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GEGENWIND/435: Verfassungsgericht Schleswig-Holstein will Landtag auflösen


Gegenwind Nr. 265 - Oktober 2010
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

LANDTAG Schleswig - Holstein

Im Namen des Volkes
Das Verfassungsgericht Schleswig-Holstein will den Landtag auflösen

Von Reinhard Pohl


Verstanden hatte es kaum jemand: Bei der Landtagswahl 2009 bekamen die späteren vier Oppositionsparteien zusammengerechnet mehr Stimmen als CDU und FDP, dennoch bekamen CDU und FDP mehr Sitze im Parlament - erst drei Sitze mehr, dann wanderte einer im Januar 2011 von der FDP zur Linken, seitdem ist es ein Sitz mehr. Dass das irgendwie nicht sein kann, hatten viele im Gefühl - am 30. August erklärte das Landesverfassungsgericht, dass das tatsächlich so nicht geht. Die 140 Seiten Begründung sind aber nicht leicht verständlich - Gelegenheit für viele Landespolitiker, ihre Interpretation des Urteils unters Volk zu bringen.


Verfassung und Wahlgesetz

Das Problem ist das Zusammenspiel von Verfassung und Wahlgesetz. Die Verfassung schreibt ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht vor. Außerdem schreibt die Verfassung vor, dass es normalerweise nach einer Wahl 69 Abgeordnete geben soll. In Ausnahmefällen soll es Überhangmandate geben - wenn von einer Partei mehr Direktkandidaten gewählt sind als sie nach der Zweitstimmenzahl Abgeordnete hat. Diese Überhangmandate sollen durch Mandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden.

Das Wahlgesetz sieht nun vor, dass es 69 Abgeordnete geben soll, von denen 40 direkt gewählt werden. Das funktioniert, wenn die Direktkandidaten von zwei großen Parteien kommen. Es funktioniert nicht, wenn eine Partei mit knappen Vorsprung alle oder fast alle Direktmandate gewinnt - eine Partei, die auf 35 Prozent der Stimmen kommt und 40 Abgeordnete direkt in den Landtag schickt, erfordert dann ungefähr 60 weitere Abgeordnete, um ein Parlament entsprechend dem Wahlergebnis zusammen zu basteln.

Hier wählt das Wahlgesetz einen Kompromiss: Überhangmandate sollen voll anerkannt werden, weil die Abgeordneten ja jeweils in einem Wahlkreis gewählt wurden. Dann soll es aber höchstens die doppelte Zahl an Ausgleichsmandaten geben. Bei der letzten Wahl bekam die CDU 34 Abgeordnete (direkt), nach dem Wahlergebnis hätte sie aber nur 23 von 69 Abgeordneten im Landtag haben dürfen (ein Drittel der Stimmen ein Drittel der Abgeordneten). Danach wurden 22 Ausgleichsmandate an die anderen Parteien verteilt, dazu noch eines mehr, um eine ungerade Zahl von Abgeordneten zu erreichen - man hätte aber 29 Abgeordnete der anderen Parteien gebraucht, um das prozentuale Ergebnis der Zweitstimmen im Landtag abzubilden. Wenn mit einem Drittel der Stimmen 34 Abgeordnete der CDU gewählt wurden, müssen alle anderen 67 Abgeordnete bekommen (vgl. auch: "Zahlenspiele". Gegenwind 254, Seite 19).


Klage

Zwei Klagen wurden dagegen eingereicht:

Grüne und SSW klagten "abstrakt" gegen das Wahlgesetz: Wenn die Verfassung einen Ausgleich von Überhangmandaten vorsehe, dürfe das Wahlgesetz nicht eine Begrenzung einführen (höchstens die doppelte Zahl). Dann wäre die Verfassung nicht mehr erfüllt.

Die Linke und viele einzelne WählerInnen und Gruppen klagten gegen die Feststellung des Ergebnisses, also den formellen Landtagsbeschluss: Die Aufteilung der Stimmen auf 95 statt 101 Abgeordnete wäre verfassungswidrig.

