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GEGENWIND/391: Hartz-IV-Sanktionsparagraphen aussetzen!


Gegenwind Nr. 253 - Oktober 2009
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Bündnis für ein Sanktionsmoratorium:
Sanktionsparagraphen aussetzen!

Von Rolf Klinkel


Vor etwa einem Monat hat ein Bündnis aus Politik, Wissenschaft und Erwerbsloseninitiativen einen Aufruf zur Aussetzung der Hartz-IV-Sanktionen vorgestellt, der von über hundert namhaften Personen und Organisationen aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen unterzeichnet wurde. Auch die Lübecker GRÜNEN und die GRÜNE Bürgerschaftsfraktion unterstützen das Moratorium und haben es unterschrieben.


Nun soll auch die Lübecker Bürgerschaft das Gleiche tun und der Bürgermeister seine Unterschrift darunter setzen. Dies fordern die GRÜNEN in einem Antrag für die nächste Bürgerschaftssitzung.

Allein in der Hansestadt bestrafte die Betreuungsstelle für Langzeitarbeitslose (ARGE Lübeck) im letzten Jahr 3.189 Hilfeempfänger und -empfängerinnen mit der Kürzung oder der Streichung des Existenzminimums.

In vielen Fällen waren die ausgesprochenen Sanktionen willkürlich und rechtswidrig. So reicht schon eine "aufrührerische Gesinnung" und angebliches "Politikmachen" während einer "Qualifizierungsmaßnahme" für eine Leistungskürzung aus. Aber auch "ungenehmigte Verletzungen" der Stadtgrenzen können als Ortsabwesenheit sanktioniert werden.

Erwerbslose müssen ihre Arbeitsplatzbewerbungen nachweisen und eine Mindestzahl in der ARGE vorlegen. Wenn dies - z. B. wegen fehlender Arbeitsangebote - nicht möglich ist, werden die Leistungen trotzdem gekürzt oder gänzlich gestrichen.

Arme Menschen sind verpflichtet, auch die miesesten und die am schlechtesten bezahlten Jobs anzunehmen. Tarif- oder Mindestlöhne spielen dabei keine Rolle. Wer nicht bereit ist, für einen Hungerlohn (1,00 - 7,50 Euro Stundenlohn) zu arbeiten, wird drei Monate lang mit einer 30-prozentigen Leistungskürzung bestraft.

Die schwarz-rote Bundesregierung erhöhte sogar noch diese Strafen. So hat eine weitere Sanktion innerhalb eines Jahres deren Verdoppelung zur Folge. Eine dritte führt zur Streichung der gesamten Sozialleistungen und zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz Arbeit suchender Menschen. Erst durch diese Zwangsmaßnahmen haben die Leiharbeit und die übrigen schlecht bezahlen Arbeitsverhältnisse das derzeitige erschreckende Ausmaß erreicht.

Alle Personen und alle Organisationen, die die schändlichen Sanktionen für Arbeitslose und den damit verbundenen Weg ins "Armutslohnland" stoppen wollen, sollen das Moratorium unterschreiben. Nur eine breite Unterstützung hat Erfolg! Deshalb ist es wichtig die Aktion auch über Newsletter oder Verteiler bekannt zu machen und Unterschriften zu sammeln. Das dazugehörige Material sowie Informationen über das Bündnis befindet sich auf der Webseite: www.sanktionsmoratorium.de.

Rolf Klinkel
sozialpolitischer Sprecher der Lübecker GRÜNEN und Mitglied der Lübecker Bürgerschaft


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Aufruf für ein Sanktionsmoratorium!

Jeden Monat wird in diesem Land zigtausenden Erwerbslosen mit Sanktionen das Existenzminimum gekürzt oder sogar gestrichen, weil sie Forderungen der JobCenter nicht erfüllt haben oder weil ihnen dies unterstellt wird. Im Jahr 2008 wurden über 780.000 derartige Sanktionen verhängt. Ist schon der rigide Hartz-IV-Sanktionsparagraph mehr als problematisch, so führt die katastrophale Personalsituation in den JobCentern zu einer Praxis, die für die Betroffenen unzumutbar ist. Von den 2008 eingelegten Widersprüchen gegen Sanktionen waren 41 % ganz oder teilweise erfolgreich, von den eingereichten Klagen 65 %. Die Auswirkungen von Sanktionen werden dadurch verschärft, dass Widersprüche keine aufschiebende Wirkung haben, d.h. die Menschen müssen, auch wenn sie letztlich nach gerichtlicher Kontrolle Recht bekommen, unter den Sanktionen leiden.


