Weltwirtschaftscredo zu den Faktoren, die Afrikas Probleme strukturell wesentlich mit bedingen und den Kontinent im Klammergriff des globalen Anlagekapitals und der Börsengeschäfte der Finanztransakteure in den Metropolen halten.

Der neue Nutzen

Afrika wurde bisher zuallererst gesehen und gebraucht als billiger Rohstofflieferant und offener Absatzmarkt mit inzwischen allerdings riesigen Investitionsperspektiven in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. Der Kontinent hat jetzt schon über 1,1 Milliarden Bewohner, wird diese Zahl bis 2050 noch verdoppeln und bis 2100 voraussichtlich vervierfachen (Angaben nach Fischer Weltalmanach 2015). Eine Stadt beispielsweise wie Nairobi in Kenia war in den 1920er und 30er Jahren unter britischem Mandat noch ein beschauliches, provinzielles "Kaff" mitten in der Savanne mit ca. 30.000 Einwohnern in einer Ansammlung von Hüttenbehausungen, Kolonialgebäuden und englischen Grundbesitzervillen, wo es nicht eine geteerte Straße gab. Heute platzt sie mit mehr als drei Millionen Menschen, Büro- und Wohnhochhäusern, Stadtautobahnen und internationalem Flughafen aus allen Nähten. Wer nicht wie China, die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, jetzt mit ihrer Afrika-Offensive (60 Milliarden Dollar Investitionsvolumen ab sofort) handelt, wird später das Nachsehen haben. Bisher sind es von den ca. 400.000 Unternehmen in Deutschland lediglich etwa 800 (0,2 %), die in Projekte in Afrika investieren. Man scheut vor allem das Risiko der unsicheren politischen Lage in vielen Ländern. China finanziert und baut (meist mit eigenen Arbeitern) im Rahmen seiner Welthandels-Initiative "Neue Seidenstraße" in Afrika alles: Bürokomplexe, Eisenbahnen, Straßen, Brücken, Staudämme, Rohstoffverarbeitungsindustrien, Produktionsstätten, Flughäfen, Wohnstädte, Schulen, Krankenhäuser usw. Angeblich, wie gerade auf dem China-Afrika-Gipfel in Peking mit 54 Teilnehmerstaaten aus Afrika von Staatschef Xi ausdrücklich betont wurde, ohne Gegenleistungen zu erwarten oder den Kontinent in die Abhängigkeitsverschuldung stürzen zu wollen. Doch das kleine Land Djibouti am strategisch wichtigen Ausgang des Roten Meers dankte dies schon mal mit der Gewährung der Stationierungsrechte für den ersten Militärstützpunkt Chinas außerhalb seiner eigenen Grenzen.

Zweifelhafte Partner an Europas Südflanke

Längst weiß auch die deutsche Bundesregierung aus den Berichten des Diplomatischen Dienstes des Auswärtigen Amts genau Bescheid über die verheerenden, menschenunwürdigen Zustände in libyschen Gefängnislagern, wo Insassen misshandelt und gefoltert, Frauen vergewaltigt und zu Zwangsarbeit und Prostitution gezwungen werden und allseits Korruption herrscht. Doch Libyen ist Kooperationspartner der EU im Vorgehen gegen Flüchtlinge. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel plädierte auf dem EU-Gipfel am 28./29. Juni d. J. in Brüssel dafür, die korrupte libysche Küstenwache "ihre Arbeit ungestört" machen zu lassen. Die neue rechte italienische Regierung unter einer Lega-/Fünf- Sterne-Koalition rüstete die libysche Küstenwache vor kurzem mit 12 weiteren Schiffen aus, davon 10 Patrouillenschnellboote der eigenen Küstenwache und zwei größere Schiffe der Finanzpolizei. Unter der Vorgängerregierung hat Italien 2013 noch die rein italienische Marine-Hilfsmission "Mare Nostrum" gegründet, um Bootsflüchtlinge zu retten und ausschließlich nach Italien zu bringen. Vorausgegangen war die Katastrophe des Untergangs eines lecken, überfüllten Flüchtlingsbootes zwischen der libyschen Westküste und der nur 300 km entfernten italienischen Insel Lampedusa, bei der auf einen Schlag über 600 Menschen ertranken. Die Zahl der mittlerweile so oder ähnlich Ertrunkenen liegt inzwischen bei über 12.000, genaue Daten gibt es nicht, die Dunkelziffer könnte noch viel höher sein. 2015 hat Italien die Aktion "Mare Nostrum" wieder eingestellt. Die EU hat dafür die Marine-Mission "Sophia" mit gemischter, darunter auch deutscher Beteiligung des Marine-Versorgers "Mosel" ins Leben gerufen. Man wählte dafür ausgerechnet den Namen eines auf einem Rettungsschiff neugeborenen Flüchtlingsbabys. Die "robuste" Hauptaufgabe von "Sophia" ist nun die "Amtshilfe" bei der Bekämpfung von Schleuseraktivitäten und Schlepperbanden entlang der libyschen Küste und die Ausbildung und Schulung der libyschen Küstenwache in Kontroll- und Sicherheitstechniken. Die Rettung Schiffbrüchiger ist dagegen nur noch Nebenzweck, wozu man laut internationalem Seerecht ohnehin verpflichtet ist. Der Unterschied ist, dass man nicht mehr ausdrücklich nach Flüchtlingen auf dem Meer sucht. Gleichwohl berichteten unlängst Sprecher der Mission, man habe seit ihrem Start ungefähr 40 bis 50.000 Menschen aus Seenot gerettet.

