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ARBEITERSTIMME/385: Kapitalistischer Internationalismus - Die Europäische Union


Arbeiterstimme Nr. 204 - Sommer 2019
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Kapitalistischer Internationalismus - Die Europäische Union


In der jüngeren Vergangenheit hat die ARSTI sich relativ wenig mit der EU und den damit zusammenhängenden Fragen befasst, dies gilt es nachzuholen. Ein Beitrag in diesem Heft bringt eine Darstellung der Entstehung und eine Analyse der wichtigsten Charakteristika der EU. Der zweite Beitrag diskutiert die von linker Seite vorgeschlagenen Strategien für den Umgang mit der EU und legt zu dieser Frage eigene Eckpunkte vor.

Das Thema EU ist sehr vielschichtig. In den zwei Artikeln können nicht alle damit zusammenhängenden Aspekte ausführlich dargestellt werden. Einige wichtige Punkte werden nur sehr kurz angesprochen. Im Text wird jeweils auf solche Lücken in der Darstellung hingewiesen.


Vorgeschichte, frühe utopische Konzepte und Ideen

Wenn man so will, hat die EU eine lange Vorgeschichte. Erste Vorschläge für ein vereintes Europa gehen bis auf das 17. Jahrhundert zurück. Verschiedene Autoren haben dazu meist vage Ideen vorgelegt. Das Hauptmotiv dieser Autoren war der Wunsch einen dauerhaften Frieden in Europa zu sichern.

Auch in der Arbeiterbewegung wurde bereits vor dem 1. Weltkrieg über ein vereintes Europa diskutiert. Während des Krieges, auf der Zimmerwalder Konferenz von 1915, lag ein von Trotzki mitverfasstes Manifest vor, das die Notwendigkeit der "Vereinigten Staaten von Europa" begründete. (Lenin und Luxemburg äußerten sich übrigens kritisch zu solchen Vorstellungen.)

Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Konzepte dann etwas konkreter. Graf von Coudenhove-Kalergi, ein Adeliger aus Österreich, veröffentlichte 1924 das "paneuropäische Manifest" und gründete die Paneuropa Union. Diese Paneuropa Union gibt es auch heute noch. Sie ist jetzt ziemlich weit rechts verortet, damals, also 1924, wurde sie aber vom eher fortschrittlichen Bürgertum, von Liberalen und auch von einigen Linken unterstützt. Ein Unterstützer war auch Aristide Briand, der mehrmaligen französische Ministerpräsident und Außenminister, der selbst 1930 eine Denkschrift "Über die Errichtung einer Europäischen Union", wie der übersetzte Titel lautet, veröffentlichte.

In ihrem Heidelberger Programm von 1925 schrieb die SPD: "Sie", also die SPD, "tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarität der Völker aller Kontinente zu gelangen." Dieser Satz, ohne weitere Ausführungen und Erklärungen, findet sich im Abschnitt "Internationale Politik", neben 6 weiteren Forderungen z.B. zur Abrüstung, gegen koloniale Ausbeutung und Demokratisierung des Völkerbunds.

Zusammenfassend kann man feststellen. Es existierten diverse Ideen über einen Zusammenschluss in Europa. Solche Vorstellungen speisten sich aus mehren Quellen und fanden in verschiedenen Gesellschaftsschichten und bei verschiedenen politischen Richtungen eine gewisse Anerkennung und Zustimmung. Realpolitik war es aber nicht.


Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg

Das änderte sich nach dem 2. Weltkrieg. Bereits kurz nach Beendigung des Krieges gab es entsprechende Aktivitäten. Am bekanntesten davon ist vielleicht die Rede von Winston Churchill (er war damals nicht Ministerpräsident sondern Oppositionsführer) am 19. September 1946 an der Universität in Zürich, in der er von den "United States of Europe" sprach, die anzustreben seien. Es wurden mehrere Vereinigungen gegründet die sich diesem Ziel widmeten z.B. die "Union der Europäischen Föderalisten" 1946, oder die "Europäisches Bewegung International", 1948. Eine weitere, wichtige Organisation war das "American Committee for a United Europe" (Amerikanisches Komitee für ein vereintes Europa, ACUE). Es wurde 1948 gegründet und war bis in die 60ger Jahre aktiv. Bei der Gründung wirkte Coudenhove-Kalergi als Ratgeber mit. Geschäftsführer des ACUE war William J. Donovan, ein ehemaliger Geheimdienstler und sein Stellvertreter kein geringere als der damalige CIA Chef Allen Welsh Dulles (der Bruder des US Außenminister John Foster Dulles). Die ACUE wurde aus US-Haushaltsmitteln finanziert, daneben auch vom amerikanischen Kapital (z.B. Rockefeller Stiftung). Man muss keiner Verschwörungstheorie anhängen, um dieser Organisation einen erheblichen Einfluss als Anreger, Koordinator und besonders als Quelle von finanziellen Mitteln zuzusprechen. Finanziell unterstützt (und beraten) wurde zum Beispiel die "Union Europäischer Föderalisten" an der auch Robert Schuman und Paul-Henri Spaak führend beteiligt waren. 1948 fand in Den Haag die erste "European Conference on Federation" unter dem Vorsitz Winston Churchills statt. An der Konferenz nahmen Parlamentarier aus den 16 Staaten teil, die Empfänger des Marshallplans waren. Von der Konferenz ging die Gründung des Europarat (1949) aus und man arbeitet bereits am Entwurf einer Verfassung für die "Vereinigten Staaten von Europa".

In der Realität ging es dann doch nicht ganz so schnell mit den Vereinigten Staaten von Europa, aber es kam bald zu konkreten Schritten mit der Gründung der Montanunion und dann der EWG (für Details siehe Kasten).

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Europäische Zusammenarbeit

die frühe Phase, die Formierung des westlichen Blocks

- 3.4.1948: Verabschiedung des Marshallplan im US Kongress, Laufzeit bis Juni 1952

- 5. Mai 1949: Gründung des Europarates.
Gründungsmitglieder: Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Schweden und das Vereinigte Königreich,
Beitritte: 1949 Griechenland, Türkei, 1950 BRD, 1956 Österreich, 1963 Schweiz, 1976 Portugal, 1977 Spanien; inzwischen sind praktisch alle Staaten Europas Mitglieder.

