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DAS BLÄTTCHEN/1430: Was tun? - EU-Strategie für Russlandpolitik gesucht


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
17. Jahrgang | Nummer 20 | 29. September 2014

Was tun? - EU-Strategie für Russlandpolitik gesucht

von Peter W. Schulze



Am Umstand, dass Russland ein sperriger Akteur für die europäische Politik bleibt, gibt es wohl wenig zu deuteln. Die russische Außenorientierung ist ihrem Wesen nach eine trilateral basierte, reaktiv ausgerichtete Status Quo Politik, die nur inkrementelle, kontrollierte und auf Konsens gestützte Veränderungen vorsieht. Stabile und belastbare Vertrauensbeziehungen zu Berlin/Brüssel einerseits und zu Washington und Peking andererseits bilden ihre Grundmatrix. Die seit Beginn des Millenniums primär am Führungsstil Putins anschwellende Kritik westlicher Politik und Medien haben Abschottungsreaktionen in Moskau ausgelöst und wirken sich auf die Perspektiven der europäisch-russischen Beziehungen negativ aus. Seit 2012 gewann der seit Jahren andauernde stereotype Streit von Interessen versus Werten eine neue Qualität. Die dominante Position Berlins in den europäisch-russischen Beziehungen wurde frontal durch übergreifende Allianzen angegriffen und eine Neujustierung der deutschen Russlandpolitik gefordert.

Die deutsche Politik sieht sich heute zumindest mit drei Herausforderungen konfrontiert, die sich allesamt gegenseitig bedingen und in absehbarer Zeit kaum einer Lösung zugeführt werden können. Zum einen haben sich aufgrund der anhaltenden Finanz- und Wirtschaftskrise in der Eurozone seit 2008 unaufhörlich die Entscheidungszentren zugunsten Berlins verschoben. Der frühere Integrations- und Antriebsmotor, das Tandem Paris-Berlin läuft er nicht mehr "rund". Vom "zauderndem Hegemon", gemeint ist Berlin, ist nicht nur in britischen Medien die Rede. Berlin wird wegen der Schwäche früherer Partner in eine Führungs- und Gestaltungsposition europäischer Politik gedrängt, kann aber nicht oder ist noch nicht willens, die damit verbundene Verantwortung zu schultern.

Die zweite Herausforderung betrifft die Qualität und die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Der kühne Vorschlag, die USA und die EU gemeinsam in eine transatlantische Investitions- und Handelsgemeinschaft zu integrieren, ist zwar nicht neu, aber erstmals scheinen Aussichten auf seine Realisierung angesichts grundlegender Veränderungen in den Wettbewerbsbedingungen des Weltmarktes Erfolg versprechend. Dass solch wirtschaftspolitische Blockbildung, die zudem noch durch die NATO sicherheits- und verteidigungspolitisch unterlegt ist, Gegenreaktionen anderer Wirtschaftsmächte hervorrufen könnte, wird momentan in den Debatten noch ausgeklammert, doch darauf muss man sich zukünftig einstellen. Und insbesondere die USA haben ein nachhaltiges Interesse daran, dass Berlin die transatlantische Orientierung aus dem Fokus seiner bisherigen Politik nicht wegschiebt oder gar einen Sonderweg beschreitet.

Ungeschminkt wird in Washington und London postuliert, das Deutschland als unverzichtbarer Teil des Kontinents eine neue Aufgabe übernehmen müsse. Dass die Machtverlagerung nach Berlin von anderen EU-Mitgliedsländern mit Misstrauen beobachtet wird, überrascht nicht wirklich. Aber die Ungewissheit, welche Folgen aus einer solchen Machtverschiebung entstehen, treibt nicht nur die ewigen Kritiker Deutschlands in der EU um. Auch außerhalb der EU, in den USA, in China und in Russland wird der Frage nachgegangen, "Where is Europe going?" und diese Frage ist synonym mit "What do the Germans want?" Der frühere amerikanische Botschafter John Kornblum brachte die Interessen Washingtons auf den Punkt. "Deutschland ist für die westliche Welt auch weiterhin von so zentraler Bedeutung, dass jeder Versuch, in die Zukunft zu blicken, per definitionem auch der Frage nachgehen muss, wohin Deutschlands nächstes Verständnis von 'Normalität' uns führen wird". In dieser Interessengleichung der amerikanischen Deutschlandpolitik hat Moskau seine feste Position als potentieller Störenfried.

