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DAS BLÄTTCHEN/1534: Kasten und Politik


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 21 | 12. Oktober 2015

Kasten und Politik

von Edgar Benkwitz


Bihar, in der Gangesebene südlich von Nepal gelegen, ist mit seinen 104 Millionen Einwohnern einer der bevölkerungsreichsten Unionsstaaten Indiens. Hier verkündete Gautama Buddha vor 2.500 Jahren zum ersten Mal seine Lehren, und hier entstanden die ersten buddhistischen Großreiche. Als Zeichen seiner Macht ließ Kaiser Ashoka überall auf dem Subkontinent Säulen aufstellen, gekrönt mit einem Löwenkapitell, dee heutigen Staatswappen von Indien.

Jetzt erinnern nur noch einige Stupas an die große Vergangenheit, das heutige Bihar fällt vor allem durch negative Meldungen auf: Es ist eines der ärmsten und rückständigsten Gebiete Indiens, geprägt von großen sozialen Gegensätzen, hoher Kriminalität und einem noch tief verwurzelten Kastensystem.

Gegenwärtig steht das Land jedoch im Blickpunkt der Öffentlichkeit, denn es finden Wahlen zum Staatenparlament statt. Parteien und Politiker bemühen sich um die vielen Stimmen, die Wahlentscheidung wird als Stimmungstest für die Zentralregierung in Neu Delhi unter Premierminister Narendra Modi angesehen. Vor anderthalb Jahren hatte er hier bei der Wahl zum indischen Unterhaus mit seiner hindunationalistischen Indischen Volkspartei (BJP) einen überragenden Wahlsieg errungen. Doch die "Modi-Welle" ist abgeflacht, bei den Wählern ist Ernüchterung eingezogen. Jetzt kämpfen zwei Koalitionen um den Wahlsieg: eine "große Allianz", gebildet von den zwei einflussreichsten Regionalparteien sowie der Kongresspartei und die BJP mit drei kleineren Bündnispartnern. Beide politische Lager arbeiten vordergründig mit Versprechen nach sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung. Tatsächlich wird ihr Vorgehen aber vor allem durch ein Setzen auf den Faktor Kaste bestimmt.

Diese Strategie hat sich in der Vergangenheit noch stets ausgezahlt. Das agrarisch geprägte Bihar weist im Gegensatz zu den indischen Großstädten und industriellen Ballungsgebieten eine weitgehend intakte Kastenstruktur aus, die allerdings überwiegend von den ärmsten und allerärmsten Schichten der Bevölkerung besetzt wird. Fast die Hälfte der Bevölkerung sind Kastenlose (Dalits) oder gehören Subkasten an, die am Ende der Kastenhierarchie stehen. Hinzu kommt der muslimische Bevölkerungsanteil (17 Prozent), der ebenfalls zu den ärmsten der Gesellschaft gehört. Die oberen Kasten stellen hingegen nur 14 Prozent der Bevölkerung. Die BJP setzt traditionell auf diese Oberschicht, schafft sich aber zugleich einen Zugang zur Wählerschaft der Kastenlosen und Niedrigkastigen. Zugpferd ist dabei Modi, bekanntlich aus einer niedrigen Kaste stammend. Darüber hinaus wurzeln die drei Bündnispartner der BJP in Gruppierungen der Kastenlosen und der Subkasten. Ihre Stimmen soll Jitam Ram Manjhi sichern, der für ein knappes Jahr Ministerpräsident Bihars war. Er entstammt einer Dalit-Gruppierung, den Musahar, die als "Rattenfresser" verhöhnt und diskriminiert werden, da sie Ratten fingen und diese in ihrer Not und Armut verspeisten. Manjhi hat als "Unreiner" Diskriminierung und Ausgrenzung selbst erfahren, mit Hilfe gesetzlicher Fördermaßnahmen schaffte er es aber in die höchsten politischen Ämter.