- 1949 Gründung der NATO - Gründungsmitglieder: Belgien, Dänemark, Frankreich, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Vereinigtes Königreich, Vereinigte Staaten.
Beitritte: 1952 Griechenland, Türkei, 1955 BRD, 21.9.82 Spanien

- Mai 1950: Präsentation des Schuman-Plans, Vorschlag für eine Montanunion

- 24.10.1950 Pleven Plan - Vorschlag für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG)

- April 1951: Unterzeichnung des Vertrags zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion), durch Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, BRD und Italien.

- 27.5.1952 Unterzeichnung des EVG Vertrags, geplant war eine gemeinsame Armee der beteiligten Staaten (Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, Italien, BRD), alle militärischen Kräfte der BRD sollten in der gemeinsamen Armee integriert sein, die anderen Staaten können auch nicht-integrierte nationale Kontingente unterhalten.

- Juli 1952: Inkrafttreten des Vertrags zur Montanunion

- 30.8.1954 Ablehnung der Ratifikation des EVG Vertrags durch das französisches Parlament, Scheitern der EVG

- 23.10.1954 Pariser Verträge, zwischen Frankreich, Großbritannien, USA und BRD, Teilsouveränität für die BRD, Beschluss zur Wiederbewaffnung der BRD und Aufnahme in die NATO

- 9.5.1955 bundesdeutsche Ratifizierung der Pariser Verträge, Vollzug des NATO Beitritts der BRD

- 25. März 1957: Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM)
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Damit war die Situation eine völlig andere als die vor dem Krieg. Vor dem Krieg fanden die Befürworter einer europäischen Einigung keinen Zugang zur praktischen Politik. Jetzt wurde dieses Thema ein Teil der Realpolitik. Das bedarf einer Erklärung. Die weltpolitischen Situation hatte sich fundamental geändert. Mit der sich immer deutlicher und im Zeitverlauf immer schneller herausbildende Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion formierten sich neue Bündnisse und Blöcke. Die USA, als neue Führungsmacht, formulierten ihre Ziele für den unter ihren Einfluss stehenden Teil Europas: Wiederaufbau nach den Zerstörungen des Krieges und Stabilisierung der Verhältnisse im Sinne der westlichen, antikommunistischen Blockbildung. Zur Förderung des Wiederaufbau diente der Marshallplan. Die Gelder des Marshallplan waren mit der Forderung nach Ausbau einer europäischen Kooperation und der Förderung des freien Handel verbunden. Bald spielte in diesen Plänen die Einbeziehung Deutschlands eine wichtige Rolle. Einbeziehung war dabei auch unlösbar mit dem Ziel der Kontrolle durch Einbindung verknüpft.

Von Anfang war die Frage der wirtschaftlichen Kooperation eng mit der militärischen Zusammenarbeit verbunden. Nach dem Scheitern der EVG und der dann folgenden Wiederbewaffnung der BRD im Rahmen ihrer Aufnahme in die NATO, hat sich die bis heute im wesentlichen erhaltene Arbeitsteilung in EWG, EG, EU als hauptsächlich wirtschaftliche und zivile Veranstaltung und NATO, zuständig fürs militärische, herausgebildet.

Obwohl ständig von den "Vereinigten Staaten von Europa", von europäischer Zusammenarbeit und ähnlichem die Rede war, führte die zunehmende Konfrontation im Kalten Krieg in der Realität zu einer Teilung Europas. Dazu gehörte auch die Entscheidung der BRD für die klare "Westorientierung" und das Nichteingehen auf ein eventuell vereintes, aber neutrales und vielleicht auch nicht eindeutig kapitalistisches Deutschland. Die Einbeziehung der BRD in und die Nutzung ihrer Ressourcen für die westlichen wirtschaftlichen und militärischen Bündnisse ist ein ganz wesentliches Moment der Nachkriegsordnung.

Die Propaganda für die europäischen Zusammenarbeit, für ein vereintes Europa war ein Teil des ideologischen Überbaus und diente zur Verfestigung des westlichen, antikommunistischen Blocks. Dabei wurde bewusst an die utopischen Vorstellungen der Vorkriegszeit angeknüpft und auf ein nicht kompromittiertes Ziel hin orientiert. Das Vereinte Europa war die freundlich und fortschrittlich klingende Vision, der gemeinsame Markt sollte die Basis für die weitere kapitalistische Entwicklung sein.

Praktisch alle führenden Politiker haben relativ schnell diese Linie akzeptiert. Ein Konsens der länderübergreifend und auch parteienübergreifend war (bei den westlich, bürgerlichen, antikommunistischen Parteien). Bei allen Unterschieden, die bei sonstigen Themen bestanden und natürlich auch zu Einzelheiten in der Europa-Frage, bestand Einigkeit über das Ziel einer Öffnung der Märkte und darüber hinaus einer engen staatlichen Zusammenarbeit. Dieser Konsens wurde von der eindeutig dominierenden Führungsmacht USA angeregt, unterstützt und orchestriert. Europa, als eventuell konkurrierender Block zu den USA, stand damals überhaupt nicht zur Debatte und wäre auch völlig unrealistisch gewesen.

Als entscheidend für die weitere Entwicklung der Nachkriegszeit muss man den starken wirtschaftlichen Aufschwung, der spätestens mit den 50er Jahren einsetzte, betrachten. Die Prosperität des Kapitalismus im Zuge des Nachkriegsbooms ermöglichte eine weite Verbreitung von Massenwohlstand und damit eine Stabilisierung des Nachkriegssystem. Die allmähliche Etablierung eines gemeinsamen Marktes hat sicher die kapitalistische Prosperität unterstützt. Aber die wichtigste Ursache dafür liegt nicht in der europäischen Zusammenarbeit und deren Institutionen. Es gab ja nicht nur das deutsche "Wirtschaftswunder", sondern auch ein österreichisches (war damals nicht in der EWG) und z.B. auch ein spanisches "Milagro Espanol" (spanisches Wunder, damals auch nicht in der EWG) und mehr oder weniger vergleichbare Entwicklungen außerhalb Europas wie z.B. in Japan oder auch in den USA selbst.