Das Existenzminimum darf nicht angetastet werden!

Um es klar zu stellen: Es geht hier nicht um Leistungsmissbrauch, sondern um Menschen, die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind und denen man irgendein Fehlverhalten vorwirft. In den wenigsten Fällen ist dies die Ablehnung einer als zumutbar geltenden Arbeit. Die meisten Sanktionen werden verhängt wegen Konflikten um Meldetermine, um die Anzahl von Bewerbungen, um Ein-Euro-'Jobs' und andere Maßnahmen, wie z.B. Bewerbungstraining und Praktika. Sanktioniert werden auch nachvollziehbare Handlungen, die bei korrekter Rechtsanwendung nicht sanktioniert werden dürften, z.B. der Abbruch einer unsinnigen Maßnahme oder die Ablehnung einer sittenwidrigen Arbeit. Unter 25jährige werden besonders hart und unverhältnismäßig bestraft. Ihnen muss schon beim ersten Pflichtverstoß - von Meldeversäumnissen abgesehen - der gesamte Regelsatz für drei Monate gestrichen werden.


Arbeitslose sind nicht an der Arbeitslosigkeit schuld!

Es fehlen Existenz sichernde Arbeitsplätze. Dieses Grundproblem, das durch die Wirtschaftskrise verschärft wird, kann mit Sanktionen nicht gelöst werden. Mit dem Sanktionsregime wird jedoch so getan, als hätten die Erwerbslosen ihre Lage verursacht und müssten zur Arbeit getrieben werden. Dabei zwingt das Sanktionsregime nicht nur Alg-II-Beziehende, Arbeit um jeden Preis und zu jedem Preis anzunehmen, es wirkt auch als Drohkulisse für die Noch-Erwerbstätigen und ihre Interessenvertretungen.


Sanktionen als Mittel, um Sparvorgaben zu erfüllen?

Die Sanktionen werden auch vor dem Hintergrund von Sparvorgaben verhängt, welche das Bundesministerium für Arbeit und Soziales über die Bundesagentur für Arbeit den JobCentern auferlegt. Für das Abschwungjahr 2009 wurde das "ehrgeizige" Ziel gesetzt, die Existenz sichernden Leistungen um 3 % zu senken und die Vermittlungsquote in den erwartbar enger werdenden Arbeitsmarkt zu erhöhen. Vielfach sehen Mitarbeiter nur durch verstärkte Sanktionen die Möglichkeit, diese Zielvorgaben zu erreichen. Die Vermittlungsquote kann ohnehin nur durch den Zwang, ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse anzunehmen, erreicht werden. Der Druck, bei der Bundestagswahl gute Zahlen zu präsentieren, kann diese Entwicklung kurzfristig noch verschärfen.


Ein Moratorium ist nötig!

In der Frage, ob die Hartz-IV-Sanktionen grundsätzlich gegen Grundrechte verstoßen, haben wir, die Erstunterzeichner, unterschiedliche Auffassungen. Wir sind uns aber darin einig, dass angesichts der gegenwärtigen Zustände in den JobCentern der Vollzug von Sanktionen sofort gestoppt werden muss. Es ist dringend notwendig, die Missstände in den JobCentern, die bislang in ihrem Ausmaß zu wenig bekannt sind, offen zu legen, für deren Beseitigung zu sorgen und den gegenwärtigen Sanktionsparagraphen grundlegend zu überdenken. Während dessen dürfen Erwerbslose nicht den derzeit verbreiteten Sanktionspraktiken ausgesetzt werden. Ein sofortiges Moratorium, ein Aussetzen des Sanktionsparagraphen, ist deshalb notwendig.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 253 - Oktober 2009, Seite 30-31
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2009