Schattenblick →INFOPOOL →MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE

GEGENWIND/460: Muttersprache - Tülay Sendur aus der Türkei


Gegenwind Nr. 269 - Februar 2011
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern

Tülay Sendur aus der Türkei:
"Meine Muttersprache ist Kurdisch"

Interview von Reinhard Pohl


GEGENWIND: Welche Muttersprache hast Du? Wie bist du aufgewachsen?

TÜLAY SENDUR: Meine Muttersprache ist Kurdisch und zwar der Dialekt Zazaki. Bis ich fünf Jahre alt war, bin ich nur mit dieser Sprache aufgewachsen. Mit der Schule fing dann das Türkische an.

GEGENWIND: Wann hast Du denn als Kind gemerkt, dass Ihr zu Hause eine andere Sprache sprecht als die anderen Menschen?

TÜLAY SENDUR: Als ich mich in der Schule angemeldet habe, mit fünf oder sechs Jahren, hat die Lehrerin die Anmeldung abgelehnt. "Du kannst kein Türkisch, wir nehmen Dich nicht." Ich habe geweint, weil ich zur Schule gehen wollte. Ich sollte erst Türkisch lernen und dann wieder kommen. Ich bin nach Hause gegangen, habe ein Jahr lang ein bisschen Türkisch gelernt, und dann durfte ich zur Schule gehen. Bei uns lebten mehr Türken, es war kein Dorf, sondern eine Stadt. Vorher hatte ich das nicht gemerkt, aber jetzt war es mir als Kind peinlich, dass ich kein Türkisch konnte. Auch wurde das Kurdische von meinen LehrerInnen als etwas Primitives dargestellt.

GEGENWIND: Wie gut konnten Deine Eltern Türkisch?

TÜLAY SENDUR: Meine Mutter konnte überhaupt kein Türkisch, und sie kann es bis heute nicht. Mein Bruder konnte Türkisch, mein Vater konnte es auch ganz gut, weil er gearbeitet hat.

GEGENWIND: Von wem hast Du Türkisch gelernt?

TÜLAY SENDUR: Am Anfang von unseren türkischen Nachbarn und dann hauptsächlich in der Schule. Kurdisch war natürlich verboten, besonders in der Öffentlichkeit, aber in der Familie haben wir nur Kurdisch gesprochen. Auf der Straße eher geheim und leise. Sonst muss man auf der Straße Türkisch sprechen, vor allem natürlich in der Schule.

GEGENWIND: Hatten Deine Eltern Angst, wenn Du als kleines Kind auf der Straße Kurdisch gesprochen hast?

TÜLAY SENDUR: Ja, immer. Mein Vater wurde zweimal von Soldaten wegen unserer Volkszugehörigkeit, dem Bekennen dazu festgenommen, mein Bruder hatte auch Probleme. Das war ungefähr 1990 oder 1991.

GEGENWIND: Gab es mehr Leute in der Stadt, die Zazaki sprachen?

TÜLAY SENDUR: Ja, es waren nicht viele, es gab mehr Kurden die Kurmanci sprachen, aber es gab Nachbarn und Bekannte, die auch Zazaki sprechen.

GEGENWIND: Wann bist Du nach Deutschland gekommen?

TÜLAY SENDUR: 2006.

GEGENWIND: Warum?

TÜLAY SENDUR: Wegen genau dieser politischen Probleme. Wir wohnten schon lange in Istanbul, wir sind vor den Problemen aus dem kurdischen Teil der Türkei geflohen und haben versucht, in Istanbul zu leben. Ich habe mich dort für die Kurden und ihre Rechte eingesetzt, ungefähr sechs Jahre lang. Ich bekam dann Ärger und musste weg.

GEGENWIND: War es die Sprache oder die politischen Aktivitäten?

TÜLAY SENDUR: Es war beides. Es war aber auch wegen meiner Sprache. Ich habe mich immer für unsere Rechte und unsere Sprache eingesetzt. Ich hätte sehr gerne auch in der Schule in meiner Sprache Unterricht haben wollen. Meine Muttersprache hätte ich gerne lernen wollen, in ihr schreiben und lesen wollen, dies ging aber nicht. Denn es ist sehr wichtig auch die eigene Muttersprache zu lernen; auch für die spätere Entwicklung ist dies von großer Bedeutung. Ich musste plötzlich eine wildfremde Sprache lernen, was ich bis dahin konnte zählte nichts mehr. Es wurde verboten und diffamiert. Ich fand es immer ungerecht, wie Kurden in der Türkei behandelt werden, dagegen habe ich mich aktiv eingesetzt. Schon die Forderung des muttersprachlichen Unterrichts für die Kurden bringt einen ins Gefängnis. Hunderte von Studenten wurde letztes Jahr aus den Universitäten exmatrikuliert, weil sie Kurdisch-Unterricht forderten. Sobald man sich für die Rechte der Kurden einsetzt, bekommt man in der Türkei Ärger.