Trotz dieses günstigen wirtschaftlichen Umfelds hat sich die Realisierung der europäischen Projekts als schwierig und kompliziert herausgestellt. Die EVG ist gescheitert, weil die Bereitschaft Souveränität aufzugeben, nicht so ausgeprägt war, um gerade beim sensiblen Thema Militärwesen damit zu beginnen. Auch die Entwicklung der EWG erfolgte oft sehr zäh. Als Stichpunkte dazu sollen das Veto De Gaulles gegen die Neuaufnahme von Großbritannien 1961, und seine zeitweise praktizierte Politik des leeren Stuhl bei den europäischen Institutionen (1965 bis 66) genannt werden. Oder man denke an die Mühen mit der gemeinsamen Agrarpolitik (Mitte der 70er Jahre wurden fast 90% der EWG Mittel dafür aufgewendet, obwohl die reale Bedeutung der Landwirtschaft gemessen als Anteil der dort Tätigen oder am Anteil des BIP ständig im Sinken war).

Aber, die EWG erwies sich als Erfolgsmodell. Sie hat neue Mitglieder aufgenommen, die Integration vertieft und neue Politikfelder in die gemeinschaftliche Zuständigkeit überführt. Alternativorganisationen, wie etwa die EFTA, konnten sich nicht wirklich behaupten. Die Besonderheit der EWG/EG bestand im Gegensatz etwa zur EFTA von Anfang an darin, dass sie eigene supranationale Institutionen aufbaute und diese im Laufe der Zeit stärkte. Damit verbunden war jeweils eine Souveränitätsübertragung von den Mitgliedsstaaten auf die Gemeinschaft. Dies ist bemerkenswert, weil über die langfristige Zielsetzung des Einigungsprozess (die sogenannte Finalitätsfrage, z.B. Bundesstaat oder Staatenbund) nie eine verbindliche Übereinkunft getroffen wurde, ja nicht einmal ein informeller Grundkonsens aller Beteiligten hergestellt werden konnte.

Das europäische Projekt wurde unter Anleitung und (sanften) Druck der USA gestartet, zuerst um die europäischen Verbündeten zu stabilisieren. Durch den Nachkriegsboom dehnte sich das Wirtschaftsvolumen insgesamt aus, so dass für fast alle der Kuchen größer wurde. Deshalb führte der sich herausbildende gemeinsame Wirtschaftsraum zuerst einmal nicht zu einer starken Verschärfung der Konkurrenz. Das ursprüngliche Ziel Wiederaufbau wurde abgelöst durch neue Ziele, die deutlich über das Niveau der Vorkriegszeit hinausgingen. Im Laufe der Entwicklung konnten sich die europäischen Kapitale entfalten. Die Abhängigkeit von den USA wurde ökonomisch und politisch allmählich reduziert. Selbstverständlich gab es auch außerhalb Europas erhebliche politische und wirtschaftliche Veränderungen, die hier nicht alle dargestellt werden können. Beispielhaft soll nur der Zusammenbruch des Währungssystem von Bretton Woods genannt werden.


Die EU nach 1989

Die Auflösung des "Ostblock" und der Sowjetunion ab November 1989 bedeutete für die EG einen erheblichen Einschnitt. Es stellten sich neue Fragen, für die eine Antwort gefunden werden musste. Ähnlich wie der beginnende Kalte Krieg das Projekt "Europäische Einigung" stark beeinflusst hat, hat auch das Ende des Kalten Krieges erheblichen Wirkung entfaltet. Das politische Umfeld der EG/EU hat sich wesentlich geändert. Zur Debatte stand, eventuell, eine "Neuerfindung" der EU.

In diesen Zusammenhang wurden folgende grundsätzliche Entscheidungen getroffen:

Die EG bleibt in ihrer Grundstruktur erhalten, unternimmt aber weitere Schritte in Richtung einer Vertiefung der Zusammenarbeit. Der bedeutendste Schritt ist dabei die Einführung einer gemeinsamen Währung. Nach Außen wird diese Entwicklung in der Umbenennung von EG zu EU zum Ausdruck gebracht.

In diese EU werden viele neue Mitglieder aufgenommen.

Weitgehend, wenn auch nicht vollständig, parallel dazu erfolgt die Aufnahme der gleichen Länder in die NATO.

Die "Neuerfindung" lief also auf ein einen weiter so, aber mit vertiefter Zusammenarbeit, hinaus. Alle beitretenden Länder mussten die bestehende EU mit ihren Strukturen akzeptieren. Eine Anpassung an die vielen neuen Mitglieder fand praktisch nur in Bezug auf den Ausbau von Mehrheitsentscheidungen statt.

Die Absicht zur Vertiefung führte konkret zum Vertrag von Maastricht (1992) in dem die Ausdehnung der Gemeinschaftszuständigkeit auf Umweltpolitik, Einwanderung und Asylrecht, Gesundheit und Drogenbekämpfung festgelegt wurde und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) gestartet wurde. Mit Maastricht eng verknüpft ist das Vorantreiben der Einführung des Euro (zum 1.1.1999 als Buchgeld, 2002 auch als Bargeld). Diese Schritte wurden vor allem von Kohl und Mitterand vorangetrieben. Dem Vernehmen nach, war diese Vertiefung und die Einführung einer gemeinsamen Währung mehr oder weniger die Bedingung von Mitterand für die Zustimmung zur deutschen Vereinigung. Es ging also auch hier wieder, wie bereits ganz zu Beginn, um eine Einhegung von Deutschland im europäischen Verbund.

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Chronik der Beitritte

- März 1957: Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM); Gründungsmitglieder: Frankreich, Belgien, BRD, Italien, Luxemburg, Niederlande

- 1961 erstes Aufnahmegesuch von Großbritannien und Dänemark, Veto De Gaulles

- 1967 zweites Beitrittsgesuch - Widerstand De Gaulles. Nach Rücktritt De Gaulles (1969) Initiative der EG zur Erweiterung und daraufhin

- Januar 1973: EG-Betritt von Großbritannien, Irland und Dänemark, Norwegen tritt wegen eines negativen Referendums nicht wie geplant bei, Grönland als autonomer Teil Dänemarks tritt 1985 wieder aus

- Januar 1981: Beitritt Griechenlands

- Januar 1986: Beitritt Spaniens und Portugals

- 3. Oktober 1990: Deutsche Vereinigung und damit Beitritt der neuen Bundesländer und Ost-Berlins zur EG

- 1. Januar 1995: Beitritt von Schweden, Finnland und Österreich (in Norwegen 1994 wieder ein ablehnendes Ergebnis im Referendum)