Schlüsselstellung Libyens

Es ist bekannt, dass die libysche Küstenwache bei der "ungestörten" Ausübung ihrer Aufgabe mitunter rigoros bis nicht selten brutal zu Werke geht. Offiziere und Mannschaften stehen z. T. unter Verdacht, selbst in korrupte Abmachungen mit den Schleusern verstrickt zu sein. Flüchtlinge identifizieren immer wieder einzelne Küstenwächter der Beteiligung an Misshandlungen und Schiebungen, bis hin zu Menschenhandel. Es wurde von Aktivisten auf zivilen Rettungsschiffen beobachtet und berichtet, wie die libysche Küstenwache sogar auf Flüchtlingsschlauchboote mit Maschinenpistolen schoss, um sie zu versenken. Nicht selten werden die Schiffe der Nichtregierungs- Rettungsorganisationen zum Ziel für riskante Rammmanöver, wenn sie gerade Flüchtlinge aufnehmen wollen. "Sophia"-Schiffe halten sich im "Stand-by" außerhalb der 12-Meilen-Zone und überlassen das, was dort abseits der Medienöffentlichkeit passiert, der libyschen Küstenwache.

Libyen ist seit Beginn des Bürgerkriegs 2011 als Folge des "Arabischen Frühlings" und der Liquidierung von Machthaber al-Gaddafi mithilfe von französischen und britischen Luftschlägen zur Unterstützung von Aufständischen ein staatsloses, chaotisches Gebilde. Es gibt zwei konkurrierende Regierungen, eine weltlich orientierte im Westen und islamisch ausgerichtete im Osten des Landes, die sich auf miteinander verfeindete Milizen stützen und nur begrenzte Landesteile kontrollieren. Der Rest zerfällt in verschiedene Einflussgebiete bis zu solchen von kriminellen Banden und den von libyschen Untergruppen des Islamischen Staats gehaltenen. Nur die westliche Regierung in Tripolis, die lediglich bestimmte Küstenabschnitte und das Gebiet um die Hauptstadt beherrscht, ist international anerkannt. Sie kontrolliert nur 7 der 32 Gefängnislager für Flüchtlinge im ganzen Land. Auch die Hauptstadt Tripolis ist nicht sicher und erlebte gerade Ende August aufflackernde Häuserkämpfe rivalisierender Milizen, bei denen mindestens 49 Menschen ums Leben kamen. Energisch wehrt sich die Regierung in Tripolis bisher dagegen, auf ihrem Territorium lager-ähnliche "Transitzentren" der EU einzurichten und schlägt auch finanzielle EU-Hilfe dafür im Gegenzug aus. Sie verhält sich damit ähnlich widerständig, Europas Außengrenzsicherung zu übernehmen wie Ägypten und die drei Maghreb-Staaten Marokko, Algerien und Tunesien, die EU-Lager bei sich ablehnen und alle drei zu "sicheren Drittstaaten" erklärt wurden, um Flüchtlinge ohne Asylberechtigung aus der EU dorthin "rückführen", d.h. abschieben zu können. West-Libyen bringt auf dem Mittelmeer aufgegriffene Flüchtlinge zurück in die berüchtigten eigenen libyschen Lager, die gefürchtet sind. Das UNHCR schätzt, dass zur Zeit etwa eine Million Flüchtlinge in Libyen festsitzen.

Italiens neues Grenzregime zum Mittelmeer

Italien war vor der jetzigen Regierung mit seinen Häfen Hauptanlandepunkt für auf dem Mittelmeer gerettete Bootsflüchtlinge. Die neue italienische Koalitionsregierung von rechtsextremer Lega und populistischer Fünf-Sterne-Bewegung lehnt es seit Juni ganz ab, gerettete Flüchtlinge noch ins Land aufzunehmen, solange, wie ihr Innenminister Matteo Salvini von der Lega verkündete, bis die EU ihre Außengrenzen wirksam schützt. Salvini, der in US-Präsident Trump einen großen Bewunderer hat, hält nicht viel von Humanität, für ihn sind Flüchtlinge zynischerweise nur "Menschenfleisch". Die Folge war eine Schließung der italienischen Häfen für zivile wie militärische Rettungsschiffe der Mission "Sophia" und sogar die Boote der eigenen Küstenwache, Schiffe, die dennoch mit Geretteten anlanden wollten, wurden vor der Küste auf Reede liegend auf tagelange Wartepositionen gezwungen bis zum Eintreten kritischer Lagen an Bord für Kinder und Kranke, die an Land gebracht werden durften. Zugleich entfachten Italien und im Schlepptau auch der kleine Inselstaat Malta eine Kampagne gegen die zivilen Rettungsschiffe verschiedener NGOs wie "Lifeline", "SeaWatch", "SOS-Mediterranee"/"Ärzte ohne Grenzen", "Jugend rettet" u.a. Rettungsschiffe in Häfen wurden am Auslaufen gehindert, einzelne sogar beschlagnahmt. NGO-Erkundungsflugzeuge belegte man mit Startverbot. Schiffsführer wie der deutsche Kapitän Reisch von der "Lifeline" klagte man vor Gericht an unter fadenscheinigen Vorwänden wegen unkorrekter Zulassungspapiere. Ihm drohen 1 Jahr Gefängnis und eine hohe Geldstrafe. Kapitänen und Besatzungen wird in kriminalisierender Weise "Kumpanei" mit Schlepperorganisationen in Libyen vorgehalten. Systematisch wird versucht, die NGO-Schiffe von den sog. search-and-rescue-zones (Such- und Rettungszone) fernzuhalten. Im Juni/Juli fuhr keines der insgesamt 12 zivilen Rettungsschiffe zu Einsätzen mehr aufs Meer hinaus. In nur zwei Wochen verloren währenddessen auf dem Mittelmeer etwa 7-800 Menschen ihr Leben durch Ertrinken. Bis August waren es in diesem Jahr insgesamt 1.500. Seit es neuerdings kontingentierte Abnahmezusagen mehrerer EU-Länder wie Spanien, Frankreich, Deutschland u. a. gibt, gestattet Italien teilweise wieder ein Anlanden, wenn es die Geretteten von anderen Staaten abgenommen bekommt. Ein erpresserisches staatliches Handeln zu Lasten von Schutzsuchenden.