GEGENWIND: Hast Du hier Asyl beantragt?

TÜLAY SENDUR: Genau.

GEGENWIND: Welche Sprache sprach Dein Dolmetscher bei der Aufnahme des Asylantrages?

TÜLAY SENDUR: Kurdisch. Er sprach Kurmanci. Ich habe gesagt, dass ich Zazaki spreche. Der Dolmetscher konnte auch Zazaki, auch Türkisch.

GEGENWIND: Hast Du es hier in Kiel schon erlebt, dass Du wegen Deiner Sprache angegriffen wurdest?

TÜLAY SENDUR: Ja, klar. Ich hatte immer mal wieder Probleme mit Türken. Auch im Sprachkurs gab es Türken, die mich angriffen, weil ich Kurdisch spreche. "Die Türkei ist für Dich ein schlechtes Land", sagte man mir. Ich habe geantwortet: "Nein, für Dich ist die Türkei ein schlechtes Land. Wie kannst Du so etwas sagen? Ich spreche für Kurden, für ihre Rechte. Und Du kannst hier auch etwas für die Rechte von Türken tun." Aber zwischen Türken, die nationalistisch sind, und Kurden gibt es auch hier in Kiel immer Schwierigkeiten, wir können uns einfach nicht verstehen.

GEGENWIND: Welche Veränderungen gab es in der Türkei von 1990 bis 2006?

TÜLAY SENDUR: Die wollen in die EU. Deswegen gab es einige Veränderungen. An dem türkischen Nationalismus und der Haltung gegenüber Minderheiten hat sich nicht all so viel geändert, äußerlich hat sich das türkische System einen demokratischen Mantel umgehängt. Aber die innere Einstellung hat sich nicht sehr geändert.

GEGENWIND: Hast Du an Demonstrationen teilgenommen?

GEGENWIND: War das gefährlich für Dich?

TÜLAY SENDUR: Ja, auch ich wurde von der Polizei festgenommen. Das war am 8. März, an dem Weltfrauentag. Ich war auch dabei, und die Polizei meinte, es wäre eine kurdische Demonstration. Das war nicht so, aber es gab eben kurdische Frauen mit ihren bunten Tüchern, die haben auch auf Kurdisch gesungen. Wir waren dann über hundert Frauen in einer einzigen Zelle im Gefängnis. Sie haben uns vorher mit Gas beschossen und dann festgenommen, viele waren verletzt, aber nach einem Tag haben sie mich wieder freigelassen. Und einmal beim Newroz, dem Neujahrsfest, bin ich in Istanbul festgenommen wurden. Da war mehr Polizei als Leute von uns, eine große Demonstration, aber Polizei war noch mehr da. Eigentlich ist nichts passiert, aber plötzlich hat die Polizei zwei junge Männer festgenommen. Sie hatten wohl nur laut etwas auf Kurdisch gesagt, deshalb wurden sie festgenommen. Und dann kam es plötzlich zu einem großen Durcheinander, es war auch gefährlich wegen der Panzer, die dort fuhren. Ich hatte damals keine Angst, war mit meinem großen Bruder zusammen. Und dann habe ich einmal Flugblätter für die kurdische Partei HADEP verteilt. Da hat mich die Polizei wieder festgenommen. Das war Polizei in zivil, so junge Männer. Die haben viel mit mir diskutiert, aber ich wurde in ihrem Haus in den Keller gebracht. Ich wusste damals nicht, was sie machen können. Einer schrie mich an und hat sich lange mit mir gestritten. Er sagte, alle politischen Bewegungen sind schlecht, egal ob faschistisch oder religiös oder links oder kurdisch, alle sind schlecht. Er sagte, Du bist eine junge hübsche Frau, Du solltest in die Disco gehen oder was anderes machen, aber ich sollte aufhören was Politisches zu machen. Ich habe gesagt, es ist eine legale Partei. Wenn sie illegal ist, ist das eine Aufgabe für die Polizei. Sie sagten sofort, wenn Du noch länger so redest, gehen wir wieder in den Keller. Ich habe dann versprochen, nichts mehr zu machen.