- Januar 2004: große EU-Osterweiterung, Beitritt von Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Slowenien, Lettland, Litauen, Estland, Malta und Zypern

- Januar 2007: Beitritt von Rumänien und Bulgarien

- Juli 2013: Beitritt von Kroatien

- Juni 2016: Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union in Großbritannien mit dem Ergebnis pro Austritt (51,89%, Beteiligung 72,2%)

- ? Austritt Großbritanniens aus EU

- Offizielle Beitrittskandidaten sind zur Zeit:
Türkei, seit 1999 Kandidat, seit 2005 Verhandlungen, deren Abschluss allerdings fraglich sind
Montenegro (seit 2010)
Serbien (2012)
Albanien (2014)
Nordmazedonien (seit 2005, Verhandlungen waren wegen des Namensstreit mit Griechenland blockiert, nach der Umbenennung in Nordmazedonien sind Verhandlungen noch nicht wieder aufgenommen)
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Dann war noch geplant die Europäischen Union durch eine Europäische Verfassung zu krönen. Dazu wurde ein Vorschlag vom europäischen Konvent erarbeitet, dieser wurde 2004 von allen Mitgliedern unterzeichnet und sollte 2006 in Kraft treten. Aber in Frankreich und den Niederlanden wurde die Ratifizierung 2005 durch Volksabstimmungen abgelehnt. Als Ausweg aus dieser Sackgasse wurde stattdessen 2007 der Vertrag von Lissabon abgeschlossen. (Formaljuristisch ändert dieser die bestehenden Verträge, aber ersetzt sie nicht wie die Verfassung das getan hätte. Durch diese formalistische Argumentation konnten weitere Volksabstimmungen umgangen werden. Inhaltlich bleiben die Vorschläge der Verfassung aber weitgehend erhalten.) Dieser Vertrag ist das heute maßgebende Dokument für die EU.


Die EU heute, Charakteristika und Probleme

Durch die Erweiterungen hat sich die Heterogenität in der EU stark vergrößert. Das betrifft sowohl die materielle Basis, also die ökonomische Situation der einzelnen Mitglieder, als auch die politischen Verhältnisse und Traditionen. Die Interessen sind vielseitiger geworden, auch die Art wie sie sich organisieren und in der politischen Sphäre zum Ausdruck gebracht werden.

Es gibt heute mindesten drei "Gruppen", der "Nordwesten" (hier konzentrieren sich die EU-weit und international konkurrenzfähigen Kapitale, man legt Wert auf geringe Staatsdefizite), der "Süden" (schwächere Wirtschaftskraft, weniger konkurrenzfähig, Neigung zu größeren Staatsdefiziten) und der "Osten" mit ganz eigenen Interessen und Politikstilen. Eine Besonderheit der osteuropäischen Länder liegt darin, dass sie nach Ende des Realsozialismus keine etablierte Kapitalistenklasse aufweisen konnten. In der Folge wurden sehr viele Bereiche (Industrie, Banken, Handel) von ausländischen Kapital übernommen. Damit ist eine große Zone mit abhängigen Kapitalismus in der EU entstanden. Zusätzlich gibt es innerhalb dieser Länder starke Unterschiede im ökonomischen Entwicklungsstand, etwa zwischen Tschechien einerseits und Rumänien/Bulgarien andererseits. (Auf eine ausführlichere Untersuchung der östlichen Mitglieder und ihrer Bedeutung für die EU muss hier verzichtet werden, genauso wie auf die Darstellung des Verhältnis der EU zur Ukraine und zu Russland.)


Scheitern der gemeinsamen Asylpolitik

Die Blockade der EU in der Migrations- und Flüchtlingspolitik ist ein Beispiel für die spezielle Positionierung der osteuropäischen Länder. Durch ihre strikte Weigerung Migranten aufzunehmen, wird die angeblich gemeinschaftliche Asylpolitik untergraben. Der Anspruch der EU als Problemlöser aufzutreten, wird als Unfähigkeit bloßgestellt.


Die Folgen der Euro Einführung

Die Einführung des Euro verlief technisch reibungslos und die neue Währung konnte sich einen respektablen Platz unter den kapitalistischen Währungen erobern und behaupten. Der Euro hat das Währungsrisiko unter den beteiligten Ländern ausgeschaltet und gewiss auch die Schwankungen zu den anderen Währungen, insbesondere den Dollar, wegen seines viel größeren Gewichts limitiert. Aus dieser Sicht kann man den Euro durchaus als Erfolg werten. Allerdings gibt es auch eine Problemseite. Die Einführung des Euro war als eine Vertiefung der Integration gedacht (oder wurde zumindest so angekündigt). Aber die Einheitswährung löste keine (quasi automatische) Angleichung der Verhältnisse über den Markt aus. In der Realität wurde durch die gemeinsame Währung die unterschiedliche ökonomische Stärke der Länder weiter verstärkt anstatt abgebaut. Ein deutliches Zeichen dafür sind die Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen, großen Exportüberschüssen, besonders von Deutschland, stehen logischerweise Leistungsbilanzdefizite bei anderen Ländern gegenüber. Eine gemeinsame Währung für einen disparaten Wirtschaftsraum ist aber ein Problem. Sie lässt nur eine gemeinsame Geld- und Zinspolitik zu, obwohl für einzelne Mitglieder der Währungsunion eine Differenzierung sinnvoll und notwendig wäre. Von dem vollzogenen Schritt, der Einführung des Euro, geht deshalb ein gewisser Druck aus, weitere Vereinheitlichungen des betroffenen Wirtschaftsraum folgen zu lassen. Finanztechnisch ist das durch die sogenannte "Europäische Bankenunion" von 2014, die die EZB als zentrale Bankenaufsicht einsetzt und einen einheitlichen Bankenabwicklungsmechanismus festlegt, teilweise schon geschehen. Erforderlich wäre aber neben der rechtlich, formalen Seite auch eine größere materielle Gleichheit, das heißt entweder eine reale Angleichung der Ökonomien der Euro-Länder und/oder ein finanzieller Transfer von den starken in die schwachen Länder, gewissermaßen analog zum Finanzausgleich zwischen den deutschen Bundesländern. Es gibt Anzeichen dafür, dass auch einflussreiche Regierungen in der EU diese Problematik erkannt haben und zu einem gewissen Gegensteuern bereit sind (z.B. kann man die Vorschläge von Macron so sehen, eine genauere Analyse dieser Vorschläge kann hier leider nicht erfolgen). Allerdings ist unklar, was davon umgesetzt wird und es gibt starke Widerstände gegen eine solche Politik. Die Alternative zu einer Angleichung ist ein bewusstes Hinnehmen der Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen und deren weiteres Anwachsen. Auf Dauer wäre das ökonomischer und politischer Sprengstoff und Basis für neue Krisen. Klar ist, dass sich der Euro nur technisch, durch sein Vorhandensein und der Schwierigkeit und der Risiken einer Rückabwicklung als Klammer für die Zusammenhalt der EU erwiesen hat. Ökonomisch und sozial ist er bis jetzt ein Spaltpilz.