EU-"Schutzwall" in Sahelzone

Libyen als lange Zeit offener Durchgangskorridor ist für Flüchtlinge aus der im Süden angrenzenden Sahelzone und Subsahara-Region bis zur Äquatorial-Grenze zum Zielpunkt geworden. Zur Subsaharazone zählen Länder wie etwa Senegal, Liberia, Elfenbeinküste, Ghana und Nigeria. Im nordafrikanischen Abschnitt des "Krisenbogens" von der Atlantikküste über die Sahara, den Nahen/Mittleren Osten bis nach Afghanistan und Pakistan liegen die Sahel-Staaten Mauretanien, Mali, Niger, Tschad, Sudan (Darfur-Region), Südsudan und Eritrea, die zu den ärmsten des Kontinents gehören, wo rund 70 Millionen Menschen leben. Auf diese beiden Regionen richtet sich immer mehr das Augenmerk der EU. Auf einer internationalen Geberkonferenz Anfang September in Berlin, wurde beschlossen, die bisherige Finanzhilfe für die notleidende Bevölkerung in der Tschadsee-Region um weitere 1,7 Milliarden Euro aufzustocken. Die Sahel-Länder haben kaum entwickelte Ökonomien, wenig vorhandene lokale Industrie und Energieressourcen, nur mangelhafte Verkehrsinfrastruktur, dafür zum Teil gefragte Bodenschätze wie Gold (Mali), Uran, Erze (Niger), Öl (Tschad mit Pipeline zum Golf von Benin) und Lithium, das Europa braucht für die Batterien seiner E-Mobile. In einzelnen Ländern gibt es sporadisch EU-Pilotprojekte, die nationale Wirtschaft zu beleben und Produktionsstätten wie den Cashew-Nüsse-Anbau in Mali zu fördern. Doch oft verlassen die EU-Teams nach dem Anschub diese Projekte wieder, deren Beschäftigte dann allein zurechtkommen müssen, wo es an allem fehlt: an Bedienpersonal für die Maschinen, an Ersatzteilen, an Vertriebsnetzen, Transportmitteln usw. Im Fall der Cashew-Fabrik legten die Beschäftigten ihre Ersparnisse zusammen, um den Betrieb fortzuführen. Die Menschen (über-)leben von Subsistenzwirtschaft (Selbstversorgung), Kleinhandel auf Märkten, etwas Viehzucht, auch vom Tourismus und dem Geld, das emigrierte Angehörige aus dem Ausland transferieren. Die Arbeitslosenquote liegt inoffiziellen Schätzungen (es existieren keine verlässlichen Statistiken) nach bei über 50 Prozent. Es mangelt an sauberem Wasser und elektrischem Strom. In Abwanderung und Binnen- wie Außenmigration aus ökonomischen Gründen ("Wirtschaftsflucht") sehen viele ihre einzige Chance. Wer es in den industrialisierten (europäischen) Norden schafft, Aufnahme und Arbeit findet, unterstützt von dort die Angehörigen zuhause. Wer unterwegs scheitert, gilt in den Großfamilien oft als Versager und kann sich nicht mehr zuhause sehen lassen. Ein besonderes zusätzliches Stigma für jene, die als Asylsuchende abgewiesen und zurückgeschickt werden.

In Mali sind im Rahmen der UN-Mission MINUSMA neben 1.000 französischen Soldaten (urspr. 2.500) auch etwa 1.100 deutsche Soldaten eingesetzt, die für Sicherheit und Schutz gegen islamistische Rebellen sorgen sollen. Die EU unterhielt von 2014 bis 2016 die Trainingsmission EUTM Mali zur Ausbildungsunterstützung und Beratung der Armee. Seit 2015 gibt es EUCAP Sahel Mali als zusätzliche Trainingsmission für die Polizei, Gendarmerie und Nationalgarde. Nach Aussagen Einheimischer habe dies jedoch das Land nicht sicherer gemacht, Die deutschen und anderen UN-Soldaten, heißt es, würden nur sich selbst schützen. Stark nachgefragt sind Sicherheits- und Kontrolltechniken, deren Industrie ist neben dem Flüchtlingsgeschäft der boomende Milliardenmarkt im Norden Afrikas, die sogar die Tourismusbranche an Bedeutung verdrängt haben. Europäische und andere Anbieter von Kleinwaffen und Überwachungs-High-Technik sind auf den Messen dort präsent, wo man gegen gutes Geld so gut wie alles bekommt, was die Regierungen begehren. Die Lieferanten haben begreiflicherweise kein erhöhtes Interesse an einer verbesserten Sicherheitslage.