Die "große Allianz" verfügt mit Lalu Prasad Yadav und Nitish Kumar über zwei Politiker, die jahrelang als Ministerpräsident die Geschicke von Bihar - allerdings in völlig unterschiedlicher Weise - bestimmt haben. Der erstere ist, wie sein Name verrät, Angehöriger der Yadav-Kaste, zu der sich in Bihar zwölf Prozent der Bevölkerung bekennen. Sie ist von der Regierung in Neu Delhi in die Liste der Other Backward Castes (weitere rückständige Kasten - in Ergänzung zu den Kastenlosen) aufgenommen worden und erfreut sich so umfangreicher Fördermaßnahmen. Ursprünglich Viehzüchter und Hirten, üben sie heute auch viele andere Tätigkeiten aus. Mit Lalu Prasad Yadav und dessen Frau Rabri Devi besetzten sie von 1990 bis 2005 den Posten des Ministerpräsidenten von Bihar. Diese Jahre werden als die schlimmsten in der Geschichte des Bundesstaates bezeichnet. Die Familie Yadav wirtschaftete im großen Stil in die eigene Tasche und bevorzugte auf alle nur erdenkliche Weise die Angehörigen ihrer Kaste. Beobachter sprachen vom "Gesetz des Dschungels" und von Mafia-Strukturen, da neben der Korruption die Kriminalität mit Erpressung, Entführung und Mord einen Rekordstand erreichte. Yadav selbst wurde unter Korruptionsverdacht aus dem indischen Unterhaus ausgeschlossen, er verlor seinen Posten als Ministerpräsident (den er an seine Frau weiterreichte) und wurde schließlich 2013 zu fünf Jahren Haft und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Durch Kaution freigekommen, ist er wieder Vorsitzender seiner Partei und versucht im Wahlkampf, insbesondere seine Kaste und die Muslime zu gewinnen. Sein Bündnis mit Nitish Kumar, der seit 2005 die Regierungsgeschäfte in Bihar führt, löste große Verwunderung aus, denn mit diesem entschieden sich die Wähler vor zehn Jahren gegen die Familie Yadav und deren Misswirtschaft. Doch Kumar entstammt selbst einer rückständigen Kaste, den Kurmis. Beide eint jetzt ganz offensichtlich das Bestreben, möglichst viele Wählerstimmen aus der Masse der Armen zu gewinnen. Lalu Prasad Yadav bestätigte das, indem er erklärte, dass die Wahlen in Bihar ein Kampf zwischen rückständigen und hohen Kasten sind. Um diese Strategie zu durchkreuzen, verkündete nun die BJP, dass im Falle ihres Wahlsieges ein Kastenloser Ministerpräsident werden wird.

Der Missbrauch der Kastenzugehörigkeit für rein politische Zwecke ist ein allindisches Phänomen, das vor allem in sozial rückständigen Gebieten anzutreffen ist. Viele Politiker und Parteien verfügen über ihre "vote bank", ein sicheres Wählerreservoir, das sich auf die Kastenstruktur stützt. Nach einem Wahlerfolg werden dann bestimmte Kastengruppierungen belohnt, meist durch Vergabe von Ämtern auf allen Ebenen und durch Teilhabe an staatlichen Fördermaßnahmen. Diese Praxis steht im direkten Widerspruch zur in Indien viel gepriesenen Demokratie und wird immer mal wieder angeprangert. Da sich aber alle Parteien ihrer bedienen, ändert sich nichts. Das Grundübel sind die von alters her durch das Kastensystem strukturierten sozialökonomischen Verhältnisse, die damit auch die Stellung der Menschen in der Gesellschaft festlegen. Das neue Indien hat seit der Unabhängigkeit einiges getan, um sozialökonomische Ungleichheiten abzubauen und Verbrechen im Namen von Kasten strafrechtlich zu verfolgen. Seit 1950 erfolgten in mehreren Etappen verfassungsrechtliche Festlegungen, wonach für Kastenlose, Angehörigen von rückständigen Kasten, Teilen der Stammesbevölkerung sowie der ärmsten Muslimschichten bis zu 49,5 Prozent der Verwaltungsposten und Studienplätze reserviert werden. Soweit so gut - jedoch haben diese Maßnahmen neue, gravierende Ungleichheiten entstehen lassen. So verfügen die Kastenlosen mittlerweile über eine Millionärsschicht, in Indien "Sahneschicht" genannt, mit einem Milliardär an der Spitze. Mittlere und obere Kasten fühlen sich durch die Reservierungspolitik und das Quotensystem benachteiligt und üben immer stärker Kritik daran. Es werden auch immer mehr Fälle bekannt, wo einige mächtige Subkasten die Reservierungspolitik ausnutzen, um ganze Verwaltungssysteme zu unterwandern. So spricht m an von einer Yadavisation der Polizeikräfte im großen Bundesstaat Uttar Pradesh.

In den letzten Monaten hat der Protest eine neue Qualität erreicht: Nunmehr wird darauf verwiesen, dass es auch in den oberen Kasten ein starkes soziales Gefälle gibt, in einigen sogar - wie bei den Brahmanen - massenhafte Armut. Die Regierung wird aufgefordert, das Reservierungssystem der heutigen Zeit anzupassen und ihm nicht mehr die Kastenzugehörigkeit sondern die wirtschaftliche und soziale Lage zugrunde zu legen. Neu Delhi wird sich dieser Problematik stellen müssen, Lösungen könnten dazu beitragen, dem total überholten Kastensystem und seinen Missbrauch durch die Politik weiteren Boden zu entziehen.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 21/2015 vom 12. Oktober 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2015

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