Am 30. August verkündete das Verfassungsgericht formell zwei Urteile:

Die Klage von SSW und Grünen sei "begründet", das Wahlgesetz entspreche nicht den Vorgaben der Verfassung.

Die Klagen der Linken und der WählerInnen, aus mehreren Verfahren zu einem zusammengefasst, bekamen ebenfalls recht: Die Berechnung der Abgeordneten wäre falsch.

Daraus schloss das Gericht: Wenn das Wahlgesetz nicht verfassungsgemäß ist, ist die Wahl auf der Grundlage des Wahlgesetzes auch nicht verfassungsgemäß. Wenn die Berechnung der Abgeordnetenmandate auf der Grundlage eines verfassungswidrigen Gesetzes erfolgt, dann ist der Landtag nicht verfassungsgemäß gewählt und nicht verfassungsgemäß zustande gekommen.


Wahl wiederholen?

Nein, sagt das Verfassungsgericht. Es wäre logisch, eine ungültige Wahl zu wiederholen, aber es gibt ja kein verfassungsmäßiges Wahlgesetz.

Auch die Korrektur des "falschen" Wahlergebnisses - die CDU erhielt mehr Mandate als ihr nach der Stimmenzahl zustehen - ist nicht möglich: Auch ein anders zusammengesetzter Landtag wäre verfassungswidrig. Deshalb bekommt der bestehende Landtag (nicht die Landesregierung!) "Bestandsschutz".

Aber ein nicht verfassungsgemäß gewählter und nicht verfassungsgemäß zusammengesetzter Landtag könne auch nicht einfach so weitermachen. Deshalb wollen die Richter, die übrigens einstimmig entschieden, dass der Landtag so schnell wie möglich ein verfassungsgemäßes Wahlgesetz beschließt. Das muss im Mai 2011 erledigt sein.

Wie das neue Gesetz aussieht, weiß das Gericht natürlich nicht und kann es auch nicht vorschreiben. Es stellt nur fest: Wenn die Verfassung vorschreibt, das es nach einer Wahl 69 gewählte Abgeordnete geben soll, dann muss das Gesetz die Wahl so organisieren, dass das auch so eintritt. Wenn von 69 Abgeordneten 40 direkt gewählt werden und es keine im Vergleich zu den anderen übergroße Partei gibt, sondern ein Direktmandat schon mit 25 bis 30 Prozent geholt werden kann, dann kann das so mathematisch nicht funktionieren.

Da es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gibt, was im neuen Wahlgesetz anders geregelt werden kann, lässt das Gericht dem Landtag dann ein Jahr und auch noch die Sommerferien Zeit, eine neue Landtagswahl nach dem neuen Gesetz zu organisieren. Der neue Landtag muss aber spätestens im September 2012 gewählt werden, also zwei Jahre vor dem eigentlich vorgesehenen Termin.


Möglichkeiten

Zunächst einmal gibt es ein paar "natürliche" Positionen, die nicht so sehr mit politischen Überzeugungen zu tun haben:

Große Parteien wie CDU und SPD wollen viele Wahlkreise, weil sie Direktkandidaten durchbringen können, diese dann Wahlkreisbüros haben, "die Region" repräsentieren. Kleine Parteien wie Grüne, FDP, SSW und Linke können ohne Probleme auf Wahlkreise verzichten, könnten also auch mit 25 oder 30 Wahlkreisen leben, weil es für sie nur eine organisatorische Frage ist. Sie stellen in der Regel nur "Zählkandidaten" auf, damit jemand auf dem Zettel steht.

Große Parteien hätten Vorteile vom 1-Stimmen-Wahlrecht: Man kreuzt einen Direktkandidaten oder -kandidatin an, und das ist auch die Parteistimme. Kleine Parteien mögen das Zwei-Stimmen-Wahlrecht lieber, weil sie vom Stimmen-Splitting leben. Viele Leute kreuzen eben als Direktkandidaten die VertreterInnen von SPD oder CDU an, bei der zweiten Stimme machen sie ihr Kreuz auch gerne mal bei einer kleineren Partei.