Das Flüchtlingsgeschäft in Agadez

In der Republik Niger als wichtigem Transitland (Durchgang für 80 % aller Flüchtlinge nach Libyen) ist die Lage für Flüchtlinge besonders prekär und lebensbedrohlich. Hier ist die EU auf mehreren Ebenen zu deren Abwehr aktiv. Sie finanziert mit Millionenbeträgen die Ausrüstung und Schulung der nigrischen Grenzpolizei, stattet sie mit modernen Pickup-Kleinlastwagen aus, auf denen Maschinengewehr-Lafetten montiert sind. Sie hat ferner in der Wüstenstadt Agadez (rd. 125.000 Einw.), einem traditionellen Knotenpunkt im Zentrum des Landes von Karawanen aus der Zeit des Sklavenhandels, EU-"Transitzentren" im Stil des Seehofer-Migrationsplans eingerichtet. Sie sollen Flüchtlinge erfassen, registrieren, in Auffanglager weiterleiten oder nach Prüfung von Asylersuchen für europäische Länder bei Aussichtslosigkeit möglichst gleich zurückweisen. Dazu arbeiten dort von EU-Fachpersonal ausgebildete afrikanische Mitarbeiter. Wer das weiß, umgeht diese Stellen von vorneherein, riskiert dann aber, wo man hinkommt, sofort eine "unerwünschte Person" zu sein und etwa in Libyen interniert zu werden. Mit Flüchtlingstransporten lässt sich viel verdienen und so sind viele kleine örtliche Transportunternehmer und Pick-up-Besitzer in das Schleusergeschäft verwickelt, was es ziemlich unüberschaubar macht. Eine Zeitlang kaufte ihnen die EU ihre Pick-ups ab und stellte sie am Stadtrand von Agadez sicher, doch davon ist man wieder abgerückt. Die wenigen befahrbaren Sandpisten Richtung Norden nach Libyen werden inzwischen von der Polizei scharf bewacht und durch ständige Patrouillen kontrolliert. Ein Durchkommen ist nur noch auf gefährlichen Umgehungen der Kontrollpunkte möglich. Die Flüchtlinge besteigen die Pick-ups der Schleuser außerhalb der Stadt, manchmal bis zu 50 Personen pro Fahrzeug. Pro Person kann dies bis zu mehrere hundert oder tausend Dollar kosten. Nachts wird dann versucht, die Polizeikontrollen zu Fuß zu umgehen. Viele haben sich dabei schon verirrt und wurden nie wieder gesehen. Andere geraten in plötzlich aufkommende Sandstürme oder Starkregenfluten und kommen dabei um, wenn sie orientierungslos von Schleusern, die sich allein absetzen, im Stich gelassen werden. Täglich gibt es neue Berichte über Tote und Vermisste aus der vergangenen Nacht. Ein Flüchtling in Agadez beschreibt die Tragödie gegenüber dem Team des ARD-TV-Magazins Monitor so: "Die Toten auf dem Mittelmeer sieht man, die Toten in der Wüste sieht man nicht." Und ein anderer fügt hinzu: "Die europäischen Staaten sollten aufhören damit, den Diktatoren der Region und ihren korrupten Polizeibehörden viele Millionen Euro für ihre Kooperation zu bezahlen." Warum die EU stattdessen diese Gelder nicht für sichere Wege des Fortkommens und eine menschenrechtliche, menschenwürdige Asylpraxis einsetzt, erschließt sich vernünftiger Überlegung nicht.

Kanzlerin Merkel auf Subsahara Besuchstour

Dem Zweck u. a. solcher "Kooperationen" mit afrikanischen Regierungen, deren Führer bisweilen nicht gerade bestbeleumundet sind, diente auch Merkels Good-Will-Reise im August durch die Subsahara-Länder Senegal, Ghana und Nigeria, wo zusammen über 215 Millionen Menschen leben. In allen drei Ländern liegt das jährliche Wirtschaftswachstum über fünf Prozent. Begleitet wurde sie dabei neben ausgewählten Berliner Journalist*innen und deutschen Wirtschaftsvertretern auch von CSU-Entwicklungsminister Gerd Müller. Er fordert schon länger einen umfassenden "Marshallplan" für Afrika, einen EU-Afrika-Kommissar und deutlich mehr Investitionen, freilich ohne das kapitalistisch-imperialistische System dabei in Frage zu stellen. Im ZDF-morgenmagazin vom 30. August sagte er: "In den nächsten 10 Jahren wird in Afrika mehr gebaut als in ganz Europa in den letzten 100 Jahren." Bei der Verabschiedung seines Etats für Entwicklungszusammenarbeit im Bundestag Anfang Juli, musste Müller noch eine empfindliche Kürzung von rund 1 Milliarde Euro hinnehmen. Die Mitarbeiterin Brigitte Erler im Entwicklungsministerium von Erhard Eppler (SPD) während der letzten Schmidt-Genscher-Regierung, quittierte schon Anfang der 1980er Jahre ihren ministeriellen Dienst, weil sie unter Beschreibung der Mechanismen solche Art der Hilfe als "tödlich" bezeichnete und nicht länger daran mitwirken wollte. (Brigitte Erler: "Tödliche Hilfe"). Die genannten drei Länder sollen Millionen Euro an staatlichen Hilfen erhalten. Für Ghana und Nigeria stellte das Delegationsmitglied von Volkswagen zwei Fertigungsstätten für Fahrzeugteile in Aussicht. Nigeria ist mit 188 Millionen Einwohnern Afrikas bevölkerungsreichstes Land mit zweitstärkster Wirtschaftsleistung des Kontinents hinter Südafrika. Es verfügt neben Staaten wie der Demokratischen Republik Kongo (vorm. Zaire), Südafrika und Tansania mit über das aussichtsreichste Entwicklungspotenzial und ist größtes, afrikanisches Erdölförderland an 12. Weltposition. Trotz der reichen Ölvorkommen und zahlreicher Bodenschätze kann das Land seine vielen Menschen nicht genügend ernähren und mit Arbeit versorgen. Der dünner besiedelte Norden ist teilweise Operationsgebiet der islamistischen Boko Haram-Milizen. Durch die Verschmutzung des Grenzflusses Niger steuert das Land einer riesigen Umweltkatastrophe entgegen. Über weite Abschnitte führt einer der längsten afrikanischen Flüsse mit seinem einst großen Fischreichtum, der vielen Familien Brot und Existenz sicherte, keine Fischbestände mehr und ist zur stinkenden Ölkloake verkommen.