Ganz anders verhält es sich mit der dritten Herausforderung, dem deutsch-russischen Verhältnis, dass nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Untergang der UdSSR nahezu zwei Dekaden lang als Modell für eine gute wirtschaftliche und politische Beziehung in Europa galt. Von der Überzeugungskraft des Modells kann aber seit langem keine Rede mehr sein, denn seit dem Herbst 2011 haben sich die deutsch-russischen Beziehungen extrem verschlechtert.


Konvergenz der Interessen: Eine Einheitsfront gegen die deutsche Ostpolitik

Diese Entwicklung kommt nicht voraussetzungslos. Rückblickend kann man als Bruchpunkt in den europäisch-russischen und damit auch abgeschwächt in den deutsch-russischen Beziehungen das Jahr 2004 benennen. Mit dem Urteilsspruch gegen den Oligarchen Mikhail Chodorkowski wurde in den Medien eine anti-Kreml-Kampagne entfacht, die sich auch in der Amtszeit des Präsidenten Dmitri Medwedew (2008-2012) kaum legte. Gegen Ende der Amtsperiode Medwedews wurde insbesondere von amerikanischen Politologen und ihren russischen Partnern, die Kampagne auf die griffige Formel zugespitzt, dass sich Russland in einem ausweglosen Dilemma, in einer "historischen Sackgasse", befinde, so Lilja Schewzowa, eine der renommiertesten russischen Politologinnen, tätig am Moskauer Carnegie Zentrum, die zum Medienstar amerikanischer Journale wurde. Ihre Analysen haben Gewicht und beeinflussen in Ermangelung von gegenöffentlichen Positionen das politische Spektrum Washingtons, finden auch Widerhall in europäischen Expertenzirkeln und werden von den Medien kommuniziert. Nach Schewzowa ist die Modernisierung Russlands gescheitert und das Land steuert entweder in die Stagnation und einer damit einhergehenden Repression oder es droht eine Revolution.

Lilja Schewzowa rechnet in diesem Kontext mit der europäischen, insbesondere der deutschen Russlandpolitik schonungslos ab, denn deren Demokratieprojektionen hätten wenig gebracht, allenfalls das Kreml-Regime gestützt und die Wertorientierung westlicher Politik zugunsten wirtschaftlicher Interessen aufgegeben. Ihre Prämissen hätten nie gestimmt. So seien die Fehler des "Wandels durch Annäherung" perpetuiert worden und hätten Urstand im Ansatz des damaligen Außenminister Frank Steinmeier gefeiert, der die "Modernisierungspartnerschaft" mit Russland beschwor und auf die neue Formel der "Annäherung durch Verflechtung" gründete.

Zusammen mit David Kramer, dem Chef von Freedom House, einem einträglich in amerikanischen Medien und im Regierungsapparat vernetzten Russlandexperten, legt sie argumentativ nach. Sie behauptet nicht ohne Sorge, dass Berlin die Politik der Europäischen Union gegen Russland definiere, so auch die Washingtons beeinflusse, da die amerikanische Politik andere Beschwernisse habe. Aber das deutsche Modell der Ostpolitik sei nachweislich gescheitert und langsam werde das auch in der deutschen Innenpolitik, insbesondere von den "German Greens", zum Ausdruck gebracht.

Schewzowa begrüßt triumphierend, dass eine neue Stimme in der deutschen Politik ausgetaucht sei, die sich endlich gegen die "Schroederization" der Ost- und Russlandpolitik wende. Die Stimmung in Deutschlands politischer Klasse schlage um, behauptet sie und die Resolution des Deutschen Bundestages "marks the first serious attempt to free Germany from the suffocating relationship with the Kremlin." Implizit fordert Schewzowa, die deutsche Russlandpolitik müsse geschleift werden. Gelänge dass, würden die übrigen europäischen Mitgliedsländer von EU und NATO sich auf die neue Lage einstellen. Im Idealfall würde eine Allianz aus russophoben Mitgliedstaaten die Themen der europäischen Russlandpolitik bestimmen. Um eine Isolierung zu vermeiden, wäre anzunehmen, dass der Paradigmenwechsel in der deutschen Russlandpolitik verstärkt würde. Berlin verlöre seine dominante Position in der EU-Russlandpolitik und demzufolge würde der Kreml an den Rand Europas abgedrängt werden.

