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DAS BLÄTTCHEN/935: Das Neuner-Jahr


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 1/2009 - 5. Januar 2009

Das Neuner-Jahr

Von Erhard Crome


Es ist zu einer Abendveranstaltung zum Thema internationale Finanzkrise eingeladen. Der Referent ist einer der profiliertesten Wirtschaftshistoriker dieses Landes. Er spricht ruhig über Strukturen, Institutionen und Verlaufsformen. Nach zehn Minuten wird im Publikum ein junger Mann unruhig und redet dazwischen. Als er sagt, der Referent habe keine Ahnung, wird er aufgefordert, nicht zu stören; wenn er Vorträge halten wolle, solle er doch eigens dazu einladen. Der Mann springt auf, zieht seine Jacke an und geht. In der Tür dreht er sich nochmals um und wiederholt, der Referent habe keine Ahnung. Unter YouTube gäbe es einen Trickfilm, in dem sei alles erklärt.

Die Erklärungen des Referenten, die mit den Funktionen des Geldes und den Eigenheiten der Finanzmärkte unter der Voraussetzung des neoliberalen Globalismus zu tun hatten - am Ende mit theoretischen Reflexionen, mit Logik und Dialektik -, hatte der junge Mann nicht zu verstehen vermocht. Ihm fehlten die gewohnten einfachen Antworten der Bildfetzen aus dem Internet. Antworten aus kritischer Abstraktion zu erarbeiten, hatte er nicht erlernt.

Ein individuelles Problem? Den Professor mehrmals zu unterbrechen, war zumindest unhöflich. Aber das ist ja in manchen Kreisen heutzutage üblich. Wenn bereits die "Selbstverwirklichung" der Kleinkinder auf Nichterziehung hinausläuft, ist das nur folgerichtig. Daß diese Geschöpfe auch nicht mehr reflektierend denken können, sondern nur noch nach ihren gewohnten bunten Irrlichtern aus dem Netz suchen und sich wundern, wenn jemand denkend redet, ohne Power Point und Bildchen - das ist bereits ein gesellschaftliches Problem. Was steht uns bevor?

Dieter Hildebrandt, der Altmeister der deutschen Kabarettisten, erzählt in dem Buch, das er sich zu seinem achtzigsten Geburtstag geschrieben hat (Nie wieder achtzig!) eine Geschichte, die ihm Klaus Bölling, der Regierungssprecher unter Bundeskanzler Schmidt, berichtet hat. Die geht so: Eine junge Journalistin ruft im Willy-Brandt-Haus an, teilt mit, daß sie gerade über die deutsche Sozialdemokratie schreibt, und bittet um ein persönliches Gespräch mit Herbert Wehner. Am anderen Ende der Leitung sitzt jemand, der schlagfertig ist, und antwortet, das ginge nicht, "der spricht gerade mit Franz Josef Strauß". Da sagt die Journalistin: "Dann rufe ich später noch mal an."

So haben wir, gleichsam exemplarisch, die Zeitungsschreiberin, die nicht weiß, worüber sie schreibt, und den Konsumenten von Informationen, der reflektierende Gedankengänge nicht zu verstehen vermag.

Das sind prima Voraussetzungen für die Gedenkartikel und Reportagen in diesem Jahre 2009. Die CDU hat auf ihrem Parteitag im Dezember 2008 schon mal beschlossen, die DDR sei gefälligst auf "40 Jahre politisches Unrecht" zu reduzieren. Oder ein anderes Beispiel, herausgegriffen aus dem politischen Alltag, kurz vor Weihnachten: Norman Paech begründet im deutschen Bundestag für DIE LINKE die Ablehnung des Einsatzes der Bundesmarine gegen die Piraten vor Somalia und verweist auf das Versenken eines Fischtrawlers durch eine indische Fregatte. FDP-Generalsekretär Dirk Niebel ruft dazwischen, er kenne sich wohl nur mit "russischen Trawlern" aus. Niebel versucht so mangels Argumenten Paech die "DDR-Schelle" um den Hals zu hängen, obwohl er als geborener Hamburger wissen müßte, daß dieser jahrzehntelang Professor in Hamburg und dortselbst über dreißig Jahre Mitglied der SPD war, bevor er wegen des Afghanistankrieges dort aus- und später in DIE LINKE eintrat. Die Grünen haben inzwischen nachgezogen und sich Andreas Schulz als Mitarbeiter der Bundestagsfraktion geholt; er war bisher der Pressesprecher von Marianne Birthler, der Bundesbeauftragten für die ehemaligen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

Das Jahr 2009 ist das Jahr der "Neunen": 1919 wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ermordet und die Weimarer Republik gegründet. Im Jahre 1929 verzapfte das Großkapital an den Börsen die Weltwirtschaftskrise, die in Deutschland in die Naziherrschaft mündete. 1939 begannen dann die solcherart regierten Deutschen den Zweiten Weltkrieg, indem sie Polen überfielen. 1949 wurden die beiden deutschen Staaten gegründet. 1989 fiel die Mauer in Berlin, was die deutsche Vereinheitlichung 1990 zur Folge hatte. So viel Geschichte. So viele Fragen, die zu stellen wären. Hatten eigentlich die Ermordung der beiden, damals bedeutendsten deutschen Linken und die Gründung der Weimarer Republik, die dann so wurde, wie sie war, miteinander zu tun? Und wenn ja, was? In welchem Zusammenhang standen der Börsenkrach und die Hitler-Herrschaft in Deutschland? War der Krieg die folgerichtige Konsequenz dessen? Mußte es, nachdem dieses Deutschland dann eine eklatante Niederlage erlitten hatte, 1949 notwendig zwei deutsche Staaten geben, oder wäre auch einer möglich gewesen, wenn bestimmte Akteure in Ost und West anders gehandelt hätten? Waren Mauerbau und Mauerfall eine Konsequenz dieser Zweistaatlichkeit oder nur die Folge des Scheiterns des Realsozialismus als Gesellschaftsmodell? War die deutsche Vereinigung zu dem real existierenden Deutschland, wie es jetzt ist, die einzig mögliche Folge jenes Mauerfalls, oder hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben, zum Beispiel eine neue, gesamtdeutsche Verfassungsdebatte nach dem alten Artikel 146 des Grundgesetzes?

All diese, und viele weitere Fragen sollen ungestellt und unbeantwortet bleiben. Es soll einzig um den gewesenen "Unrechtsstaat" gehen in diesem 2009er Jahr, zumindest wenn es nach der CDU und den anderen "Bürgerlichen" geht. Es wird immer "unrechtiger", je länger 1989 zurückliegt. Und es werden die vielen Journalisten schreiben, die Termine bei Herbert Wehner nachfragen, und die Leser lesen, die bei Youtube Antworten zur Finanzkrise suchen.


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 1, 12. Jg., 5. Januar 2009, S. 1-3
Herausgegeben vom Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009