Verschärfung des EU-Asyl- und Migrationsregimes seit 2015

Die Veränderungen bei der europäischen wie auch deutschen Asyl- und Migrationspolitik sind nur nachzuvollziehen und zu verstehen vor dem Hintergrund der Entwicklungen in diesem Punkt seit etwa Spätsommer/Herbst 2015, als über 1 Million Flüchtlinge über die sog. Balkanroute nach Europa kamen. Dass da ein großes Problem auf die Länder der EU zukommen könnte, ist jedoch schon seit mindestens 2012/13 absehbar und lange geschah nichts, sich darauf vorzubereiten und gefasst zu sein. Deutschland nahm damals im Zug einer humanitären Geste, verkörpert in Kanzlerin Merkels Willkommenssatz "Wir schaffen das", auf einmal fast 900.000 Menschen auf, die nach und nach aufs ganze Land auf teils provisorische Flüchtlingsunterkünfte verteilt wurden. Das deutsche Asylrecht wurde auf die Masse bezogen zunächst auch noch relativ großzügig ausgelegt und gehandhabt, anderes zu erwarten wäre wegen der großen Zahl von den zuständigen Behörden auch kaum realistisch und leistbar gewesen. Doch zum Teil schlug die gastfreundliche Stimmung in der Bevölkerung unter einer massiven, irrationalen, Angst schürenden rechtspopulistischen Einflussnahme ("Asyl-Tsunami", AfD) bald um, so dass jene bald lauter und fordernder wurden, die dem Flüchtlingszuwachs im Land einen Riegel verschieben und die weitere Aufnahme von Schutzsuchenden gestoppt sehen wollten. Dadurch beeinflußt mehrten sich die Stimmen jener bürgerlichen Politiker*innen, die die Frage der Kontrolle, Lenkung und Begrenzung, also des law-and-order, immer deutlicher ideologisch thematisierten und einseitig rhetorisch zuspitzten. Dies geschah im Blick auf die Landtagswahlen von 2015/16 und dann auch auf die Bundestagswahl 2017. Das "besorgte", präventive Reden der Politiker* innen der demokratischen Mitte gemäß der Stimmungslage im Volk half, wie die Wahlergebnisse dann alarmierend zeigten, alles nichts, die in einem erstarkenden Rechtstrend der etablierten Mitte-Ideologie eine Abfuhr nach der anderen bescheinigten. Dabei hatte die EU 2015 mit verschiedenen eingeleiteten Maßnahmen schon ein deutliches Zeichen des Kampfes gegen Flüchtlinge gesetzt: a. durch den EU-Türkei-Pakt, gegen Zahlung von drei Milliarden Euro an den Erdogan-Staat, über drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei zu halten, sie am Weiterreisen nach Europa zu hindern und keine weiteren aufzunehmen; b. durch die robustere "Sophia"-Marinemission; c. durch die Blockade der Balkanroute, in dem die Orban-Regierung die ungarische Südgrenze abriegelte; d. durch eine deutliche Stärkung und Ausweitung der Aktivitäten der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich diese Schritte in einem deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen niederschlagen würde, wie es dann auch seither Jahr für Jahr geschieht. Waren es 2015 noch 890.000 nach Deutschland eingereiste Asylsuchende, ging diese Zahl 2016 zurück auf 280.000 und 2017 weiter herunter auf 187.000, das sind vier ausverkaufte große Fußballstadien in ganz Deutschland! (Zahlen: Sozialistische Zeitung).