Unterstützt von amerikanischen Kreisen wird von Berlin eine neue Russlandpolitik gefordert, die primär von Werten geleitet wird. Ein solcher Paradigmenwechsel in der deutschen Politik würde, so die Hoffnung, die "Spaltung der herrschenden Elite in Russland sicher beschleunigen". Erstaunlich ist nur, dass Schewzowa sich jedoch kaum Illusionen macht, dass eine eventuelle Spaltung der Machtgruppen etwa die Demokratie in Russland etablieren könnte. Die Dinge fundamental zu verändern traut sie der Opposition nicht zu. Denn auch "die Anhänger einer größeren Offenheit und Freiheit in der russischen Elite folgen den Interessen einer monopolistischen Händlerbourgeoisie, die den Erhalt ihres Eigentums und ihre Macht garantiert haben will. Sie sind mithin genauso weit entfernt von den Idealen einer freiheitlichen Demokratie wie das Putin-Regime, das russische Militär und die Geheimdienstbürokratie".


Das Dilemma der fehlenden EU-Strategie für Russland

Kritik kann gegebenenfalls einen katharischen Prozess auslösen und unter Umständen dazu beitragen, das Manko zu beheben, dass weder Berlin oder Brüssel noch Moskau trotz vollmundiger Erklärungen über Partnerschaft und Kooperation bislang in der Lage waren, eine Strategie für gemeinsame Ziele zu formulieren oder gemeinsame Konzeptionen zu entwickeln wie mit Herausforderungen umzugehen sei, die entweder aus dem internationalen System herangetragen wurden oder sich aus Konfliktlagen im Raum zwischen Brüssel und Moskau entwickelten. Bedrückend ist auch der Umstand, dass es in den zwanzig Jahren Transformation nicht gelang, gemeinsame Institutionen aufzubauen oder bestehende für Moskau zu öffnen. Wenn dies wie im Falle der G-7 oder der NATO geschah, waren es immer Handreichungen zur Kompensation westlicher Vorstöße.

Früh zerschellten bislang alle Bemühungen, eine euroatlantische Sicherheitsgemeinschaft konzeptionell anzugehen oder den seit einer Dekade umherschwirrenden Vorschlag eines gesamteuropäischen einheitlichen Wirtschaftsraumes von Wladiwostok bis Lissabon mit konkreten Verhandlungen zu unterlegen. Dieser Mangel wurde durch die engen deutsch-russischen Beziehungen bisher übertüncht. Nun soll nach Dafürhalten der fundamentalistischen Kritiker diese Klammer aufgelöst werden. Die bislang recht einträchtigen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau, die noch unter der schwarz-roten Koalition in der zielführenden Ankündigung einer "Modernisierungspartnerschaft" kulminierten, stehen nun im Fadenkreuz einer ideologischen Kampagne.

Zudem scheint die Ukrainekrise nun sämtliche Hoffnungen auf einen solchen Durchbruch zu eliminieren. Dennoch bleibt die Hoffnung, weil es ein Miteinander nach Bewältigung dieser Krise geben muss, dass beide Seiten eine Reflexion über Stand, Ziele und Qualität ihrer Beziehungen anstellen, um die aufgetürmten Probleme mit pragmatischer und geduldiger Beharrlichkeit Schicht für Schicht abzutragen. Damit könnte einer weiteren atmosphärischen Vereisung der Beziehungen Einhalt geboten und das Abreißen des Gesprächsfadens verhindert werden.


