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DAS BLÄTTCHEN/1525: Die andere Perspektive


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 19 | 14. September 2015

Die andere Perspektive

von Margit van Ham


In der Malerei begegnet man ab und an den Fotorealisten. Bei aller Kunstfertigkeit der Ausführung - nicht meine Welt. In einer Ausstellung begegnete ich jetzt Fotos, die neben schönen Naturimpressionen an expressive oder abstrakte Gemälde denken lassen. Diese Umkehrung ist beeindruckend. Die Bilder locken schon aus der Ferne mit Farbenfreude und Formenvielfalt, aus der Nähe gesehen geben sie Rätsel auf.

Ein "Gemälde" hat es mir besonders angetan. Es erinnert mich an Miró, "Haarspaltereien" ist sein Titel. Wasser und Wassertropfen schillern und brillieren in Licht, Weiß und Farbe, Tropfen werden wohl an einem Haar gespalten. Wunderbar.

Gemalt hat dieses Bild Sven Kocar, 35 Jahre alt. Er ist Mediengestalter, Fotograf und schreibt auch kurze Texte. Er spielt mit Licht und Schatten, Spiegelungen und Nahaufnahmen. Das Besondere aber ist die ungewöhnliche Perspektive, die er nutzt. Dinge erscheinen in fremder Gestalt, wirken rätselhaft. Er fotografiert seit 2006 mit den Füßen und die Ergebnisse sind so verschiedenartig wie beeindruckend. Ein Künstler.

Die Idee, mit den Füßen zu fotografieren, kam ihm nicht aus einer Laune heraus. Als Spastiker gehorchen ihm die Füße besser als die Hände. Er experimentiert mit dem anderen Blickwinkel, sucht sein Bild - wie andere Fotografen - durch Farbwechsel, Spiel mit Hell und Dunkel und unterschiedlichen Schärfen. Der Spaß an diesen Experimenten ist auf den Bildern wiederzufinden.

Sven Kocar macht das Beste für seine Ideen aus einer komplizierten Lage, die er nicht ändern kann und natürlich bewundert man diese Willensstärke. Aber seine Kunst der Fotografie braucht keinen Sonderbonus. Sie steht für sich. Kocar kann mit seiner Lage umgehen, es ist die Umwelt, die damit Probleme hat und auch immer wieder für Demütigung sorgt. So ist oft genug schon das Fotografieren mit Schwierigkeiten verbunden. Kocar schreibt in einem seiner Texte:

"Um fotografieren zu können, muss ich die Kamera vor mir auf den Boden stellen und sie dann mit den Füßen bedienen. Wenn ich das in der Öffentlichkeit tue, lassen die ersten Passanten nicht lange auf sich warten, die dann fragen, ob alles in Ordnung sei. Es ist nervig, wenn man der x-ten Person erklären muss, dass alles okay ist und dass man nur in Ruhe fotografieren möchte. Angesichts des ungewöhnlichen Anblicks, der sich ihnen bietet, verstehe ich jedoch ihre Reaktionen. Es kommt schließlich nicht so oft vor, dass man jemanden mit den Füßen fotografieren sieht. Absolut unverständlich finde ich es aber, wenn Leute plötzlich daherkommen, sich bücken und ungefragt nach der Kamera greifen. Was soll das? Wenn ich denen böse Absichten unterstellen wollte, würde ich denken, dass sie vorhaben, mir die Kamera zu klauen. Ich halte dann immer demonstrativ meinen Fuß auf der Kamera und sage ihnen freundlich aber bestimmt, dass sie sich verziehen sollen."

Andere Situationen - Leute, die nicht ihn in seinen Angelegenheiten anreden, ihn nicht einmal ansehen, sondern mit seinen Assistenten reden, Kellner, die ihm keine Speisekarte geben, Leute, die ihn einfach ungefragt schieben oder ihn gar mitleidig berühren. "Betatschen", sagt er und wird richtig wütend dabei. Er schreibt: "Man müsste sich ja nicht darüber aufregen. Ich meine, alles ist in ein paar Sekunden vorbei und danach sieht man diese Leute aller Wahrscheinlichkeit nach eh nie wieder. Trotzdem stört es mich immens. Ein solches Verhalten ist im höchsten Maße distanzlos und damit derart respektlos, dass es mich echt verletzt. Es verletzt mich in meiner Würde als erwachsener Mensch. Ich bin doch kein Baby mehr und auch kein Hund, den man einfach mal streicheln kann."

Zurück zur Ausstellung, die in der Krankenhauskirche im Berlin-Biesdorfer Wuhlgarten noch bis zum 12. Oktober zu sehen ist. Sven Kocar zeigt hier einen Ausschnitt seines Schaffens. "Vegetarisches" überschreibt er humorvoll seine Pflanzenaufnahmen, darunter eine "Sonnenanbeterin". Aus dem "Alltäglichen" gibt es das Foto "Die Welt hängt Kopf". "Abstraktes" zeigt die "Haarspaltereien", aber auch ein "Wurmloch" oder die "Ursuppe". Die Titel verraten Humor und Spaß bei der Schaffung der Bilder - vergnügliche Freude, die sich auf den Ausstellungsbesucher überträgt. Es lohnt sich. Ein Blick auf Sven Kocars Website sei empfohlen:
http://www.svocar.de/homes


Fotografien von Sven Kocar, Krankenhauskirche im Wuhlgarten, Brebacher Weg 15, 12683 Berlin. Täglich geöffnet von 14.00 Uhr bis 17.00 Uhr. Finissage mit Lesung von Texten von Sven Kocar am 12. Oktober 2015, 18.00 Uhr.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 19/2015 vom 14. September 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
... und der Freundeskreis des Blättchens
Verantwortlich: Wolfgang Schwarz
Fritz-Reuter-Str. 8, 12623 Berlin
Fax: 030 . 70 71 67 25
Redaktion:
Margit van Ham, Wolfgang Brauer, Alfons Markuske, Detlef-Diethard Pries
E-Mail: hwjblaettchen@googlemail.com
Internet: www.Das-Blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. September 2015

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