Bundestagswahl 2017 und Seehofer-Kampagne

Der Schock über die z. T. starken Verluste der großen bürgerlichen Volksparteien und dafür das massive Erstarken bundesweit der rechtsextremen AfD bis zu zweistelligem Prozentanteil bei den Wählerstimmen und. mit 92 Abgeordneten im Berliner Reichstag, zeigte eine tiefe Wirkung. Erst im zweiten Versuch gelang nach vergeblichen Jamaika-Bemühungen für ein Regierungsbündnis Schwarz-Gelb-Grün eine Regierungsbildung im Frühjahr 2018 zwischen der Union und SPD zu einem Neuaufguss einer Großen Koalition statt gefürchteter Neuwahlen, obwohl gerade diese drei Parteien vom Wahlvolk eine bittere Niederlage bereitet bekamen. Das führte geradewegs zu einer weiteren Verschärfung der politischen Stimmungslage und einem Ausschlag des Pendels der Unzufriedenheit weiter nach rechts, wo eine vermeintliche "Alternative" für Deutschland lauert, die keine demokratische ist. Das Thema Asyl und Migration bietet sich wegen seines Querschnittscharakters als Mix aus demographischen, außen-, innen-, rechts- und sozialpolitischen Aspekten geradezu an, von einer rechten politischen Kraft aufgegriffen und bedient zu werden. Seehofer sprach jüngst von Migration als "Mutter aller Probleme". Alexander Gauland, einer der beiden Köpfe der AfD-Führung, drückte das Dilemma der bürgerlichen Großparteien sinngemäß in der Feststellung aus, die Kanzlerin Merkel sei, solange es sie gäbe, die beste Existenzsicherung der AfD.

Doch der wirkliche Angriff erfolgte aus der rechten "demokratischen Mitte". Der medial aufgebauschte, angebliche "BAMF-Skandal" in Bremen, eine Außenstelle der Migrationsbundesbehörde habe in großem Stil zugunsten von Asylbewerbern Verfahren manipuliert (Stichwort: "Abschiebe-Verhinderungs-Industrie"), und der, wie sich inzwischen herausstellte, keiner war, brachte alles ins Rollen. Nicht lange nach Bildung der Union-SPD-Regierung brach der neue CSU-Innen- und Heimatminister Seehofer unionsintern einen beispiellosen politischen Streit vom Zaun gegen die CDU-Kanzlerin über die "richtige" Regierungsmethode in der Asyl- und Migrationspolitik. Er trug auch pathologische Züge einer ausgetragenen persönlichen Fehde, so als hätte es den verschärfenden Vorlauf in der EU unter maßgeblicher Initiative von Merkel nicht gegeben. Doch offensichtlich reichte dies Seehofer und seiner CSU noch immer nicht. In Bayern steht die CSU vor dem (sicher verkraftbaren) "Abgrund" des abermaligen Verlusts der absoluten Mehrheit wie schon 2008 mit Umfragewerten im düsteren Keller von ca. 38 bis 40 Prozent bei der anstehenden Landtagswahl am 14. Oktober d. J. Die AfD wartet dagegen aus dem Stand mit einer deutlich zweistelligen Ergebnisprognose für sich auf. Dies dürfte der schmerzhaftere Stoß sein, den es aus Sicht der populistischen CSU auszuhalten gilt, rechts von sich eine extreme Partei groß werden zu sehen (zusehen zu müssen), was nach dem "heiligen" Wort des Franz-Josef Strauß aus dem Wahlkampf 1986 nie geschehen dürfte. Die CSU kann sich dennoch eher gelassen darauf einstellen, künftig vielleicht mit den Freien Wählern und Wählerinnen zu koalieren, die laut Umfragen bei 9-10 Prozent der Stimmen stehen, tummeln sich dort überwiegend doch nur enttäuschte und ausgetretene CSU-Funktionäre und Wähler*innen, die wissen, wie Macht in der CSU funktioniert. Ministerpräsident Söder bemüht sich derweil um ideologische Schadensbegrenzung und preist die CSU in seinen Verbalattacken gegen die AfD als die bessere rechte "Alternative" an.

CSU "rockt EU"

Mit einer ihn treibenden CSU-Spitze (Ministerpräsident Söder; Landesgruppenchef Dobrindt) im Rücken bzw. Nacken, setzte Seehofer in seinem politischen Amoklauf Merkel als Protagonistin der "Einheit der EU" massiv unter Druck und auf EU-Ebene unter ultimativen Zugzwang. Spätestens auf dem bevorstehenden EU-Gipfel am 28./29. Juni d. J. sollte sie zu einvernehmlichen Regelungen zu Asyl und Migration mit den europäischen Partnern im Sinne seines geheim gehaltenen "Masterplans Migration" gelangen, den nur Seehofer und Merkel offenbar kannten. Es half der Kanzlerin nichts, im Streit zu versichern, dass sie mit 62 ½ der 63 Einzelpunkte des Plans ohnehin übereinstimme. Der halbe Punkt war das Zünglein an der Waage, er betraf das reklamierte Vorrecht Seehofers, notfalls im nationalen Alleingang das Heft des Handelns zu ergreifen und Flüchtlinge direkt an der Grenze abzuweisen. Da dies die "Richtlinienkompetenz" der Kanzlerin unterminierte, konnte sie sich das nicht bieten lassen und verkündete ihrerseits, ein Mitglied ihres Kabinetts (ohne einen Namen zu nennen), das dieser Kanzlerinkompetenz zuwider handeln würde, müsse sie folglich entlassen. Da hatte Seehofer schon selbst mit seinem Rücktritt gedroht und zog sich durch Rücktritt vom Rücktritt aus der Affäre. Nachdem ihm einige wichtige Parteifreunde in München klausurmäßig arg ins christliche Gewissen geredet haben müssen, nicht so leichtfertig die Finger von der innenministeriellen Macht zu lassen. Vor allem CSU-Landesgruppenchef Dobrindt akzeptierte Seehofers Rücktrittsmanöver nicht. Ein vorzeitiger Abgang Seehofers hätte zudem die Koalition vermutlich gesprengt.