Die Stellung Deutschlands: Führungsmacht, Hegemon oder?

Es wurde schon mehrmals darauf hingewiesen, dass die Einhegung Deutschlands ein wesentliches Motiv bei der Schaffung der gemeinschaftlichen Strukturen war. Sogar bei der Einführung des Euro soll dies noch eine Rolle gespielt haben. Letztlich ist aber Deutschland die stärkste Kraft in der EU geworden. Gegen einen deutschen Widerspruch geht praktisch nichts. Allerdings ist die Vormachtstellung nicht so stark, dass Deutschland die EU allein dominieren könnte. Es braucht dazu Verbündete. Diese Aussage bezieht sich nicht nur auf die formale Seite, also auf Abstimmungen im EU-Rat, bei denen jeweils eine Mehrheit organisiert werden muss. Deutschland kann nur dann als Führungsmacht auftreten, wenn es auch die allgemeinen Interessen aufgreift und vertritt. Hegemonie bedeutet, normalerweise, nicht extrem einseitiges Agieren, sondern das Finden einer Balance. Im Allgemeinen war sich die deutsche Politik dessen bewusst und pflegte einen vorsichtigen Politikstil. In jüngerer Zeit gibt es aber Anzeichen, dass versucht wird die eigenen Interessen härter durchzusetzen. Insbesondere wenn es, aus deutscher Sicht, um Kerninteressen geht, wie etwa bei der Verteidigung der starken Exportposition (innerhalb und außerhalb der EU), die Durchsetzung von ausgeglichenen Staatshaushalten bzw. strikte Austeritätspolitik bei Krisen und die Ablehnung von weiteren Transfers innerhalb der EU.


Demokratiedefizit

Die Kompetenzen des EU Parlament wurden mehrmals erweitert. Aber sie haben immer noch nicht das erreicht, was bei Parlamenten in demokratischen Staaten üblich ist.

Das beginnt das mit dem Wahlmodus, zur Zeit zählt nicht jede Stimme gleich. Die kleinen Länder sind überproportional vertreten. Die Zahl der Sitze ist letztlich ausgehandelt. Es gibt keine Formel die die Zahl der Sitze z.B. nach Bevölkerungsgröße errechnet.

Und dem Parlament fehlen wichtige Rechte, insbesondere das Budgetrecht und das Recht die Exekutive, also die EU-Kommission, wirklich zu bestimmen.

Durch die Art der Entscheidungsfindung in der EU wird die politische Substanz der zu entscheidenden Fragen eher verschleiert als offengelegt. Generell ist der Rat, das heißt die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister, das bestimmenden Gremium. Die eigentliche Arbeit bei der Vorbereitung von Verordnungen (= Gesetzen) findet in etwa 150 Arbeitsgruppen statt. In diesen Arbeitsgruppen beraten Beamte aus den Fachministerien der Mitgliedsländer über die Vorschläge der Europäischen Kommission, die allein das formale Recht der Gesetzesinitiative hat.

Zuerst muss sich jede Regierung der Mitgliedstaaten intern auf eine Position einigen, was je nach Konstellation und gegebener Koalition schon sehr schwierig sein kann. Dann wird diese Position mit den anderen Regierungen verhandelt, mit entsprechenden Zugeständnissen und Gegengeschäften, die natürlich auch Thema übergreifend sein können. Die Arbeitsgruppen und auch der Rat der Minister bzw. Regierungschefs, die dann letztlich die Beschlüsse fassen, tagen grundsätzlich geheim. Es gibt keine öffentlich einsehbaren Protokolle oder ähnliches. Offiziell veröffentlicht werden nur die Beschlüsse, nicht aber die Argumentation, die Taktik der Verhandlung, begleitende Absprachen etc. Dieses etwas undurchsichtige Verfahren bietet den zahlreich vorhandenen Lobbygruppen günstige Möglichkeiten auf den Gang der Dinge einzuwirken. Der, oft mühsam, im Rat gefundene Kompromiss muss zwar, in vielen aber nicht allen Fällen, noch vom EU Parlament behandelt und gebilligt werden. Meistens ist das Parlament aber nicht in der Lage das im Rat verhandelte Paket noch einmal aufzuschnüren. In der Öffentlichkeit werden Entscheidungen oft nach dem Muster wahrgenommen: Deutschland (oder Frankreich oder die Südländer etc.) hat/haben sich durchgesetzt oder nachgegeben. Die Entscheidungsfindung wird also (mit einen gewissen Recht) als Konkurrenz zwischen Staaten und nicht als Konkurrenz von politischen Richtungen wahrgenommen.

Die Art wie in der EU Entscheidungen getroffen werden ist für viele nicht mehr durchschaubar. Dementsprechend entsteht der Eindruck von übermächtiger Bürokratie und von Einmischung von Anderen/Fremden in die eigenen Angelegenheiten und von einer diffusen Abhängigkeit von "Brüssel". Richtig ist auch, dass Politiker verschiedener Couleur (oft die deklarierten EU-Freunde) sich aus durchsichtigen opportunistischen Gründen hinter der EU verstecken. Regelungen, an denen ihre Partei und ihre Regierung aktiv mitgewirkt hat, werden als Vorgabe von "Brüssel" dargestellt. Es wird verschwiegen, wer diese Regelung betrieben hat und warum er dies gemacht hat.


Festschreibung Neoliberaler Hegemonie

Seit dem Vertrag von Maastricht und spätestens seit dem Lissabonner Vertrag, der ja sozusagen die Verfassung der EU darstellt, ist ein klares neoliberales Wirtschaftsmodell die Handlungsgrundlage der EU.