GEGENWIND: Hast Du Dir hier mal dänische Schulen oder Kindergärten angesehen?

TÜLAY SENDUR: Nein, ich habe nur davon gehört. Ich glaube, die Minderheit hat hier viele Rechte, aber ich weiß es nicht genau. Klar ist es hier besser, tausendmal besser als in der Türkei.

GEGENWIND: Entwickelt sich die Türkei in die richtige Richtung? Oder ist das nur vorgetäuscht?

TÜLAY SENDUR: Sie gehen in die richtige Richtung. Aber sie haben keinen anderen Ausweg, sie tun sich sehr schwer, denn den türkischen Herrenmenschen zu überwinden fällt ihnen sehr schwer und deshalb dauert das so lange.

GEGENWIND: Ist eine religiöse Partei an der Regierung für Kurden besser als eine nationalistische Partei?

TÜLAY SENDUR: Die AK Partei, die jetzt regiert, ist auch von vielen Kurden gewählt worden. Die finden die religiöse Partei liberaler als die traditionellen Parteien, den sie gibt sich nicht türkischnational sondern islamisch aus. Eine religiöse Partei kann wohl liberaler sein. Aber die haben auch viel Angst und können deshalb wenig machen, aber mehr als eine nationalistische Partei.

GEGENWIND: Kennst Du andere Minderheiten in der Türkei?

TÜLAY SENDUR: Ja, es gibt viele Minderheiten. Aber gerade den Armeniern ist ein großes Unrecht passiert, ja ein Genozid. Ein ganzes Volk wurde ausgerottet. Auch die Assyrer haben eine große Unterdrückung hinnehmen müssen und wurden vertrieben. So auch die sogenannten Griechen, und es gab in der Türkei auch Christen, aber die gibt es jetzt kaum noch.

GEGENWIND: Haben die es leichter oder schwerer als die Kurden?

TÜLAY SENDUR: Sie haben es schwerer als die Kurden. Sie sind ganz wenige und haben sehr viel Angst. Kurden gibt es zu Millionen, fast 20 Millionen, sie sind selbstbewusster, sie wissen was sie wollen. Die Kurden sind stärker als alle anderen Minderheiten, und die Christen haben in den letzten 80 Jahren in der Türkei ein Trauma durchlebt. Sie wissen, wenn sie etwas machen, müssen sie einen hohen Preis dafür zahlen. Deshalb haben sie Angst. Sie ziehen sich an wie Muslime, natürlich sind sie keine Muslime, sie haben viel mehr Angst als Kurden.

GEGENWIND: Hast Du hier in Deutschland die Diskussion über Türkisch in der Schule verfolgt?

TÜLAY SENDUR: Ja, habe ich. Ich habe die Rede von Erdogan verfolgt, damals im Stadion. Er sagte, Assimilation wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er forderte türkische Schulen hier in Deutschland. Hallo? Wie kann er das fordern? In Deinem Land machst Du diese Assimilation seit fast hunderten von Jahren, mehr als 20 Millionen Kurden haben eine andere Sprache und haben keine einzige Schule, es ist eine verbotene Sprache. Und hier in Deutschland forderst Du Schulen für Deine türkische Sprache? Das passt nicht zusammen. Die islamisch-türkischen Missionare haben viele Schulen auf dem Balkan aufgebaut, türkische Schulen in Mazedonien, Bosnien.

Ich bin nicht dagegen, man sollte immer etwas für die eigene Muttersprache machen. Aber die Regierung der Türkei muss zuerst im eigenen Land etwas ändern. Die demokratischen Rechte nur für sich zu nutzen und den anderen alles vorenthalten ist heuchlerisch. Hier reden und im eigenen Land das Gegenteil machen, das geht nicht. Bei dieser Forderung fragt man Dich, was mit den Minderheiten bei Dir ist, eröffne zuerst in Deinem Land eine kurdische Schule. Oder eine armenische Schule. Ich bin nicht dagegen, aber dass Erdogan muttersprachlichen Unterricht für die Türken hier fordert, aber in der Türkei Kurden mit der selben Forderung im Gefängnis landen, sagt doch alles.


*


Quelle:
Gegenwind Nr. 269 - Februar 2011, Seite 51-53
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info

Der "Gegenwind" erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2011