Mit seinem verwirrenden, man könnte auch sagen verantwortungslosen, "Rücktritts"-Spiel hatte Seehofer nicht nur die Union, sondern auch die Koalition an den Rand einer schweren Regierungskrise manövriert. Es konnte der SPD als bis dahin stiller, teilnehmender Beobachterin (SPD-Parteichefin Nahles gegenüber der Presse: "Ich kommentiere keinen Plan, den ich nicht kenne") nicht mehr genügen, als Zeichen der Präferenz für eine gemeinsame Europa-Lösung in der Migrationsfrage nur die Europa- statt der Deutschlandfahne auf dem Dach der Berliner Willy-Brandt-Parteizentrale zu hissen. Das demonstrative EU-Flagge zeigen bedeutete: Keine Lösung im Asylstreit im nationalen Alleingang, sondern nur in gemeinsamer EU-Abstimmung, womit die SPD Merkel den Rücken stärkte und keine Verfahren, die Flüchtlinge in lagerähnliche, geschlossene Verwahrung zwingen würde. Dazu legte die SPD noch einen eigenen Fünf-Punkte-Plan vor. Es gelang Merkel, in Brüssel mit 14 (16) der EU-Mitgliedsländer Absprachen und Zusagen über Entgegenkommen bei der Frage der Rücknahme von mehrfachen Asylantragstellern gemäß dem verpflichtenden Dublin-III-Abkommen zu erzielen, d.h. Rückführung in das EU-Land, wo der Asyl-Erstantrag gestellt wurde. (Anm.: Merkel hält inzwischen Dublin-III angesichts der Weigerung so vieler EU-Staaten, Flüchtlinge zurückzunehmen, nicht mehr für realistisch und praktikabel und nur noch auf freiwilliger Basis möglich!). Es folgten (als Gesamtergebnis die denkwürdigen Brüsseler Beschlüsse, die ein gemeinsames europäisches Vorgehen bei Asyl und Migration abstecken und im Einzelnen festlegen. Merkel gab dies als "wirkungsgleich" mit Seehofers und der CSU Forderungen aus und lenkte in einen Kompromiss mit Seehofer ein, der sich darauf nur unter Vorbehalt einließ und zunächst weiter meckerte und stichelte, bis er von sich aus den Streit deutungshoheitlich für beendet erklärte. In der CSU frohlockten einige wie Ludwig Thomas "Münchner im Himmel" und sprachen wie der Parteivize Manfred Weber davon, dass die CSU "Europa gerockt" und auf ihren Kurs eingeschworen habe. Der Publizist und Gründer des Politmagazins Cicero, Wolfram Weimer, meinte am 1.7. im ARD-Presseclub, die EU-Beschlüsse trügen eine Textur zwischen CSU und AfD, die EU habe die CSU rechts überholt.

Die Beschlüsse von Brüssel

I. Lager innerhalb Europas: EU-Länder sollen auf freiwilliger Basis Zentren errichten, in denen Flüchtlinge aufgenommen werden. In diesen Lagern soll entschieden werden, wer in Europa bleiben darf und wer nicht. Die Flüchtlinge mit sollen dann auch auf freiwilliger Basis von anderen EU-Staaten aufgenommen werden. In den vom EU-Rat veröffentlichten Beschlüssen wird von "kontrollierten Zentren" gesprochen, die es erlaubten, schnell und sicher zu unterscheiden zwischen irregulären Migranten, die zurückgeschickt werden und jenen mit internationalem Schutzbedürfnis.

II. Lager außerhalb Europas: Die Staats- und Regierungschefs fordern die EU-Kommission auf, schnell Konzepte regionaler Plattformen zu prüfen, "in enger Zusammenarbeit mit relevanten Drittstaaten sowie dem UNHCR und IOM". Diese Zentren in Drittstaaten sollen auf dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge aufnehmen, statt diese nach Europa zu bringen. Internationales Recht soll eingehalten werden. Allerdings ist noch unklar, wo diese Zentren entstehen sollen. So hatten sich die meisten Infrage kommenden Länder bereits im Vorfeld gegen eine solche Lösung ausgesprochen.

III. Asylbewerber innerhalb Europas: Bei der Vermeidung der sog. Sekundärmigration von Flüchtlingen innerhalb Europas heißt es im Abschlussdokument, diese gefährde das gemeinsame europäische Asylsystem und die Schengenerrungenschaften. Die EU-Staaten sollten deswegen internationale Maßnahmen ergreifen und außerdem eng zusammenarbeiten, um dies zu verhindern.

IV. EU-Außengrenzen sichern: Die Grenzschutz-Behörde Frontex soll besser aufgestellt und mit einem stärkeren Mandat ausgestattet werden, um die Außengrenzen Europas besser zu schützen. Für die Außengrenzensicherung sollen die Hilfen für die Sahel-Region und die libysche Küstenwache aufgestockt werden. Andere Schiffe im Mittelmeer sollen die Arbeit der libyschen Küstenwache nicht behindern, heißt es in den Beschlüssen.

