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DAS BLÄTTCHEN/937: Wie tot ist Marx wirklich?


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 1/2009 - 5. Januar 2009

Wie tot ist Marx wirklich?

Von Klaus-Dieter Block


Wie aktuell ist Marx? Antworten gibt es hier in der ganzen Bandbreite. Von Erzbischof Reinhard Marx, der in seinem Buch "Das Kapital - Ein Plädoyer für den Menschen" vor der "verheerenden Gefahr" warnt, "wenn die falschen Ideen von Marx und seinen Epigonen erneut Zulauf bekommen", bis zum Nachweis der Aktualität von Marx' politökonomischer Analyse, wie sie zum Beispiel Elmar Altvater im "Freitag" oder Michael Krätke in der "jungen Welt" ausführlich begründeten.

Die Finanzkrise "ohne oder kontra" Marx zu erklären, zum Beispiel mit der rassistischen Unterscheidung zwischen "schaffendem und raffendem Kapital", hieße, bei der Gier der Banker oder bei der sinnbildlichen Heuschreckenplage oder bei unglücklichen politischen Entscheidungen anzusetzen. Kommt man so zu Wurzeln des Übels?

In der Politischen Ökonomie von Marx sind es drei Pfeiler, über die man eine Brücke in die Gegenwart schlagen kann: die Genesis seiner Krisentheorie, die wesentlichen Erkenntnisse dieser Theorie und schließlich seine Aussagen zum zinstragenden Kapital, hier speziell zum Kredit und zum fiktiven Kapital im dritten Band des "Kapitals".

Zur Genesis: Eine schon Anfang der 1840er Jahre für Engels und Marx starke Motivation, die Krisen zu analysieren - viele Details wurden hier von ihnen schon richtig gedeutet -, war die Hoffnung auf einen Zusammenhang zwischen Krise und revolutionärer Situation. Diese Hoffnung zerschlug sich allerdings schon in der Revolution 1848/49, lebte aber ein knappes Jahrzehnt bis zur ersten Weltmarktkrise 1857/58 weiter. Auf der Basis intensiver Studien in London, dokumentiert in den "Londoner Heften" oder im "Book of Crisis of 1857", skizzierte Marx in den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie" seinen Plan der sechs Bücher, in dem er als "Schlußsteine" des Kapitalgebäudes den Weltmarkt und die Krisen (nach dem Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum, Staat und auswärtigem Handel) als 6. Buch einordnete. "... der Weltmarkt (bildet) den Abschluß ... worin zugleich alle Widersprüche zum Process kommen... Die Crisen sind das allgemeine Hinausweisen über die Voraussetzung und das Drängen zur Annahme einer neuen geschichtlichen Gestalt."

In seiner reifen politischen Ökonomie in den 1860er Jahren löste sich Marx von dem direkten Zusammenhang zwischen Krisen und Revolution, untersetzte aber seine Auffassung, daß die Weltmarktkrisen als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden müssen. Marx' reife Erkenntnisse zur Krise und zum Finanzkapital bieten zahlreiche Ansätze für die Erklärung der aktuellen Krise, der ersten Weltmarktkrise der modernen Globalisierung. Vier sollen hier kurz skizziert werden:

Erstens: Wirtschaftskrisen sind in der Regel Überproduktionskrisen, die nicht zufällig oder durch Störungen von Angebot und Nachfrage oder durch außerökonomische Faktoren ausgelöst werden. Sie gehören zum Reproduktionsprozeß des gesellschaftlichen Gesamtkapitals und verlaufen zyklisch in "Perioden mittlerer Lebendigkeit, Prosperität, Überproduktion, Krise und Stagnation". Die Funktion der Krise ist die Korrektur von wirtschaftlichen und finanziellen Disproportionen, insbesondere zwischen Produktion und Markt. Sie schafft Bedingungen für eine neue Kapitalverwertung.

Bereits im Ersten Band des "Kapitals" hat Marx die abstrakte Möglichkeit von Krisen, durch das Auseinanderfallen von Kauf der Ware und ihrer Bezahlung - besonders augenfällig, wenn eine Kreditkette reißt - begründet.

Zweitens: Auch die aktuelle Überproduktionskrise begann, wie so oft in der Geschichte des Kapitals, mit Krisen im Finanz-, Banken- und Börsensektor. Sie sind der scheinbare Auslöser für einen Dominoeffekt vom Sturz der Aktienkurse über die Verengung des Kreditmarktes, den Rückgang der Investitionen, die Drosselung der Produktion und den Anstieg der Arbeitslosigkeit bis zur Rezession. Ursache ist aber hier die Überproduktion und die zunehmend fehlenden Möglichkeiten, liquides Kapital profitabel einzusetzen. Es ist letztlich der tendenzielle Fall der Profitrate, der das Kapital von der Realwirtschaft in die Finanzwirtschaft treibt und hier auch spekulativ von Branche zu Branche ziehen und "Blasen" erzeugen läßt.

Drittens: Auch die aktuelle Krise ist eine dramatische Widerspiegelung der. Antagonismen zwischen Real- und Finanzökonomie beziehungsweise Geld mit all seinen Geschwistern, vom Hedgefonds bis zu Investmentzertifikaten. Zum wiederholten Male platzt die Illusion, fixiert in der Formel G-G', daß Geld Geld produziert. Schon Aristoteles wußte, daß Geld keine Jungen zeugt.

Das fiktive Kapital in Form von Anleihen, Obligationen, Pfandbriefen oder Aktien, so Marx in einem weiteren Ansatz, existiert nicht. Es ist eine "rein illusorische Vorstellung". Aber, es bewegt sich nicht im luftleeren Raum und unabhängig vom Produktionsprozeß. Hier gilt schließlich im Sinne des Wertgesetzes: "Es muß aber nie vergessen werden, daß ... Geld - in der Form der edlen Metalle - die Unterlage bleibt, wovon das Kreditwesen der Natur der Sache nie loskommen kann."

Gold ist es heute nicht mehr, aber es muß ein wertmäßiges Äquivalent zum fiktiven Kapital geben. Diese Proportion kann nicht dauerhaft durch beliebiges "Drucken" von Geld oder Wertpapieren außer Kraft gesetzt werden. Letztere werden durch Krisen gewaltsam auf die "Unterlage" zurückgeholt.

Viertens: Aktuell sind schließlich Marx' Sichten auf den Fetischcharakter der Ware und des Geldes, wie er sich in Krisenzeiten besonders exponiert zeigt. Hans Martin Lohmann schreibt über die Bewußtlosigkeit, mit welcher der Prozeß der Selbstverwertung des Kapitals von den beteiligten Individuen quittiert wird, daß, "das Kapital nicht als soziales, von Menschen geschaffenes Verhältnis, vielmehr als scheinbar selbständiges Subjekt, das seinen eigenen Gesetzen folgt", erscheint. ("Politisches Feuilleton" im Deutschlandradio Kultur, 11. September 2007)

Oder: "Wissenschaftliche Wahrheit ist immer paradox vom Standpunkt der alltäglichen Erfahrung, die nur den täuschenden Schein der Dinge wahrnimmt."


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 1, 12. Jg., 5. Januar 2009, S. 8-10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2009