Empfehlungen für eine europäische Russlandpolitik

Die definitorische Grauzone, ob denn Russland nun ein Gegner, Partner oder Konkurrent der EU sei und wie mit diesem Land umgegangen werden sollte, wurde in der chaotischen Dekade der 1990er Jahre kaum thematisiert, taumelte Russland doch lange Zeit am Rande einer systemischen Krise und war kaum ein Subjekt europäischer oder internationaler Politik. Jedoch änderten sich diese Bedingungen ab 2000. Das Russland von heute ist zu einem Akteur der internationalen und europäischen Politik geworden, ob man das will oder nicht. Moskau aus der Gestaltung Europas auszugrenzen wird ähnliche Konflikte nach sich ziehen wie wir sie gegenwärtig in der Ukraine erleben. Dieser Umstand muss die Grundlage einer neuen Strategie im Umgang mit dem Land bilden.

Richtig an der Kritik jener Kräfte, die auf einen Wechsel in der deutschen Russlandpolitik drängen, ist zweifelsohne die Forderung nach Zielbestimmung. Jedoch extrem überzogen und praxisfern ist zweifelsfrei ihr Appell, dem Land von außen her einen "Regimewechsel" aufzudrängen. Diese Forderung als Unterstützung für die zivilgesellschaftlichen russischen Protestgruppen gedacht, bleibt salopp gesprochen ein Rohrkrepierer. Mit dieser Forderung wurde eher das Gegenteil erreicht. Denn die Kreml-Propaganda konnte die Opposition als vom "Westen" gelenkt desavouieren. Sie stehe im Dienste äußerer Machtinteressen und das sind traditionell immer Russlands Feinde, allen voran die USA. So abwegig und Bürgerrechte verachtend uns auch solche Maßnahmen und Propaganda vorkommen mögen, im inneren Kontext der Machtsicherung erfüllen sie ihre präventive Funktion. Ähnlich konnte der Kreml die Zustimmung der Bevölkerung bei der Krim-Annektion erlangen, denn die Krim wurde nie als Bestandteil der Ukraine betrachtet und seit dem Zerfall der UdSSR suchte die Bevölkerungsmehrheit auf der Krim den Anschluss an Russland.

Als vorläufiges Fazit bleibt, dass jedwede Ausgrenzungspolitik nur jene Kräfte in Russland stärkt, die von der EU nichts mehr erwarten und lieber auf die eurasische Karte setzen oder die Zukunft des Landes in der sich mausernden Liga der BRICS sehen. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die Eurasische Option und der pazifische Raum zu betrachten, auch die Beziehungen Moskaus zu Ankara durchliefen eine außergewöhnlich positive Entwicklung in den letzten zehn Jahren. Zwar wäre es verfrüht und wahrscheinlich auch verfehlt schon heute von einer sich anbahnenden Achse Ankara und Moskau zu sprechen, aber dass beide Länder in Sicherheits- und Einflussfragen, die das Schwarze Meer betreffen, enger kooperieren als das NATO-Mitglied Türkei mit Washington, scheint belegbar. Eine auf Realisierung der eigenen Interessen pochende Gemeinschaft ist im Begriff zu entstehen, unbeeindruckt von der EU oder von Washington.

Die oppositionellen Kräfte Russlands werden durch die Ausgrenzungs- und Konditionierungspolitik der EU oder ihrer Mitgliedstaaten nicht gestärkt. Insbesondere werden solche Kräfte geschwächt, die sich der EU zuwenden wollen. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, aber das gehört ja zum Repertoire der Fundamentalisten aller Schattierungen.

Trotz aller Schwächen hat die russische Protestbewegung den latenten Funken von zivilgesellschaftlicher Partizipation gezündet. Damit ist ein wichtiger Aspekt des umfassenden Modernisierungsprogrammes wie es vom vorherigen Präsidenten Medwedew unter Mitwirkung von Wladislaw Surkow verfasst und auf die Tagesordnung gesetzt wurde, erhalten geblieben. Nämlich, die Zukunftsvision eines demokratischen, pluralistischen und wettbewerbsfähigen Russlands als geachtetes Mitglied der Völkergemeinschaft. Diese Vision ist auch unter den gegebenen Umständen der kollektiven Führung und des betont autoritären Politikkurses unter Putin als Ziel nicht strittig, allerdings prallen die Meinungen scharf aufeinander wie, auf welchen Wegen, mit welchen Mitteln ein solches Ziel erreicht werden könnte.