V. Gelder für Aufnahmestaaten: Der Europäische Rat gab eine zweite Tranche über 3 Milliarden Euro frei, die der Türkei für die Aufnahme syrischer Flüchtlinge zugesagt wurde. Auch einigten sich die EU-Staaten auf den Transfer von 500 Millionen Euro aus dem EU-Entwicklungsfonds in den Treuhandfonds für Afrika. In der Erklärung wird die Notwendigkeit einer intensiveren Zusammenarbeit mit afrikanischen Staaten u. a. bei der Bekämpfung von Flüchtlingsursachen durch Stärkung von Bildung, Gesundheitswesen, Innovation, Infrastruktur und guter Regierungsführung betont. (Zusammenfassung des Tele-Textes MDR-Hintergrund v. 17.7.2018).

Ein "Tor zu Europa"?

In der EU wird ein Streit ausgetragen über die Art und Weise der Handhabung von Asyl und Migration. Auf der einen Seite stehen die Pro-EU-Länder, die wenigstens den Rahmen rechtsstaatlichen Vorgehens wahren und das Asylrecht nicht ganz aufgeben, aber klar verschärfen wollen. Dazu zählen etwa Spanien, Frankreich, die Beneluxstaaten Belgien und Luxemburg und Deutschland. Auf der anderen Seite formieren sich (wenig einig) Staaten wie die Niederlande und Dänemark, wo konservative Parteien in Koalitionen mit rechtspopulistischen Partnern unter Druck stehen. Dazu gesellen sich die grundsätzlich migrationsfeindlichen Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, die ohnehin so gut wie nie Flüchtlinge aufnahmen und nun im rechten Konzert mit diesen auch Österreich und Italien. Die rechtsnationale österreichische ÖVP-FPÖ-Regierung unter Kanzler Kurz hat für Österreich seit dem 1. Juli für ein halbes Amtsjahr auch den EU-Ratsvorsitz inne, was Kurz zwar etwas bremsen dürfte, aber nicht davon abhält, weiter eine harte Haltung contra Asyl und Migration einzunehmen. Kurz wird am 20. September in Salzburg Gastgeber des nächsten EU-Gipfels zu Flüchtlingen sein. Im bisher eher flüchtlingsfreundlichen, liberalen Schweden ist bei den Parlaments-Wahlen vom 9. September ein Abschneiden der rechten Schweden-Demokraten zu verzeichnen als drittstärkster Kraft knapp hinter den konservativen Moderaten (19,8 %) und noch deutlich hinter den mit den Grünen bisher koalierenden Sozialdemokraten, die 28,3 % erhielten. Doch die im Ergebnis erzielten 17,7 Prozent der Rechtspartei reichen aus, eine Fortsetzung der rot-grünen Regierung zu blockieren. Die Selbstblockade der EU hat zu "Lösungen" geführt, die nur einen scheinbaren Ausweg aus dem hoch gepuschten "Flüchtlings-Dilemma" bieten und die Probleme lediglich verlagern Dadurch werden die EU-Außengrenzen faktisch nur weiter nach Süden jenseits des Mittelmeers verlegt, wo die EU in der Sahel-Zone einen neuen unsichtbaren "Schutzwall" errichtet. Die ergriffenen Maßnahmen und mit einzelnen afrikanischen Ländern der Region getroffenen politischen Absprachen und wirtschaftlichen Vereinbarungen werden von Kanzlerin Merkel nur allzu gerne auch unter dem Label der "Bekämpfung von Fluchtursachen" verkauft. Tatsächlich ist es wohl so, wie es die Präsidentin der evangelischen Hilfsaktion "Brot für die Welt", Cornelia Füllkrug-Wetzel, unlängst formulierte: "Vieles von dem, was an Fluchtursachenbekämpfung verkauft wird, ist in Wirklichkeit Flüchtlingsbekämpfung." (ARD-Tagesschau, 9.8.).

Die Europäische Union als Nachfolgerin von Europäischer Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und Europäischer Gemeinschaft (EG), die für das einigende Friedenswerk in Europa nach 1945 2012 noch den Friedensnobelpreis verliehen bekam, hat in der aktuellen Flüchtlingskrise auf breiter Linie versagt und macht sich täglich mitschuldig am Tod vieler Flüchtlinge. Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa wurde im Gedenken an die vielen Ertrunkenen von 2013 ein übergroßes Steinmonument in Form eines Rundbogens errichtet, das den Namen "Tor zu Europa" erhielt. Es ist inzwischen zum Mahnmal gegen eine Festung Europa geworden.

EK/HB, 11.9.2018


Literatur/Quellen, u. a:

ARD-Monitor-Dokumentation "Grenzen dicht!" (2018)

BBC-Dokumentation "Afrikas Flüchtlinge" (2018)

Teletext-Seiten verschiedener Sender des öffentlich-rechtlichen Fernsehens

Interview in WDR 5 am 25.7. mit dem "Lifeline"-Kapitän Claus Uwe Reisch, in: SoZ Nr.9 / September 2018, S. 5

Rolf Hofmeier und Andreas Mehler (Hg.): Kleines Afrika-Lexikon. Politik - Wirtschaft - Kultur. München 2004.

Rote Fahne. Magazin der MLPD, Nr. 15, 20. Juli 2018, Schwerpunkt: Masterplan für eine kämpferische und fortschriftliche Flüchtlingspolitik, S. 12-29

SoZ, Sozialistische Zeitung, Nr. 9, September 2018 (Schwerpunkt: Flucht, S. 15-18)

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 201 - Herbst 2018, Seite 11 bis 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2018

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