Die Basis bilden die vier, bereits in den Römischen Verträgen als Ziele deklarierten vier Grundfreiheiten. Das sind die
• Kapitalverkehrsfreiheit
• Warenverkehrsfreiheit
• Dienstleistungsfreiheit
• Personenverkehrsfreiheit.

Relevant ist dabei besonders, wie diese Freiheiten inzwischen vom Europäischen Gerichtshof interpretiert werden, nämlich nicht mehr als Ziele, sondern als Grundrechte, die von einzelnen einklagbar sind.

Weitere neoliberale Festschreibungen im EU Recht sind
• das Beihilfeverbot (sprich das Verbot von Subventionen, der Rat kann aber Ausnahmen genehmigen)
• Strikte Vorgaben für öffentliche Ausschreibungen
• die Vorgabe, dass bei der Eisenbahn, der Post, den Telekommunikations- und Energienetzen Wettbewerb vorhanden sein muss (und damit ein einziger öffentlicher Anbieter ausgeschlossen ist).

Zentral ist der Vertrag von Maastricht (1992) und der sogenannten Stabilitätspakt (1997), die die Grundlage für die Einführung der Euro bilden. Hier sind die Verschuldungsgrenzen 3% und 60% definiert. Die Unabhängigkeit der EZB (von den Regierungen aber auch von jeder demokratischen Kontrolle) und die Verpflichtung der EZB allein auf das Ziel der Preisstabilität, und nicht auch auf Vollbeschäftigung, das Verbot der Staatsfinanzierung durch die Notenbank.

Wesentlich bei den oben genannten Festlegungen ist ihre Verankerung im EU Primärrecht. Das heißt sie sind Bestandteil des Lissabonner Vertrags. Und dieser kann nur einstimmig geändert werden und die Änderung muss dann von allen Mitgliedsländern ratifiziert werden. Somit würde bereits ein Land genügen, um eine Änderung zu blockieren.

Eine Weiterentwicklung stellt der sogenannte Fiskalpakt von 2012 dar. Dieser Pakt ist nicht im europäischen Primärrecht verankert, sondern als zusätzlicher Völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Regierungen abgeschlossen (ohne GB, Tschechien und Kroatien). Die Überführung in das EU Vertragsrecht war/ist für später geplant, die im Pakt genannte Frist von fünf Jahren ist aber bereits überschritten.

Der Fiskalpakt bezieht sich auf die Bestimmungen des Stabilitätspakt und des Maastrichter Vertrags, konkretisiert und verschärft sie.

Im einzelnen verpflichten sich die Länder:
• Auf einen ausgeglichenen Haushalt (dabei gilt ein Defizit von 0,5% des BIP als ausgeglichen) und einen Abbau der Staatsverschuldung auf unter 60% des BIP.

• Auf die Aufnahme von Regeln, die im Prinzip der deutschen Schuldenbremse entsprechen, in ihre Verfassung oder eine Kodifizierung auf vergleichbaren Niveau.

Allerdings sieht der Fiskalpakt mehrere Ausnahmemöglichkeiten vor, die durch Sondersituationen oder konkreten Bedingungen eines Landes bedingt sein können.

Die EU Kommission hat die Aufgabe den Fiskalpakt zu überwachen. Die Länder müssen regelmäßig über ihre Bemühungen die Regeln einzuhalten berichten. Die jüngsten Diskussionen zwischen der EU-Kommission und der italienischen Regierung über den italienischen Haushalt beruhen auf diesen Fiskalpakt.

Seinen bisher deutlichsten Ausdruck hat die Neoliberalisierung bisher in der Behandlung der Krisen um Griechenland gefunden.


Europa als Friedensgarant?

Richtig ist, dass es nach 1945 in Europa weitgehend friedlich geblieben ist. Ein Krieg etwa zwischen Frankreich und Deutschland ist heute geradezu unvorstellbar geworden. Richtig ist aber auch, dass das nur innerhalb der EU und im Bezug zu anderen europäischen "Kernländern" gilt. Die Auflösungskriege um Jugoslawien haben gezeigt, auch in Europa sind Kriege noch möglich und die EU bzw. ihre führenden Mitglieder waren dabei keineswegs nur Friedensstifter. Bei nüchterner Betrachtung muss man auch zum Ergebnis kommen, dass der entscheidende Faktor für die friedliche Entwicklung zwischen den europäischen Ländern nicht in erster Linie die EU ist, sondern der Zusammenhalt der kapitalistischen Länder gegen die Sowjetunion unter der Hegemonie der USA. Verändert sich diese Konstellation, gerät auch der Friede in Europa in Gefahr. Auch das haben die Kriege in Jugoslawien gezeigt.

Vergessen darf man auch nicht, dass EWG/EU Mitglieder von Anfang an an diversen Kriegen beteiligt waren, etwa Frankreich in Indochina, Algerien, bei der Suez-Krise und bei vielen weiteren Einsätze in Afrika, Großbritannien bei der Suez Krise, im Falkland- und Irakkreig, auch Deutschland ist mit etlichen Auslandseinsätzen vertreten.

Die Vorstellung von der "Friedensmacht EU" wird durch einige Äußerlichkeiten (scheinbar) unterstützt, z.B. durch die Arbeitsteilung zwischen EU und NATO. Für militärisches ist eben die NATO zuständig und nicht die EU. Die Schwierigkeit der 28 Mitglieder gelegentlich eine gemeinsame Linie zu finden, führt dann dazu, dass sich die EU als ganzes nur zurückhaltend positionieren kann. Man kann das als vorsichtige Politik missverstehen. Viele Kommentatoren bejammern es wortreich als Schwäche und mangelnde Handlungsfähigkeit Europas. Real bedeutet das aber nur, die EU kann (noch?) nicht effizient genug als imperialistischer Akteur auftreten.


Militarisierung

Neuere Entwicklungen strafen das Gerede vom Friedensprojekt EU sowieso Lügen, besonders das Projekt PESCO (Permanent Structured Cooperation). Hier geht es um die Zusammenarbeit auf militärischen Gebiet. 2017 wurde diese Kooperation gestartet 25 Länder beteiligen sich daran (ohne GB (Brexit), Dänemark und Malta).