Große Parteien mögen ein großes Parlament, da es auch um die ausgewogene Versorgung aller Parteiflügel, Parteiarbeitsgruppen, Kreisverbände etc. geht. Schon bei solch einem verhältnismäßig großen 95-Sitze-Parlament hat die CDU als stärkste Fraktion Probleme, auch VertreterInnen der Kreisverbände Kiel und Lübeck im Parlament unterzubringen. Kleine Parteien können auch mit einem kleineren Parlament leben.

Die in der Verfassung genannte Zahl von 69 Abgeordneten ist in gewisser Weise willkürlich. Sie wurde damals von CDU und SPD reingeschrieben, um uns Wählerinnen und Wähler zu beruhigen. Denn schon damals um die Jahrtausendwende war das Parlament "zu groß", die Zahl der Direktmandate wurde von dieser "Großen Koalition" aber nur von 45 auf 40 gesenkt (die kleinen Parteien hatten 30 oder 35 vorgeschlagen). Da aber gleichzeitig über die Erhöhung der Abgeordnetenbezüge diskutiert wurde, nutzten CDU und SPD die "Verkleinerung" des Parlaments zur Beruhigung der Öffentlichkeit.

Hier liegt das wesentliche Problem: Während aus Image-Gründen die Zahl "69" in die Verfassung geschrieben wurde, wurden im Wahlgesetz 40 Wahlkreise, Überhang- und Ausgleichsmandate vorgeschrieben. Das ist die Hauptkritik des Verfassungsgerichtes - das Wahlgesetz ist ein geplanter Verstoß gegen die Verfassung.


Gleichgewicht der Stimmen

Die zweite Kritik des Verfassungsgerichtes betrifft das Ungleichgewicht der einzelnen Stimmen. So gibt es große und kleine Wahlkreise, eine Abweichung um fast 50 Prozent. Das liegt daran, dass die Größe nach Bevölkerung (nicht nach Stimmberechtigten) um bis zu 25 Prozent nach oben und unten abweichen darf. In der Realität weicht der kleinste Wahlkreis fast 24 Prozent nach unten, der größte fast 24 Prozent nach oben ab. Wer im kleinsten Wahlkreis wohnt, hat also mathematisch eine viel einfachere Möglichkeit, dem Kandidaten oder der Kandidatin einer Partei zu einem Parlamentssitz, damit eventuell zu einem Überhangmandat, und damit durch die Deckelung der Ausgleichsmandate zu einem nicht ausgeglichen Überhangmandat zu verhelfen.

Auf die Fraktionen umgerechnet bedeutet das, dass 19.153 Schleswig-HolsteinerInnen ihr Kreuz bei der "Linken" machen mussten, um einen Abgeordnetensitz zu bekommen, während nur 14.871 UnionsanhängerInnen reichten für einen CDU-Sitz - Sitz für Sitz also 4283 Stimmen weniger. Eine CDU-Stimme wird durch das Wahlgesetz also "wertvoller" als eine Linken-Stimme.


Perspektive?

Die Parteien müssen sich jetzt darauf einigen, an welchen Stellschrauben sie drehen wollen, um ein verfassungsgemäßes Wahlgesetz zu beschließen. Das bedeutet Kompromisse in den Fragen:

- Zahl der Sitze
- Zahl der Wahlkreise
- Zahl der Stimmen bei der Wahl
- mögliche Abweichung der Wahlkreisgröße
- Zählverfahren zur Umrechnung der Stimmen in Sitze

Die Grünen haben bereits vor Monaten einen Entwurf für ein Wahlgesetz vorgelegt, zu dem auch schon eine umfangreiche Anhörung im Ausschuss stattgefunden bat. Sie wollen das Wahlgesetz mit möglichen Änderungen anderer Fraktionen gerne schnell verabschieden und dann Neuwahlen ansetzen. Die Wahl soll dann im Mai 2011 stattfinden.