Es ist nicht völlig illusorisch anzunehmen, dass die Zeit für die damals so progressiven und zukunftsgerichteten Ideen arbeitet. Um diesen Prozess jedoch zu befeuern, bedarf es nicht nur einer erfolgreichen innergesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Protagonisten des jetzigen Systems, dass seinem Wesen nach einem Patronage- und Klientel-System nahekommt. Die Machtsynthese zwischen korrupter Staatsbürokratie und Oligarchie muss aufgebrochen und beendet werden. Je kooperativer, freier und intensiver sich die russische Gesellschaft und ihre produktiven Wirtschaftskräfte in ein auf gleichberechtigte Partnerschaft hinzielendes Europa einbringen können, desto schneller würden jene Kräfte in Russland an Einfluss verlieren, die von der Marginalisierung des Landes profitieren. Hier ist Brüssel in der Bringschuld. Gemeinsame und gleichberechtigte Verantwortung für Sicherheit, Frieden und Wohlfahrt der Völker Europas, also ein gemeinsames europäisches Dach mit den beiden Hauptpfeilern in Brüssel und Moskau würde zweifellos dazu beitragen, solche und ähnliche Konflikte präventiv einzuhegen wie wir sie gegenwärtig in Zwischeneuropa am Beispiel der Ukraine aufkeimen sehen.

In diesem Kontext stellt sich für die EU die Aufgabe, Wege und Instrumente zu finden, um behutsam und geduldig die Kluft zwischen Brüssel/Berlin und Moskau nicht unüberbrückbar werden zu lassen. Gleichsam sollte aber jenen Kräften in der EU und in der deutschen Politik signalisiert werden, dass eine Marginalisierung Russlands in Europa durch Sanktionen und durch die eventuelle Aufkündigung der wenigen institutionellen Verbindungen kontraproduktiv ist.

Sanktionen, Ausgrenzung und das Setzen auf einen "Regime Change" sind ein Spiel mit dem Feuer. Sie sind Ausdruck einer fehlenden Politik oder Strategie wie mit Russland umzugehen sei und welche gemeinsamen Ziele man realisieren könne. Zudem bewirken sie genau das Gegenteil, sie befördern und forcieren das Abdriften des Kremls in Reglementierungen, bürokratische Willkür und Repression. Der Kreml wird angesichts der ablehnenden Erfahrungen aus den 1990er Jahren, jener "verlorenen Dekade" in der das Land gedemütigt wurde und den abgeblockten Erlebnissen der ersten Dekade des neuen Millenniums kaum mit kreativen Initiativen etwa zu einer Gesamteuropäischen Friedens- und Wirtschaftsordnung aufwarten. Aufrichtige Angebote, wenn sie denn überhaupt noch gewollt und durchgesetzt werden können angesichts der Lage in der Ukraine müssen von Brüssel initiativ vorgeschlagen werden. Denn die wenigen russischen Angebote, die es in der Vergangenheit gab, wurden nie ernsthaft geprüft und in der Regel sogleich kalt abgewiesen.

Obgleich die momentanen Umstände einer solchen Politik entgegenlaufen, sollte im Kontext der vorausgeschickten Erläuterungen baldigst die Enttäuschung in europäischen Politikkreisen einer pragmatischen und realistischen Politik weichen. Brüssel muss konkrete Projekte der Kooperation vorschlagen, über die gemeinsames Vertrauen wieder gewonnen werden kann. Warum kann das längst überfällige Partnerschafts- und Kooperationsabkommen nicht wiederbelebt und abgeschlossen werden? Das Beharren auf normative Anklagen und einseitige Schuldzuweisungen erzielen eher Verhärtungen als Veränderungen. Denn von russischer Seite sind abgesehen von Forderungen nach visumfreiem Reiseverkehr kaum zukunftsweisende Vorschläge auf absehbare Zeit zu erwarten.

Prof. Dr. Peter W. Schulze ist Honorarprofessor für Vergleichende Lehre und Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2014 vom 29. September 2014, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 17. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†), Heinz Jakubowski
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2014