Die teilnehmenden Staaten verpflichten sich ihre "Verteidigungsausgaben stetig weiterzuentwickeln" (es wird aber nicht festgelegt was das genau bedeutet z.B. im Sinne von Prozentsätzen oder Zeiträumen) und zur Teilnahme an europäischen Ausrüstungsprogrammen, wobei die Teilnahme an den einzelnen Rüstungsprojekten separat entschieden wird. PESCO bringt zwar eine gewisse Ausformung des Gemeinschaftsrechts bei militärischen Fragen, die Souveränität der Länder ist aber ausdrücklich nicht aufgehoben.

Es gibt starke Kräfte in der EU, die PESCO nur als Anfang betrachten und darauf hinwirken, die militärische Zusammenarbeit weiter auszubauen.


Ausblick

30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion sind weitere einschneidende Veränderungen der weltpolitischen Situation erkennbar. Das soll hier nur stichpunktartig festgehalten werden.

Der Aufstieg Chinas - insgesamt eine Verschiebung des ökonomischen Schwerpunkts nach Asien, darin eingeschlossen ist ein relativer Bedeutungsverlust Europas.

Das Verhältnis USA-Europa steht ernsthaft zur Debatte. (Und das vermutlich auch ohne den speziellen Politikstil von Trump.) Bisher war es immer noch ein Verhältnis von Hegemon zu abhängigen Verbündeten.

Auch bezüglich der näheren und weiteren Umgebung von Europa (Russland, Türkei, Naher Osten, Afrika) gibt es mehr Fragezeichen als Gewissheiten.

Die Einschätzung der EU fällt in dieser Hinsicht zwiespältig aus. Einerseits ist die EU als großer Verbund wesentlich besser gerüstet mit anderen Mächten harte Verhandlungen und Kämpfe auszufechten als es die vielen europäischen Nationalstaaten einzeln wären. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Vereinheitlichung der EU wirklich schon so weit fortgeschritten ist, um in allen diesen, zum Teil sehr fundamentalen Fragen eine gemeinsame Position vertreten zu können. Eventuell sind die materiellen Unterschiede einfach zu groß, so dass einzelne Länder bessere Wege ohne EU für sich erkennen, oder glauben erkennen zu können.

Es ist offensichtlich, dass eine gemeinsame Linie schon jetzt sehr schwierig zu erreichen ist. Die weitere Abgabe von Souveränität in zentralen Themen wie Außenpolitik und Militärwesen an eine Zentralinstanz, wäre für viele Staaten und ihren herrschenden Klassen mit Risiken und Einflussverlust verbunden. Es ist aber denkbar, dass ein Schub für mehr Zentralität dann erfolgt, wenn die Umstände (Konkurrenz zu USA und/oder China) eine stärkeren Zusammenschluss der europäischen Kräfte nahelegen oder erzwingen.

Nicht unwahrscheinlich ist ein weiteres Auffächern in eine EU der verschiedenen Geschwindigkeiten und der verschiedenen Integrationsstufen, die es in der Praxis schon seit einiger Zeit gibt.

Trotz jahrzehntelangen Aufbau eines gemeinsamen Marktes und gemeinsamer Institutionen ist die Entwicklung noch nicht unumkehrbar. Der Ausgang ist offen. Alle denkbaren Pfade (von weiterer Integration hin zu einem Bundesstaat bis zu einem Auseinanderbrechen) sind möglich. Potentielle, auch die Substanz erschütternde Krisen, sind am (durchaus nahen) Horizont erkennbar, wie etwa eine große kapitalistische Überproduktion/Schuldenkrise oder die Klimaänderung mit ihren direkten und indirekten Folgen. Aber hier und heute lässt sich der reale Verlauf mit seinen politischen Implikationen nicht prognostizieren.

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Vertiefung der Zusammenarbeit, Entwicklung der Verträge

Die EU ist staatsrechtlich ein ziemlich kompliziertes Gebilde. Die Zuständigkeit (Kompetenz) für einzelne Aufgaben wird der EU per Vertrag von den Mitgliedsstaaten übertragen. Dies ist in der Geschichte der EU mehrmals geschehen. Die einschlägigen Bestimmungen wurden zuletzt im Vertrag von Lissabon zusammengefasst. Das Kernstück des Lissabonner Vertrags ist der "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV). Hier wird festgelegt wie die Institutionen der EU funktionieren, welche Kompetenzen sie haben, ihre Zusammensetzung, ihre Wahl und Abwahl, bei welchen Entscheidungen das EU-Parlament zustimmen muss etc. Nur dort wo die Zuständigkeit ausdrücklich auf die EU übertragen worden ist, kann diese gesetzgeberisch durch Verordnungen und Richtlinien tätig werden. In ausschließlicher EU Zuständigkeit sind z.B. Handelsverträge. Praktisch keine Kompetenzen hat die EU beim Steuerrecht.

Im EU-Recht gibt es aber auch Bereiche für gemeinsames Handeln ohne Souveränitätsübertragung. Eine Beispiel dafür ist die "Gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik" GASP. Diese findet sozusagen außerhalb bzw. neben der EU-Kommission statt. Deshalb gibt es auch keinen EU-Kommissar für Außenpolitik, sondern eine "hohe Vertreterin für Außen und Sicherheitspolitik". Das EU-Parlament hat hier keine Zustimmungsrechte. Entscheidungen im EU-Rat zur Außenpolitik müssen grundsätzlich einstimmig getroffen werden.

Neben dem Lissabonner Vertrag, dem alle Mitglieder zugestimmt haben und der für alle verbindlich ist, gibt es noch weitere völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedsstaaten mit Regelungen für bestimmte Politikbereiche, wie etwa den Fiskalpakt. Diesen zusätzlichen Verträgen sind nicht alle Mitglieder beigetreten, sie sind deshalb auch nicht für die gesamte EU gültig. Der Weg mit zusätzlichen Verträgen wurde beschritten, weil starke Interessen bestanden die Regelungen durchzusetzen, aber keine Zustimmung aller Mitglieder erreicht werden konnte.