Die SPD möchte die Vorstellungen aller Parteien bis zu den Herbstferien beim Landtagspräsidenten sammeln, um dann in der Dezember-Sitzung den Entwurf eines Wahlgesetzes im Landtag zu beraten, dem alle Fraktionen zustimmen können. "Wahlfrieden" nennt Ralf Stegner das Konzept. Da aber alle Wahlkreise neu festgelegt werden müssen, rechnet die SPD mit einer längeren Arbeitsphase zwischen Wahlgesetz-Verabschiedung und Neuwahl. Diese wäre im Oktober 2011 möglich.

Der SSW möchte Wahlgesetz und Neuwahlen so schnell wie möglich verabschieden. Realistisch wäre dann ein Wahltermin Ende 2011 oder spätestens Anfang 2012.

Die Linke will Neuwahlen auch so schnell wie möglich. Ob das vor oder nach den Sommerferien 2011 liegen könnte, ließ sie offen.

CDU und FDP betonten, man müsste das neue Wahlgesetz "sorgfältig" beraten - womit sie meinen, es dauert länger. Auch wollen sie nicht das vom Landtagspräsidenten vorgeschlagene gemeinsame Verfahren, sondern wollen einen gemeinsamen Gesetzentwurf in die Dezember-Sitzung des Landtags einbringen. Das ist schwer genug, gehen ihre Vorstellungen doch weit auseinander. Wolfgang Kubicki kündigte schon an, dass die Koalition zu Ende wäre, wenn die CDU im Dezember mit der SPD stimmt. Die CDU kündigte an, man könne sich mit allen Parteien im Landtag einigen.


Umfragen und Interessen

Neben der "natürlichen" Spaltung in große und kleine Parteien gibt es in dieser Situation auch eine Spaltung in Regierungs- und Oppositionsparteien. Der Doppelhaushalt 2011/12 entscheidet darüber, wer die Kosten der Krise trägt. Da möchte die schwarz-gelbe Koalition mit ihrer (verfassungswidrigen) 1-Stimmen-Mehrheit gerne Strukturen zerstören, die auch von einer neuen Regierung nicht wieder aufzubauen sind. Wenn das UKSH privatisiert, die Frauenhäuser geschlossen und die Beratungsstellen zusammengelegt sind, kann eine neue Regierung den Wiederaufbau kaum bezahlen.

Außerdem liegt nach den aktuellen Umfragen die FDP zwischen 4 und 6 Prozent, die CDU zwischen 31 und 33 Prozent. Allein SPD und Grüne liegen zusammen bei fast 50 Prozent, je nach SPD-Spitzenkandidat bei 30 zu 20 oder 35 zu 15 Prozent. Das alles wird sich bis zu einem Wahltermin noch stark verändert, aber es fällt Landtagsabgeordneten naturgemäß schwer, der Auflösung des eigenen Arbeitsplatzes zuzustimmen, wenn man über die Fortsetzung des Jobs keine Gewissheit hat.

Noch-Ministerpräsident Carstensen hat sich öffentlich bereits auf den Wahltermin 30. September 2012 festgelegt, also den letzten Tag der 25-Monats-Frist des Gerichtes.


Und außerhalb des Parlaments?

In Schleswig-Holstein hat sich das Bündnis "Gerecht geht anders" gebildet. Gemeinsam will man die vorgesehenen Kürzungen bei der Bildung, der Polizei, den Gefängnissen, den Beratungsstellen, den Behinderten und im Ökolandbau bekämpfen. Trotz des breiten Bündnisses von Gewerkschaften über Oppositionsparteien bis zu Wohlfahrtsverbänden demonstrierten am 8. September nur rund 3000 Menschen gegen den an diesem Tag eingebrachten Haushalt.

Für den 18. November ist die nächste landesweite Demonstration des gleichen Aufruferkreises geplant. Zur Legitimität der Regierung gibt es aber noch keine gemeinsame Position.


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Quelle:
Gegenwind Nr. 265 - Oktober 2010, Seite 14-16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Oktober 2010