- 18. April 1951: Unterzeichnung des Vertrags zur Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS, Montanunion), durch Frankreich, Belgien, Luxemburg, Niederlande, BRD und Italien

- 24. Juli 1952: Inkrafttreten des Vertrags zur Montanunion

- März 1957: Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) 1.1.1958 Inkrafttreten

Die wichtigsten Ziele:
• Aufheben der Import-Export Kontingente, Abbau der Zölle - 1968 wurde Zollunion erreicht
• Freien Austausch für Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital
• gemeinsame Handelspolitik gegenüber Drittstaaten, gemeinsame Landwirtschafts- und Verkehrspolitik
• Schaffung europäischer Institutionen
• "beständige Wirtschaftsausweitung", "ausgewogener Handelsverkehr", "redlicher Wettbewerb"
• Angleichung innerstaatlicher Rechtsvorschriften

- 1965 Politik des leeren Stuhles durch De Gaulle. Beendet durch den Kompromiss von Luxemburg 1966. Es ging um Abstimmungsregeln im Ministerrat. Durch bereits in den Römischen Verträgen vereinbarte Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen, hätten die großen Länder (Frankreich, BRD, Italien) ihr faktisches Vetorecht verloren. Im Kompromiss von Luxemburg erklärten die Mitglieder informell und nicht rechtsverbindlich auf Mehrheitsentscheidungen verzichten zu wollen, wenn ein Land den verhandelten Gegenstand für wesentlich erklärt.

- 1967 Zusammenlegung der Exekutivorgane der europäischen Institutionen EGKS, EWG und EURATOM zu den Europäischen Gemeinschaften EG (Fusionsvertrag)

- 1979 Einführung des Europäisches Währungssystem (EWS), beschränkte die Schwankungen der teilnehmenden Währungen innerhalb einer Bandbreite (normalerweise +/- 2,25%)

- 1984 Thatcher erreicht "Briten Rabatt"

- 1985 Schengen, Beginn der schrittweise Abschaffung der Grenzkontrollen, mehrmals modifiziertes Abkommen genannt Schengen I bis Schengen III, ohne Großbritannien und Irland aber mit Schweiz, Liechtenstein, Norwegen und Island

- 1987 Einheitliche Europäische Akte (EEA), EU-Parlament wird direkt gewählt, Stärkung des Mehrheitsprinzips im Rat, die Realisierung des Europäischen Binnenmarkt soll bis 1992 abgeschlossen sein

- Februar 1992: Unterzeichnung des Vertrages von Maastricht (offiziell "Vertrag über die europäische Union") Zusammenführung von EG, EURATOM und EGKS zur Europäischen Union (EU)
• Ausdehnung der Gemeinschaftszuständigkeit auf Umweltpolitik, Einwanderung und Asylrecht, Gesundheit und Drogenbekämpfung
• Start der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), als intergouvernementaler Bereich mit Sonderstellung
• Eine Volksabstimmung zur Ratifizierung in Dänemark lehnt den Vertrag ab. Nach Einfügung von Spezialklauseln zur Nicht-Teilnahme am Euro findet eine zweite Abstimmung Zustimmung.

- November 1993: Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht und Gründung der EU

- 1997 Vertrag von Amsterdam (1999 Inkrafttreten), Ausbau und Regelung von Mehrheitsentscheidungen, mehr Rechte für das europäische Parlament, Zusammenarbeit in polizeilichen und justiziellen Fragen. Darin enthalten auch der Stabilitäts- und Wachstumspakt (kurz Euro-Stabilitätspakt), Definition der Obergrenzen der Verschuldung von 3% bzw. 60%, Regelung von möglichen Sanktionen

- 1997 Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommen, Regelung zur Durchführung von Asylverfahren

Januar 1999: Einführung des Euros als Buchgeld

Januar 2002: Einführung des Euros als Bargeld in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien, 2007 Slowenien, 2008 Malta, Zypern, 2009 Slowakei, 2011 Estland, 2014 Lettland, 2015 Litauen

- 2001 Vertrag von Nizza, 2003 Inkrafttreten, Neuregelung von Mehrheitsentscheidungen im europäischen Rat, Zustimmung in Irland erst in der zweiten Volksabstimmung, geplanter Verfassungsvertrag Konvent erarbeitet den Vertrag bis 2003, Unterzeichnung am 29.10.2004, geplantes Inkrafttreten 2006, Ablehnung durch Volksabstimmungen in Frankreich (55% Nein Stimmen bei 69% Beteiligung) und den Niederlanden (61% Nein-Stimmen bei 63% Beteiligung)

- 2007 Vertrag von Lissabon (2009 Inkrafttreten), die Regelungen der geplanten Verfassung werden im wesentlichen übernommen, Volksabstimmungen nicht notwendig, da nur Vertragsänderung und keine Vertragsersetzung.

- 2011 Sixpack, 6 EU-Verordnungen und Richtlinien, die gleichzeitig beschlossen wurden, die bisherigen Regelungen des Maastrichter Vertrags und des Stabilitätspakt werden im neoliberalen Geist konkretisiert und verschärft plus (eher technische) Vorgaben für Datenerhebung und Berichtspflicht.

- 2011 Euro-Plus-Pakt, Maßnahmenpaket zur "Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit" der teilnehmenden Länder, nicht rechtsverbindlich (ohne GB, Schweden, Tschechien und Ungarn)

- 2011 Europäisches Semester, Verfahren zur Überprüfung der nationalen Haushaltsentwürfe.

- 2012 Fiskalpakt (zusätzlicher Völkerrechtlicher Vertrag zwischen den Regierungen, ohne Großbritannien, Tschechien und Kroatien), unterschiedliche Bestimmungen für Euro-Länder und nicht Euro-Länder, Verpflichtung zu ausgeglichenen Haushalt (Defizit von 0,5% des BIP gilt als ausgeglichen), Abbau der Staatsschulden unter 60%, nationale Verankerung einer Schuldenbremse.

- 2014 Europäische Bankenunion, EZB wird zentrale Bankenaufsicht, einheitlicher Bankenabwicklungsmechanismus

- 2017 PESCO, (Permanent Structured Cooperation), "Permanente Strukturierte Zusammenarbeit" auf militärischen Gebiet, ohne Großbritannien, Dänemark und Malta, Verpflichtung die Verteidigungsausgaben regelmäßig zu erhöhen, Zusammenarbeit bei Rüstungsprojekten, keine Übertragung der Souveränität in militärischen Fragen auf die EU.
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Juni 2019

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 204 - Sommer 2019, Seite 1 + 3 bis 10
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Januar 2020

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